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AGRAR/092: Der Mangel greift - EU hebt Normen für Obst und Gemüse auf (SB)


Weltweiter Lebensmittelmangel endet nicht an den EU-Außengrenzen

Denormierung von Obst und Gemüse steht am Beginn einer wachsenden Resteverwertung auch innerhalb der Europäischen Union


Die Europäische Union hat beschlossen, die "krumme Gurke" und die "knorrige Karotte" wieder zuzulassen. Was unter dem Motto "Bürokratieabbau" firmiert, dürfte sich als Übergangsmaßnahme auf dem Weg zu einem Neuaufbau von Bürokratie, nämlich einer Administration des Mangels, erweisen.

Obst und Gemüse unterliegt in der Europäischen Union Vermarktungsnormen, die unter anderem Größe und Form regeln. Beispielsweise mußten Salatgurken gerade gewachsen sein. Derartige Begrenzungen werden demnächst für 26 Arten von Obst und Gemüse aufgehoben [1]. Für weitere zehn Obst- und Gemüsearten, die 75 Prozent des EU-Handelswerts ausmachen, bleiben die Normen zwar erhalten, aber es soll erstmals den Mitgliedsstaaten überlassen bleiben, ob sie den Verkauf nicht-normgerechter Erzeugnisse gestatten. Erforderlich ist lediglich eine entsprechende Kennzeichnung als Abgrenzung gegenüber den Güteklassen Extra, I und II.

Die EU-Kommissarin für Landwirtschaft und ländliche Entwicklung, Mariann Fischer Boel, erklärte zu dem Beschluß der EU-Kommission, der am 1. Juli 2009 in Kraft treten soll:

"Dies bedeutet einen Neuanfang für die krumme Gurke und die knorrige Karotte. Es ist ein konkretes Beispiel für unsere Bemühungen, unnötige Bürokratie abzubauen. Solche Dinge müssen nicht auf EU-Ebene geregelt werden. Es ist viel besser, dies den Marktbeteiligten zu überlassen. Und in dieser Zeit der hohen Lebensmittelpreise und allgemeinen wirtschaftlichen Probleme sollten die Verbraucher aus einer möglichst breiten Produktpalette auswählen dürfen. Es ist sinnlos, einwandfreie Erzeugnisse wegzuwerfen, nur weil sie die 'falsche' Form haben." [3]

Vor einigen Jahren hätte man solch eine Entscheidung noch als Ansatz zur Resteverwertung bezeichnet - Abbau der Bürokratie klingt da selbstverständlich viel besser. Wer sollte sich dagegen aussprechen, die Bürokratie innerhalb der europäischen Strukturen zu reduzieren? Allerdings ist Bürokratieabbau nur ein Aspekt von mehreren bei der Denormierung von Obst und Gemüse, und womöglich nicht einmal der wichtigste. Zumal nicht ersichtlich ist, worin die großartige Einsparung der Bürokratie eigentlich besteht. Wenn jetzt die Mitgliedsstaaten bei zehn Obst- und Gemüsearten selbst entscheiden, vermehrt sich der administrative Aufwand. Zumal jedes EU-Mitglied Richtlinien erlassen könnten, welche krummen Dinger aus welchem Land unter welchen Bedingungen auf dem eigenen Markt zugelassen werden dürfen und welche nicht.

Der mögliche Nutzen des Bürokratieabbaus tritt gegenüber dem der potentiellen "Resteverwertung" zurück. Die EU-Kommissarin nimmt dieses Wort nicht in den Mund, aber er klingt unverkennbar durch, wenn sie auf die hohen Lebensmittelpreise und allgemeinen wirtschaftlichen Probleme verweist. Die "möglichst breite Produktpalette" klingt ebenfalls verlockend, bei genauerer Betrachtung stellt sich das Versprechen als bloßes Verköstigungsangebot für ärmere Bevölkerungsschichten heraus. Die Produktpalette wird lediglich dahingehend erweitert, daß künftig Obst und Gemüse reguliert auf den Markt gelangen darf, das zuvor unreguliert, da nicht zugelassen, verwertet oder weggeworfen wurde.

Wer es sich leisten kann, dürfte auch weiterhin zum ansehnlichen Obst und Gemüse greifen und ein paar Euro mehr dafür bezahlen, daß er keine verholzten Stellen aus der Mohrrübe schneiden muß, sondern genüßlich in die knackfrische Ware beißen kann. Wer dagegen auf einen notorisch leeren Geldbeutel blickt, wird kaum umhin können, als zu dem preiswerteren Restobst und Ausschußgemüse zu greifen. Deshalb befleißigt sich Fischer Boel eines Euphemismus, wenn sie erklärt, daß man die Auswahl den "Marktbeteiligten" überlassen sollte. Freiheit der Wahl besteht nur für diejenigen, die sich auch die Qualitätsware leisten können.

Bei der hier beschriebenen Denormierung handelt es sich um eine Maßnahme im Rahmen des Aufbaus einer Mangelverwaltung, wie sie sich seit einigen Jahren in der Europäischen Union sehr deutlich abzeichnet. Ähnlich wie die Weltgetreidereserven schrumpfen und schrumpfen, verschwanden in diesem Jahrzehnt die Interventionsbestände der Europäischen Union. Sie erreichten um den Jahreswechsel 2007/2008 herum mit unter 500.000 Tonnen Getreide ihren Tiefststand. Verglichen mit zuvor über zehn Millionen Tonnen ist das nichts. Heute hat die EU keine nennenswerten Reserven mehr und müßte im Falle einer Mißernte, die womöglich mehrere wichtige Getreideproduzenten innerhalb der Union gleichzeitig träfe, auf dem Weltmarkt einkaufen.

Die Preise für Getreide und andere Futter- bzw. Lebensmittel sind jedoch global dramatisch gestiegen. Zwar sanken sie in diesem Jahr auch wieder, aber nicht bis auf ein Niveau, wie es vor der Preisexplosion herrschte. Langfristig rechnen Experten mit einer Verteuerung von Lebensmitteln. Für Menschen, die über kein oder nur ein geringes Einkommen verfügen und demnächst krumme Gurken kaufen dürfen, geht es ums Überleben. Zwar verfangen die unter dem Einfluß neoliberaler Ideologen auch in der Europäischen Union abgebauten Sozialsysteme besser als in den Vereinigten Staaten von Amerika, aber beide Wirtschaftsräume sind so eng miteinander verflochten, daß Entwicklungen jenseits des großen Teichs regelmäßig nach Europa herüberschwappen.

Hüben wie drüben nimmt die Verarmung zu. Der Ansturm auf die Essensausgaben von Wohlfahrtsorganisationen in den USA entspricht dem Boom, den in Deutschland die Tafeln verzeichnen. Da werden auf zivilgesellschaftlicher Ebene staatliche Aufgaben übernommen, weil sich der Staat seiner Verantwortung für die Bürger schlichtweg entzieht. Die Europäische Union wiederum agiert als transnationale Instanz, die den Bürgern noch weniger verpflichtet ist als die Bundesregierung, muß aber ebenfalls darauf achten, daß der soziale Frieden gewahrt bleibt.

Die Aufhebung der Normen für Obst und Gemüse steht in einer Reihe mit Notmaßnahmen, die erforderlich wurden, nachdem die Interventionsbestände aufgebraucht waren: Aufhebung der Einfuhrzölle auf fast alle Getreidesorten außer Mais, vorübergehende Aussetzung des Flächenstillegungssystems, geplante Abschaffung der Milchquote. Die Verwaltung des Nahrungsmangels, der auch in der relativ wohlhabenden Europäischen Union Einzug hält, erfordert Maßnahmen, die nichts mit Bürokratieabbau, wohl aber mit dem Aufbau neuer administrativer Strukturen zu tun haben. Die Zulassung der krummen Gurke weist in diese Richtung. Die hier beispielhaft beschriebene Verschlankung der Bürokratie könnte sich als Auftakt zur notgetriebenen Verschlankung der ärmeren gesellschaftlichen Schichten erweisen.


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Anmerkungen:

[1] Im einzelnen sind dies: Aprikosen, Artischocken, Spargel, Auberginen, Avocados, Bohnen, Rosenkohl, Karotten, Blumenkohl, Kirschen, Zucchini, Gurken, Zuchtpilze, Knoblauch, Haselnüsse in der Schale, Kopfkohl, Porree, Melonen, Zwiebeln, Erbsen, Pflaumen, Staudensellerie, Spinat, Walnüsse in der Schale, Wassermelonen und Chicoree.

[2] Äpfel, Zitrusfrüchte, Kiwis, Salate, Pfirsiche und Nektarinen, Erdbeeren, Gemüsepaprika, Tafeltrauben und Tomaten.

[3] "Die krumme Gurke ist wieder da: Kommission erlaubt Verkauf von 'unförmigem' Obst und Gemüse", Referenz IP/08/1694, 12. November 2008.
http://europa.eu/rapid/pressReleasesAction.do?reference=IP/08/1694&format=HTML&aged=0&language=DE&guiLanguage=de

17. November 2008