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WIRTSCHAFT/102: Wirtschaftsregierung in der EU (spw)


spw - Ausgabe 5/2010 - Heft 180
Zeitschrift für Sozialistische Politik und Wirtschaft

Wirtschaftsregierung in der EU

Von Bernd Lange


Nachdem der Begriff "Wirtschaftsregierung" (WR) jahrelang in der EU aus der wirtschaftspolitischen Diskussion verbannt wurde, macht er nun in den letzten Monaten nach Finanz- und Wirtschaftskrise und Griechenlandturbulenzen Schlagzeilen. Insbesondere der französische Präsident Sarkozy plädiert für ein "Gouvernement Économique". Allerdings ist unklar, wie der Begriff "Wirtschaftsregierung" genau definiert wird. Es gibt tatsächlich in der weit entwickelten europäischen Governance-Struktur trotz globalisierter Ökonomie, EU-Binnenmarkt und Währungsunion (EWU), mit starken Interdependenzen im Bereich der Wirtschafts- und Haushaltspolitik, keine hinreichenden Instrumente. Zudem drängt sich angesichts zunehmender ungleicher Verteilung des erwirtschafteten Reichtums, global tätiger Unternehmen und unkontrollierter, riskanter Transaktionen die Frage auf, ob mit einer neuen europäischen Wirtschafts- und Haushaltspolitik nicht auch eine grundlegende Demokratisierung einhergehen muss. So erfreulich die Diskussion über eine WR erscheint, der Rahmen dafür ist nüchtern zu betrachten.


Politische Mehrheiten in den Blick nehmen

Die EU ist kein anonymes Wesen, sondern die Politik ist Ausdruck der politischen Mehrheitsverhältnisse. Wir finden heute im Europäischen Parlament nur 25% sozialdemokratische Abgeordnete, im Europäischen Rat (ER) nur vier sozialdemokratische Regierungen von 27 (Portugal, Spanien, Griechenland und Slowenien), sowie eine große Koalition mit sozialdemokratischem Regierungschef in Österreich. Die EU-Kommission ist mit 12 konservativen KommissarInnen (incl. Präsident), neun liberalen und sechs sozialdemokratischen besetzt. Insofern ist die nach wie vor bestehende Verzagtheit gegenüber einer aktiven, progressiven Wirtschaftspolitik in der EU nicht abstrakt den institutionellen Zwängen zuzuschreiben, sondern zuvorderst den politischen Mehrheitsverhältnissen und deren neoliberalen politisch-ideologischen Positionen.


Vertrag von Lissabon

EU-Politik vollzieht sich unter den Rahmenbedingungen des Lissabonvertrages vom 01.12.2009. Dieser gibt dem Europäischen Parlament (EP) eine ganze Reihe von neuen Gestaltungsmöglichkeiten, z.B. ist das EP in fast allen Bereichen Gesetzgeber, neue relevante Politikbereiche fallen in die Kompetenz des EP und es hat das volle Haushaltsrecht. Allerdings gibt es weiter Lücken im Bereich der sozialen Dimension und im Bereich der Wirtschafts- und Steuerpolitik. Der Vertrag an sich gibt eine nicht hinreichende Governance-Struktur vor mit der EWU, dem Statut der EZB, einem Mechanismus für die Überwachung der Haushaltspolitik, den wirtschafts- und beschäftigungspolitischen Leitlinien und dem aqui communitaire mit den Wettbewerbsregeln. Der ER entscheidet neu seit dem Lissabon-Vertrag bei der Bewertung der mitgliedstaatlichen Wirtschaftspolitik vor dem Hintergrund der 'Wirtschaftspolitischen Leitlinien' mit qualifizierter Mehrheit. Erstmalig bekommt die bisher informell agierende Eurogruppe eine primärrechtliche Rolle mit Verfahrensregeln. Die Kommission wird offiziell mit der Vorbereitung der Sitzungen beauftragt und hat auch hier eine gestaltende Aufgabe (Protokoll 14). Für die Euro-Staaten besteht die Möglichkeit, mit qualifizierter Mehrheit zu entscheiden, die Koordination und Überwachung der Haushaltsdisziplin zu verstärken und für die Eurogruppe spezielle Grundzüge der Wirtschaftspolitik auszuarbeiten, die mit den für die gesamte Union angenommenen wirtschaftspolitischen Leitlinien vereinbar sein müssten.

Auf absehbare Zeit wird man von keiner weiteren Vertragsrevision ausgehen können. Eine Einstimmigkeit in den 27 Staaten für sozialen Fortschritt bei einem neuen Anlauf ist nicht zu sehen, eher im Gegenteil. Insofern ist angesichts der politischen Situation eine Orientierung auf eine Vertragsreform nicht erfolgversprechend.


Strategische Ansätze

Die EU muss zweifelsohne eine alternative wirtschaftspolitische Politik verfolgen, um die Krise zu überwinden und zukunftsfit zu sein - nötig ist eine klare, gemeinsame europäische Strategie. Hier kann das Konzept EU 2020 insgesamt nicht überzeugen, ist aber ein kleiner Schritt in die richtige Richtung. Richtig ist z.B. dass einige wenige konkrete Ziele genannt werden:

• Beschäftigungsquote von 75%
• 3% BiP für Forschung und Entwicklung
• 20% weniger Treibhausgase
• 20% Energieverbrauch aus Erneuerbaren Energien
• 20% Steigerung der Energieeffizienz
• Schulabbrecherquote unter 10%
• 40% mit Hochschulabschluss
• 20 Mio. Menschen weniger in Armut.

Ergänzend dazu tritt eine haushaltspolitische Koordinierung mit gemeinsamen und nachhaltigen Investitionen. Diese politischen Zielsetzungen sind, aber nicht ohne weiteres, operationalisierbar. So ist z.B. der Begriff der Beschäftigung mehrdeutig, denn wir brauchen keine prekären Beschäftigungsverhältnisse, sondern gute Arbeit für alle. Im Bildungsbereich besitzt die EU keine Zuständigkeit und ist auf das Handeln der Mitgliedstaaten angewiesen. Zentral für die EU 2020-Strategie ist, dass es eine stärkere Koordinierung, eine WR und eine Abstimmung mit den Politiken der Mitgliedstaaten gibt. Selbst die EU-Kommission kam nicht umhin, in den ersten Überlegungen zur EU 2020-Strategie eine stärkere und verbindlichere wirtschaftspolitische Steuerung mit Kompetenzen der Kommission anzudenken. Offenbar hat Kanzlerin Merkel sofort interveniert und diesen Ansatz zusammen mit anderen zerstört.


Wirtschaftsregierung für die EU

A) Warum wir eine Wirtschaftsregierung brauchen

Mit der EWU ist klar, dass nationalstaatliche Handlungsmöglichkeiten begrenzt sind, Wechselkursanpassungen aufgrund der Verschiebung der Wettbewerbssituation oder Zinspolitik zur Stimulierung von Investitionen nicht mehr möglich sind. Ein großer Währungsraum mit alleiniger Regulierung der Staatsdefizite entfaltet ganz logisch Marktmechanismen in den anderen Bereichen. Diese Tatsache wurde von neoliberalen Wettbewerbsapologeten - auch aus Deutschland - begrüßt, da dadurch ein Druck auf die die Wettbewerbssituation beeinflussenden Faktoren ausgeübt wird und "dies wichtige Parameter im Wettbewerb der Standorte" seien. Der Druck auf Löhne, auf soziale Standards und Sozialsysteme mit einem Wettbewerb nach unten und das Auseinanderdriften der Staaten waren die logischen Folgen. Durch die Krise wurde nun überdeutlich, dass die makroökonomischen Divergenzen innerhalb der EU unhaltbar sind und Defizitgrenzen nicht helfen, Spekulationsfolgen, Immobilienblasen und sich extrem auseinanderentwickelnde Lohnstückkosten anzugehen und die Leistungsbilanzen auszugleichen. Besonders heikel wird es, wenn ein Mitgliedstaat die Binnennachfrage zu stark bremst.

Als die Finanzkrise realwirtschaftliche Folgen zeigte, gab es monatelang Diskussionen über die Notwendigkeit und Möglichkeiten von Konjunkturpaketen, letztendlich gab es eine fragile Abstimmung und eine höchst unterschiedliche Praxis in den Mitgliedstaaten. Ähnlich war es im Fall Griechenland. Das Prinzip, dass bei Schwierigkeiten aufgrund hoher Staatsverschuldungen die No-Bail-Out-Regel greift, nach der weder die EU noch die anderen Mitgliedstaaten für die Schulden eines Mitgliedstaates haften, wurde absurderweise hochgehalten. Problemlos wurde jedoch Nicht-Euro-Staaten eine Nothilfe gewährt. Das Zögern der Kanzlerin im Fall Griechenland nährte wochenlang Zweifel, ob Griechenland geholfen wird. Sie lud Spekulanten förmlich ein, weiter gegen Griechenland zu wetten. Erst dann gewannen Risikoaufschläge und Euro-Absturz an Fahrt. Eine Destabilisierung des Bankensektors hätte jedoch massive Spill-over-Effekte in die Eurozone. Insofern war die Einrichtung der Europäischen Finanzstabilisierungsfazilität (EFSF) mehr als überfällig. Hier ist es wiederum absurd, dass es einem Staat möglich ist, sich auszuklinken. Es ist also naiv und fahrlässig, weiterhin neoliberale Grundsatzpositionen zu festigen und auf Marktregelungen in der EU zu hoffen.

B) Wie muss eine erweiterte Wirtschaftsregierung aussehen?

Mit der EWU bestand die Notwendigkeit einer wirtschaftspolitischen Koordinierung, da Vertrag und der Stabilitäts- und Wachstumspakt (SWP) mit nomineller Überwachung der nationalen Haushalte nicht hinreichend für eine gemeinsame wirtschaftliche Entwicklung sind.

Mit dem Erstarken der Sozialdemokratie, die im Herbst 1998 mit dem Wahlsieg in Deutschland in der EU eindeutig politisch führend war, wurde die Diskussion um eine europäische Wirtschaftspolitik konkreter. Beim informellen Europäischen Gipfel im Herbst 1998 in Österreich wurde erstmals die Idee einer Europäischen Wirtschaftspolitik und der Schaffung eines institutionellen Rahmens für eine solche Politik entwickelt und diskutiert. Mit dem europäischen makroökonomischen Dialog (EMD) für den Euroraum unter Einbeziehung der EZB und der Sozialpartner auf dem ER in Köln 1999 wurde ein erster Schritt getan. Die makroökonomischen Entwicklungen und Perspektiven sollten analysiert und ein wachstums- und beschäftigungsfördernder Policy-Mix bei Wahrung der Preisstabilität erreicht werden. Der EMD hätte als Ausgangspunkt für ein verbindliches Instrument weiterentwickelt werden können, das durch das Europäische Parlament demokratisch kontrolliert wird. Diese Ansätze wurden aber nicht weiterentwickelt und waren schnell gefangen im Geflecht von dominant werdenden gegenläufigen wirtschaftspolitischen Auffassungen, den Anforderungen des SWP, und einer absolut gesetzten Unabhängigkeit der EZB. Das Ergebnis von nun mehr als zehn Jahren EMD für eine koordinierte Wirtschaftspolitik auf europäischer Ebene ist marginal.

Zwischenzeitlich hat es eine ganze Reihe von theoretischen Ansätzen für eine WR gegeben, die nicht den Weg in politisches Handeln fanden, da diese jeweils einer umfassenden Vertragsreform bedurft hätten. So gab es u.a. Entwürfe einer Europäischen Republik mit vergemeinschafteter WR, einer quasi automatischen Steuerung der Leistungsbilanzen, einer Herausbildung der Eurogruppe als Exekutivorgan der WR oder eines großen supernationalen Haushaltes bzw. supernationaler Haushaltskompetenzen mit antizyklischer Politik.

Um nun ein handhabbares Instrumentarium und Mechanismen für die Koordinierung der Wirtschaftspolitik zu schaffen, schlägt die Fraktion der Sozialisten und Demokraten im Europäischen Parlament vor, den geltenden SWP um einen neuen "Wachstums- und Beschäftigungspakt" zu ergänzen, der gleichfalls in Form eines Rechtsakts gemäß Artikel 121 abgefasst werden sollte und durch Verordnungen im Mitentscheidungsverfahren umzusetzen ist. Damit würde die Kommission eine, der demokratischen Kontrolle des Europäischen Parlaments unterliegende, neue Funktion als Akteur einer WR erhalten, in der sie eine abgestimmte wirtschaftspolitische Strategie entwerfen und die wirtschaftspolitische Steuerung weit über ihre derzeitige Funktion der Haushaltsüberwachung hinaus erweitern könnte. Um diese neue Governance-Struktur politisch zu gestalten, sollte der neue Pakt klare wirtschaftliche Ziele, insbesondere zu den Themen Beschäftigung und Investitionen, enthalten. Vor allem könnten zusätzlich zu den geltenden Defizitzielen beschäftigungs- und nachhaltigkeitsorientierte Ziele, z.B. für die Arbeitslosenrate oder Beschäftigungsquote in den neuen Pakt aufgenommen werden. In diesem neuen Rahmen würden aufgrund der Vorarbeit der Kommission die Mitgliedstaaten jährliche integrierte "Stabilitäts-, Wachstums- und Beschäftigungsprogramme" erarbeiten. So würde eine koordinierte und intelligente nachfrageorientierte makroökonomische Politik mit deutlichen öffentlichen Investitionen möglich. Beggar-my-neighbour-Politiken, Steuerwettbewerb nach unten und makroökonomische Ungleichgewichte könnten beseitigt werden.

Zweifelsohne ist eine langfristige Haushaltskonsolidierung nötig. Es ist jedoch kontraproduktiv, mit der Brechstange die Rückkehr zum SWP erzwingen zu wollen. Die unterschiedlichen Bedingungen der Mitgliedstaaten müssen berücksichtigt werden und es bedarf qualitativer Kriterien für die wirtschaftlich sinnvolle und sozial gerechte Konsolidierung. Schließlich muss die EU, ausgehend von dem jüngst geschaffenen EFSF, ein dauerhaftes und wirksames Instrument zur Bekämpfung übermäßiger Verschuldungslagen für Euro- und Nicht-Euro-Staaten schaffen.

Zur Begleitung der notwendigen Haushaltskonsolidierung sollte parallel ein europaweites Einnahmenpaket angepackt werden mit Steuerkoordinierung (u.a. eine einheitliche Körperschaftsteuer-Bemessungsgrundlage), europäischer Finanztransaktionssteuer, gemeinsamer und effizienter europäischer Strategie gegen Steuerhinterziehung mit jährlichen nationalen Zielvorgaben, EU-weiter C02-Steuer und die Förderung gerechter Einkommenssteuersysteme. Dieser Ansatz muss gewährleisten, dass die Haushaltskonsolidierung sozial gerecht ist.

C) Was wird aktuell diskutiert?

Nach dem Beginn der Finanz- und Wirtschaftskrise und während der Währungsturbulenzen um Griechenland schien es, dass mit den Schlussfolgerungen des Rates im März 2010 das neoliberale Weltbild leichte Risse bekommen hat und dass "die allgemeine politische Koordination verstärkt" werden muss.

Der permanente Präsident des ERs, Herman Van Rompuy, richtete dazu eine ad-hoc Task Force ein, in der u.a. die Ideen einer gemeinsamen WR erarbeitet werden sollen. Sie besteht aus den Finanzministern der 27 EU-Staaten, dem Kommissar für Wirtschaft und Währung sowie den Präsidenten der EZB und der Eurogruppe. Die Task Force soll im Oktober Vorschläge unterbreiten, auf die man sich schnell und ohne Änderung der Europäischen Verträge einigen kann, also eine effektivere Koordinierung der Haushaltspolitik, eine makroökonomische Überwachung und Vorschläge für künftige Krisenmechanismen für EU und Eurozone. Doch sehr schnell hat sich die Diskussion auf wenige Bereiche verengt:

• Vereinbart ist bereits das sog. Europäische Semester. Dies wird mit einem "Annual Growth Survey" mit wirtschaftspolitischen Prioritäten, von der Kommission vorbereitet, starten. Der Bericht würde vom ER im Frühjahr diskutiert werden. In diesem Gipfel entscheidet der ER über die strategischen Leitlinien der EU und die Eurozone und es werden Empfehlungen für die Haushaltspolitik (Stabilitäts- und Konvergenzprogramme) und Wirtschaftspolitik (Nationale Reformprogramme) abgeleitet. Diese Positionierung soll dann in Stabilitätsprogramme (EWU-Länder) und Konvergenzprogramme (Nicht-Euroländer) einbezogen werden, die jeweils im April vorgelegt werden. Diese sollen auch eine haushaltspolitische Vorschau auf das Folgejahr enthalten, was Veränderungen der Haushaltsprozesse in den Mitgliedstaaten mit sich bringt. Die Kommission wird diese dann prüfen und ggf. Empfehlungen für den ER im Juli erarbeiten, der dann länderspezifische Empfehlungen zur Wirtschafts- und Haushaltspolitik beschließt. Die Kommission bewertet dann im Folgejahr die Umsetzung dieser Empfehlungen.

• Die mittelfristigen Haushaltsziele des sogenannten präventiven Arms des SWP sollen durch deutlichere Eingriffe in die nationalen Haushaltspolitiken mit Fokus auf den Schuldenstand etwa über Sanktionen und einer mittelfristigen Haushaltsplanung der EU-Mitgliedstaaten verstärkt werden. Die Task Force wird prüfen, ob verzinsliche Einlagen eine Möglichkeit sein werden, Regierungen zu sanktionieren, die die mittelfristigen Haushaltsziele nicht einhalten. Als eine weitere Sanktionsmöglichkeit wird die künftige Konditionierung von Mitteln aus Agrar-, Struktur- und Kohäsionsfonds diskutiert. Ein früherer französisch-deutscher Vorschlag, die Stimmrechte dieser Länder zeitweilig, mittels einer politischen Absprache ohne Vertragsänderung, zu suspendieren, fand bei den anderen Mitgliedsstaaten keine Zustimmung. Der französische Präsident schlug vor, strengere Sanktionen für Eurozonenmitglieder als für nicht Euro-Staaten zu verhängen. Die EZB möchte eine unabhängige Fiskalagentur zur dauerhaften Kontrolle einsetzen. Es gibt durchaus Vorstellungen, die Mitgliedstaaten könnten durch Verfassungsänderungen die mittelfristigen Haushaltsziele des SWP in ihrer nationalen Haushaltsgesetzgebung verankern.

• Für den sogenannten korrektiven Arm des SWP wird eine Beschleunigung des Defizitverfahrens diskutiert. Darüber hinaus gibt es Diskussionen, mit einer Vertragsänderung Sanktionen automatisch beim Übertreten der Defizitschwelle mit Umkehr der Beweislast auszulösen. Dann könnten Vorschläge der Kommission vom Rat mit nur qualifizierter Mehrheit abgelehnt werden - zurzeit müssen sie vom Rat beschlossen werden.

• Der informelle Austausch über die Wirtschaftspolitik soll intensiviert werden und so gab es am 13. Juni in der Euro-Gruppe eine Premiere. Die Euro-Gruppe hat die Diskussion über die makroökonomischen Ungleichgewichte begonnen und erstmals wurde die Wettbewerbsfähigkeit einzelner Länder diskutiert. Dabei gab Deutschland einen Bericht über die Lage Spaniens ab und im Oktober soll Frankreich über die deutsche Wettbewerbsfähigkeit berichten.

• Zuletzt wird ein Krisenmechanismus für Staaten in Not vorgeschlagen. Einig sind sich alle Beteiligten, dass dieser Krisenmechanismus nur unter hoher Konditionalität aktiviert werden kann. Während die Kommission in ihrem Vorschlag einen Schwerpunkt auf die Lösungen und Auflagen setzt, listet die EZB eher Sanktionen auf. Hier könnte noch größeres Konfliktpotenzial liegen. Dies ist derzeit jedoch noch unproblematisch, denn die derzeitige EFSF benötigt erst 2013 einen Nachfolger.


Wirtschaftsregierung für 17 oder 27?

Während die französische Position auf eine WR nur auf die Euro-Staaten abzielte, verfing diese Haltung bei vielen Mitgliedstaaten zu Recht nicht, denn man kann keine "Euro-Mauer" einziehen, die spaltet und die Nichteuroländern wirtschaftspolitisch abhängt. Für Großbritannien ist im Gegensatz aber eine eigenständige wirtschaftliche Entwicklung zentral, will die wirtschaftliche Souveränität nicht eingeschränkt wissen und möchte, dass "die Eurozone ihre Probleme selbst löst". In der Umsetzung der angedachten Maßnahmen wird es eine Rolle spielen, in wie weit Euro- und Nichteuroländer einbezogen werden, da eine gemeinsame Politik nötig ist, aber z. B. Sanktionspotenzial und Konditionalität bei Nichteuroländern einen geringen Stellwert haben dürften.


Wirtschaftsregierung ohne demokratische Kontrolle?

Im ER ist die grundsätzliche Haltung vorhanden, dass ausschließlich der ER wirtschaftspolitische Zuständigkeit hat. Sarkozy machte dies stellvertretend deutlich. "Es tut mir leid, es ist nicht Herr Barroso, der für die Wettbewerbsfähigkeit der verschiedenen Mitgliedsstaaten der Europäischen Gemeinschaft zuständig ist. Es ist nicht die Kommission, die statt Mitgliedsstaaten Entscheidungen zur Wirtschaftspolitik treffen kann, die jeder von uns treffen muss". Sarkozy betonte, dass wirtschaftliche Entscheidungen in der EU "nicht föderal" seien und dass die Praxis weiterhin "einstimmige Entscheidungsfindung" unter Regierungs- und Staatschefs sei. Eine parlamentarische Kontrolle durch das EP kommt ihm erst gar nicht in den Sinn. Auch in der Vereinbarung zum Europäischen Semester zeigen sich diese fehlenden demokratischen Kontrollen sofort, da hier die Einbindung der nationalen Parlamente und deren Haushaltsrecht angegriffen wird.


Fazit

Die jüngsten Diskussionen einer WR gehen weg von einer notwendigen Koordinierung der Wirtschafts- und Haushaltspolitik hin zu einer bedingungslosen Austeritätspolitik. Eine Überbetonung der Haushaltskonsolidierung in den Programmen der Mitgliedstaaten läuft einer nachfragstimulierenden Konjunkturpolitik zuwider. Die Koordinations- und Überwachungsinstrumente, die Stabilitäts- und Konvergenzprogramme und die Grundzüge der Wirtschaftspolitik, sowie die Wettbewerbspolitik werden nicht mit einem Wachstums- und Beschäftigungspakt zusammengeführt. Die EU 2020-Strategie bleibt zusammenhangslos daneben stehen. Stetes Drängen nach Strafe und Sanktionen ist Gift für eine Weiterentwicklung der tschaftspolitischen Koordinierung, da es spaltet. Finanzielle Sanktionen können die wirtschaftlichen Probleme noch verstärken. Die Einnahmeseite ist völlig verschwunden, kaum noch Worte zur Steuerharmonisierung, zu neuen Steuerquellen oder zur Finanztransaktionssteuer. Völlig inakzeptabel ist die Haltung des Rates, die Wirtschaftsregierung als rein zwischenstaatliches Projekt zu sehen und damit die Kommission als Motor der gemeinschaftlichen Entwicklung und die parlamentarische Kontrolle durch das EP auszuschließen. Wenn hinter verschlossenen Türen Verabredungen entstehen sollen, wird das neue Kräfteverhältnis des Lissabon-Vertrages ignoriert. So verwundert es nicht, das keine weiteren Ansätze der Demokratisierung auf dem Tisch liegen. Dazu würde z.B. klares Partnerschaftsprinzip mit der Einbeziehung der Sozialpartner in allen Bereichen gehören und eine laufende gemeinsame Antizipierung und Bewertung zu erwartender Entwicklungen und damit eine Überprüfung der Strategien / Maßnahmen / Programme zur Beschäftigungssicherung. Auch Vorschläge zur Erweiterung der Mitbestimmung von Europäischen Betriebsräten und von ArbeitnehmervertreterInnen in Aufsichtsgremien oder für die Möglichkeit grenzüberschreitender Tarifverträge wären nötig. Insofern sind bei dem ER Ende Oktober diesen Jahres mit alleiniger Annahme der Ergänzungen zum Stabilitäts- und Wachstumspakt, der dann bis zum Sommer 2011 umgesetzt werden soll, kaum noch positive Signale für eine wirkliche Wirtschaftsregierung zu erwarten. Darüber hinaus wird von Rat und Kommission zurzeit kein Signal zu einer Demokratisierung der Wirtschaftspolitik ausgehen.


Bernd Lange (SPD) ist Mitglied des europäischen Parlaments.


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Quelle:
spw - Zeitschrift für sozialistische Politik und Wirtschaft
Ausgabe 5/2010, Heft 180, Seite 40-46
mit freundlicher Genehmigung der HerausgeberInnen
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veröffentlicht im Schattenblick zum 16. Dezember 2010