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AGRAR/085: Akuter Getreidemangel - EU will "Weltmarkt" abschöpfen (SB)


EU-Agrarminister beschließen Aussetzung von Importzöllen für Getreide

Die Europäische Union hat sich vom Nettoexporteur zum -importeur von Getreide gewandelt

Interventionsbestände nahezu aufgebraucht


In der Europäischen Union herrscht akuter Getreidemangel. Die Lager sind leergeräumt, und die Preise steigen. Deshalb brachte vor kurzem die für Landwirtschaft und ländliche Entwicklung zuständige EU-Kommissarin Mariann Fischer Boel den Vorschlag auf, die Importzölle für Getreide außer Hafer zunächst bis zum Ende des laufenden Wirtschaftsjahres am 30. Juni 2008 auszusetzen. Dadurch verspricht sich die Kommissarin sowohl eine Senkung der Getreidepreise als auch ein Auffüllen der Bestände.

Die Lage ist offensichtlich alarmierend. Noch am Montag, den 26. November, hatte Dow Jones Newswires berichtet, die EU-Kommission "hoffe", daß die EU-Agrarminister bei ihrer kommenden Ratssitzung ab den 18. Dezember den Vorschlag Fischer Boels absegnen werden. Doch nur einen Tag darauf meldet dieselbe Nachrichtenagentur bereits Vollzug. Die Agrarminister haben sich anscheinend blitzschnell darauf verständigt, die Zollschranken zu lüften. Die Vermutung drängt sich auf, daß die Versorgungslage dramatischer ist, als sie von der Öffentlichkeit wahrgenommen wird.

Tatsächlich waren die gesamten Getreidereserven (private Lagerbestände und Interventionsbestände) der EU zu Beginn des laufenden Wirtschaftsjahres um 13,2 Millionen Tonnen niedriger als im Vorjahr - und auch dieser Wert war schon unterdurchschnittlich. In der EU hat es zwei schwache Ernten hintereinander gegeben, gleichzeitig fand eine "Auslagerung bedeutender Interventionsmengen in der Gemeinschaft" statt [Anm. 1]. Weniger verschraubt formuliert: Die EU mußte ihre Lager räumen, um den Versorgungsmangel zu kompensieren.

Dieses administrative Mittel steht jetzt nicht mehr zur Verfügung. Selbst die Interventionsbestände sind weitreichend aufgebraucht, wie die EU-Kommission - ansonsten für ihre maßvolle Ausdrucksweise bekannt - auf recht beunruhigende Weise zum Ausdruck brachte:

"Die europäischen Getreidepreise haben sich seit Beginn des Wirtschaftsjahres 2007/8 spektakulär entwickelt. Sowohl die Halmgetreidesorten als auch Mais stehen unter Druck. Diese Lage ist auf die geringen Weichweizen- und Maisvorräte, die hinter den Vorausschätzungen zurückbleibende Qualität der Ernte und die Ausschöpfung der Interventionsbestände zurückzuführen, die nur noch 0,5 Millionen Tonnen betragen." [Anm. 1]

Der Ernte 2007 sei durch die ungünstigen Witterungsbedingungen "schwerer Schaden" zugefügt worden. In diesem Jahr werde die Gesamterzeugung von Getreide in der EU auf 256 Millionen Tonnen geschätzt; das seien 10 Millionen Tonnen bzw. 3,5 Prozent weniger als in dem bereits schlechten Wirtschaftsjahr 2006/7, berichtete die EU-Kommission. Der Erzeugungsrückgang trete zu einem Zeitpunkt ein, "da die Getreidebestände in der EU bereits niedrig" seien.

Das spiegelt sich in hohen Getreidepreisen wider. Laut Dow Jones war der Brotweizen im August in Deutschland, dem größten EU-Mitgliedsland, 70 Prozent teuer als im Vorjahresmonat. Und in Frankreich, dem zweitgrößten EU-Mitgliedsland, wurde die Futtergerste um mehr als 100 Prozent teurer verkauft als im Sommer 2006. Das führte zu einer verstärkten Nachfrage nach Futtermais und auch dort zu einem Preisanstieg. Deshalb erhoffte sich Fischer Boel,

"dass dieser Vorschlag dazu beitragen wird, die Getreideeinfuhren aus Drittländern zu erleichtern und Spannungen auf den europäischen Getreidemärkten abzubauen. (...) Die Getreideernte in Europa ist mäßig ausgefallen und die Preise sind sowohl auf dem europäischen Markt als auch auf dem Weltmarkt gestiegen. Obwohl der Außenschutz bei Getreide relativ niedrig ist, werden noch immer Einfuhrzölle für bestimmte Getreidesorten erhoben, die für das Gleichgewicht auf dem EU-Markt wichtig sind." [Anm. 1]

Ob der Plan der EU-Kommissarin aufgeht, ist fraglich. Denn es setzt voraus, daß irgendwo in der Welt größere Getreideüberschüsse bestehen, was nicht zu erkennen ist. Nicht nur in der EU, sondern in etlichen anderen Regionen der Erde, beispielsweise Australien, Rußland, Brasilien und China, wurden in diesem Jahr Ernteeinbrüche verzeichnet. Die Lage am sogenannten Weltmarkt ist nicht minder angespannt als in Europa, zumal seit kurzem mit dem Verbrauch von Nahrungsmitteln durch Verbrennungsmotoren (Ethanol und Biodiesel) ein Konkurrent zum Lebens- und Futtermittelgetreide entstanden ist, der von den USA und Ländern der Europäischen Union sogar noch eigens subventioniert wird.

Sollte es aber der EU aufgrund einer Aufhebung der Importzölle, trotz der globalen Mangellage, gelingen, daß demnächst mehr Getreide eingeführt wird, so würde dies bedeuten, daß andernorts der Mangel verstärkt wird. Denn die global verfügbare Getreidemenge nimmt nicht kurzfristig zu, nur weil Staaten die politischen Rahmenbedingungen verändern. Das bedeutet, daß die Getreidefrachter womöglich demnächst europäische Häfen anlaufen, weil die Händler hier eine höhere Gewinnspanne erwarten dürfen. Aber dieses Plus löst andernorts ein Minus aus. Tatsächlich hat die EU als traditionelle Getreideexporteurin bis zum 20. November im laufenden Wirtschaftsjahr bereits 5,2 Millionen Tonnen Getreide eingeführt.

Als langfristige Strategie gedacht könnte die Aufhebung der Importzölle im EU-Raum theoretisch einen Anreiz bieten, daß die Fläche des Getreideanbau außerhalb der EU ausgedehnt wird. Allerdings sind dieser Möglichkeit Grenzen gesetzt, viele landwirtschaftlich nutzbare Flächen sind bereits erschlossen. Oder aber Bodenqualität und Klimaverhältnisse erweisen sich als so schlecht, daß sich eine Bewirtschaftung kaum lohnt. Das gilt für Hochgebirge, Wüsten, Sümpfe, Mangroven, Karstlandschaften und ausgemergelte Flächen, deren Bewirtschaftung aufgegeben wurde, weil darauf die Pflanzen nicht mehr gedeihen oder weil sie eine große Menge Dünger erfordern, damit auf ihnen überhaupt etwas angebaut werden kann. Dünger ist jedoch teurer geworden, nachdem auch der Ölpreis in die Höhe geschnellt ist.

Bereits im Mai dieses Jahres hatte die EU-Kommission wegen der angespannten Lage beschlossen, daß jedes Mitgliedsland selbst entscheiden dürfe, ob es Ausnahmegenehmigungen zur Flächenstillegung aussprechen will oder nicht. Von dieser Möglichkeit hat beispielsweise Niedersachsen Gebrauch gemacht. Im September drängte Fischer Boel die 27 EU-Staaten regelrecht, sie möchten ihren Vorschlag zur Aufhebung des Flächenstillegungsbestimmung so schnell wie möglich in nationale Bestimmungen umsetzen. Auf der dann zur Verfügung stehenden Fläche könnten 10 bis 17 Millionen Tonnen Getreide zusätzlich geerntet werden, behauptete die Kommissarin. Das klang nach Zweckoptimismus. Seitdem wurden die Interventionsbestände der EU von eine Million auf eine halbe Million Tonnen reduziert. Ursprünglich beliefen sie sich auf vierzehn Millionen Tonnen.

Die "Financial Times Deutschland" (25. Oktober 2007) schrieb zum Thema globale Getreideversorgung, daß erstmals seit den Engpässen der siebziger Jahre auch stabile Nationen "höchst besorgt" seien. Henry Fell, Leiter des britischen Landwirtschaftsverbands, wurde mit den Worten zitiert: "Das Gesamtbild ist alarmierend. Es sieht so aus, als bewegen wir uns von einer Periode überschüssiger Nahrungsmittelproduktion in eine Zeit der starken Verknappung." Und Abdolreza Abbassian, Experte für Getreidehandel bei der Welternährungsorganisation FAO, sagte im selben Artikel: "Die Welt verliert allmählich das Polster, das bisher vor großen Marktschwankungen geschützt hat (...) Es entsteht ein Gefühl von Panik."

Was die EU jetzt als politische Maßnahme gegen den Getreidemangel beschlossen hat, wird von Rußland längst praktiziert. Dort waren die Lebensmittelpreise ebenfalls gestiegen, trotz strenger Zielvorgaben der Regierung. Doch die "Neue Zürcher Zeitung" (Online-Ausgabe) schrieb am 17. Oktober 2007:

"Besonders die Preise für Lebensmittel haben in der vergangenen Zeit angezogen, womit in Russland ein internationaler Trend nachvollzogen wird. (...) Der Preisindex eines sogenannten Existenzminimum-Warenkorbs ist nach Angaben des russischen statistischen Amtes seit Jahresbeginn um 17% gewachsen. Die 'gefühlten', aber auch die in einzelnen Geschäften tatsächlich vorhandenen Preissteigerungen fallen dabei für manche Lebensmittel erheblich grösser aus, als die Zahlen der offiziellen Statistiken angeben."

Die russische Regierung wollte den Importzoll für Milchprodukte von 15 auf 5 Prozent senken. Zudem wurde umgekehrt die Exportabgabe für Weizen auf zehn Prozent und für Gerste auf 30 Prozent angekündigt. Der Interventionsfonds Rußlands lag im Oktober mit 1,5 Millionen Tonnen Getreide sogar noch über dem der EU. Experten rechnen mit vermehrten Demonstrationen wie in Italien, wo Millionen Menschen wegen der hohen Pasta-Preise auf die Straße gegangen sind, oder gar Hungeraufständen, zu denen es in Mexiko nach der Erhöhung der Tortillapreise gekommen war.

Auch wenn die Europäische Union nach außen hin immer mehr als Festung auftritt, bedeutet das nicht, das die Menschen in ihrem Innern, die bislang auf eine vergleichsweise gesicherte Versorgung setzen konnten, vom weltweiten Nahrungsmangel verschont bleiben.

Anmerkungen:

[1] http://europa.eu/rapid/pressReleasesAction.do?reference=IP/07/1768 &format=HTML&aged=0&language=DE&guiLanguage=en

28. November 2007