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MELDUNG/117: Das Abfangen auf See von Migranten und deren Rückführung nach Libyen sind ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit (ECCHR)


European Center for Constitutional and Human Rights e.V. (ECCHR)
Pressemitteilung vom 30. November 2022

Das Abfangen auf See von Geflüchteten und Migranten und deren Rückführung nach Libyen sind ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit

Den Haag muss die Verantwortung hochrangiger EU-Entscheidungsträger untersuchen


BERLIN, 30. NOVEMBER 2022 - Das European Center for Constitutional and Human Rights (ECCHR) hat heute mit Unterstützung von Sea-Watch eine Strafanzeige beim Internationalen Strafgerichtshof (IStGH) eingereicht. Gegenstand der Strafanzeige sind Verbrechen gegen die Menschlichkeit an Migranten und Geflüchteten, die systematisch auf See abgefangen werden, um nach Libyen zurückgebracht und dort inhaftiert zu werden. Die Organisationen fordern den IStGH auf, die individuelle strafrechtliche Verantwortung hochrangiger Entscheidungsträger von EU-Mitgliedstaaten und EU-Agenturen im Zusammenhang mit zwölf Fällen von schwerer Freiheitsberaubung zu prüfen, die mit Abfangaktionen auf See zwischen 2018 und 2021 begannen. Zu den mutmaßlichen Mittätern gehören unter anderem die ehemaligen italienischen Innenminister Matteo Salvini und Marco Minniti, der amtierende und der ehemalige maltesische Premierminister Robert Abela und Joseph Muscat, die ehemalige Hohe Vertreterin der Europäischen Union für Außen- und Sicherheitspolitik, Federica Mogherini, der ehemalige Exekutivdirektor von Frontex, Fabrice Leggeri, sowie Mitglieder der italienischen und maltesischen Rettungskoordinierungszentren und Beamten der EUNAV FOR MED und des Europäischen Auswärtigen Dienstes (EAD).

Seit 2016 haben die EU-Mitgliedstaaten und EU-Agenturen den Aufbau von Kapazitäten und die operative Unterstützung der sogenannten libyschen Küstenwache durch die Bereitstellung von Finanzmitteln, Patrouillenbooten, Ausrüstung und Schulungen sowie durch die direkte Beteiligung an bestimmten Abfangaktionen, z. B. durch die Weitergabe von Informationen über den Standort von Booten in Seenot, verstärkt. Diese Art der Unterstützung und Zusammenarbeit verdeutlicht die entscheidende Rolle, die hochrangige EU-Entscheidungsträger bei der Freiheitsberaubung von Migranten und Geflüchteten spielen, die versuchen, aus Libyen zu fliehen. Die Strafanzeige stützt sich auf Beweismaterialien, die Sea-Watch und andere Seenotrettungs- und zivilgesellschaftliche Organisationen sowie Investigativjournalisten gesammelt haben. Analysiert wurden zwölf Fälle von schwerer Freiheitsberaubung auf See, mit einem Fokus auf die individuelle Verantwortung hochrangiger Täter.

Das Abfangen von Booten und die anschließende Rückführung von Migranten und Geflüchteten nach Libyen sind keine Such- und Rettungsaktionen, die Leben retten. Stattdessen argumentiert ECCHR in der Strafanzeige, dass diese Operationen Verbrechen gegen die Menschlichkeit in Form von schwerer Freiheitsberaubung darstellen, da sie Teil eines weit verbreiteten Systems der Ausbeutung sind, das sich gegen diese vulnerablen Gruppen richtet. Der IStGH muss daher die Zusammenarbeit zwischen europäischen und libyschen Akteuren untersuchen und die Verantwortlichen vor Gericht stellen.

Die systematische Ausbeutung und der Missbrauch von Migranten und Geflüchteten sind in Libyen seit mindestens 2011 allgegenwärtig und umfassen willkürliche Inhaftierungen, Folter, Mord, Verfolgung, sexuelle Gewalt und Versklavung. Diese Misshandlungen können Verbrechen gegen die Menschlichkeit darstellen, wie das ECCHR gemeinsam mit FIDH und LFJL in einer weiteren Strafanzeige an den IStGH im Jahr 2021 [1] dargelegt hat. Trotz des Wissens um diese schweren Verbrechen haben Entscheidungsträger von EU-Agenturen sowie von Italien und Malta ihre Zusammenarbeit mit Libyen verstärkt, um Migranten und Geflüchtete daran zu hindern, über das Mittelmeer aus Libyen zu fliehen.

"Das derzeitige System der EU-Unterstützung für die Operationen der sogenannten libyschen Küstenwache entlang der zentralen Mittelmeerroute rettet niemandem das Leben. Die in der Strafanzeige vorgelegten Beweise deuten darauf hin, dass diese schweren Freiheitsberaubungen Verbrechen gegen die Menschlichkeit darstellen können", sagt Andreas Schüller, Programmdirektor für Völkerstraftaten und rechtliche Verantwortung beim ECCHR. "Die unmenschliche Behandlung von Migranten und Geflüchteten und deren unwürdige Haftbedingungen in Libyen sind seit vielen Jahren bekannt. Das Land ist kein sicherer Ort für Migranten und Geflüchtete. Nach internationalem Seerecht müssen Menschen, die auf See gerettet werden, an einem sicheren Ort an Land gebracht werden. Niemand sollte nach Libyen zurückgeschickt werden, nachdem er oder sie auf See abgefangen oder gerettet wurde."

ECCHR und Sea-Watch fordern:

• Eine gründliche Untersuchung des IStGH der mutmaßlichen Verbrechen gegen die Menschlichkeit, die an Migranten und Geflüchteten auf See und anschließend in Libyen begangen wurden, einschließlich der Verbrechen, die von hochrangigen Entscheidungsträgern der EU-Mitgliedstaaten und EU-Agenturen begangen wurden;

bull; Eine sofortige Beendigung jeglicher Politik, Finanzierung oder Programme der EU und ihrer Mitgliedstaaten, die darauf abzielen, die europäischen Grenzen zu externalisieren, indem Migranten in Libyen gefangen gehalten werden;

• Eine zivile, nicht-militärische, staatlich finanzierte und koordinierte, flächendeckende europäische SAR-Operation, die im Einklang mit dem Seerecht und den Menschenrechten im gesamten Mittelmeerraum funktioniert und der Pflicht nachkommt, den Menschen Hilfe zu leisten und sie an einem sicheren Ort an Land zu bringen.

Im November 2021 reichte das ECCHR mit Unterstützung seiner Partner FIDH und LFJL eine Strafanzeige beim IStGH ein. Diese forderte die Einleitung einer Untersuchung über die Verantwortung bewaffneter Gruppen, Milizen und staatlicher libyscher Akteure an Verbrechen gegen die Menschlichkeit gegen Migranten und Geflüchtete in Libyen. Der IStGH untersucht seit 11 Jahren die Situation in Libyen, hat aber bisher noch kein Verfahren wegen Verbrechen speziell gegen Migranten und Geflüchtete eingeleitet. Im Anschluss an die Strafanzeige von 2021 haben sich der IStGH und Staatsanwaltschaften aus vier Ländern zusammengetan, und vor kurzem wurden zwei eritreische Verdächtige an die Niederlande und Italien ausgeliefert. Der IStGH muss diese Bemühungen verstärken, indem er die längst überfälligen Schritte unternimmt, um den Kreislauf des Missbrauchs zu beenden, der in Libyen nach wie vor nicht aufgeklärt ist, und libysche sowie europäische Täter wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit vor Gericht zu stellen.


Anmerkung:
[1] https://www.ecchr.eu/fall/gewalt-gegen-gefluechtete-und-migrierende-in-libyen-der-internationale-strafgerichtshof-muss-ermitteln/

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Quelle:
European Center for Constitutional and Human Rights e.V. (ECCHR)
Zossener Str. 55-58, Aufgang D, 10961 Berlin
Telefon: + 49 (0)30 - 40 04 85 90, Fax: + 49 (0)30 - 40 04 85 92
E-Mail: info@ecchr.eu,
Internet: www.ecchr.de

veröffentlicht in der Online-Ausgabe des Schattenblick am 2. Dezember 2022

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