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PARTEIEN/216: Das irische Volk bringt Lissabon-Vertrag zu Fall (SB)


Das irische Volk bringt Lissabon-Vertrag zu Fall

EU-Elite mit modifiziertem Verfassungsentwurf gescheitert


An diesen Freitag den 13. werden die Führungseliten der Europäischen Union noch lange zurückdenken müssen. Um neun Uhr Ortszeit begann in allen 43 Wahlbezirken der Republik Irland die Auszählung der am Vortag durchgeführten Volkszählung über den EU-Reformvertrag, auch Vertrag von Lissabon genannt. Bald danach gab es die ersten Einschätzungen der sogenannten Tally-Men, die als Vertreter der Parteien bei jeder Wahl oder Volksbefragung die Auszählung beobachten und nebenbei befreundeten Journalisten ihre Einschätzung des zu erwartenden Ergebnisses zustecken. Im Vergleich zu Parlamentswahlen mit den zahlreichen Kandidaten hatten es die Tally-Men in den jeweiligen Auszählungszentren diesmal leicht. Sie mußten lediglich nach dem Öffnen der Kisten und dem Sortieren der Ja- und Nein-Zettel in zwei Haufen schätzen, welcher der beiden der größere ist. Demnach lagen die Gegner des Reformvertrags leicht vorn. Kurz nach 12 Uhr Ortszeit gaben die ersten offizielle Endergebnisse aus Waterford und Sligo North-Leitrim den Trend an. Dort hatten die Nein-Sager mit 54 zu 46 Prozent bzw. 57 zu 43 Prozent gewonnen.

Bereits eine Woche zuvor hatte sich das Nein zum Lissabon-Vertrag abgezeichnet, als am 5. Juni die Tageszeitung Irish Times eine sensationelle Umfrage veröffentlichte, der zufolge die Gegner des Vertrages innerhalb von drei Wochen von 18 Prozent auf 35 Prozent zugelegt und zum erstenmal die Befürworter, die im selben Zeitraum von 35 auf 30 Prozent zurückgefallen waren, überholt hatten. Drei Tage später veröffentlichte die Sunday Business Post eine weitere Umfrage, nach der auf Ja eine hauchdünne Mehrheit - 42 zu 39 Prozent - entfiel. Zu diesem Zeitpunkt stand fest, daß der Vertrag scheitern würde, sollte es den großen Parteien, welche die politische Landschaft Irlands dominieren, nicht gelingen, ihre Wähler zum Gang an die Urne zu bewegen.

Bis auf die linksorientierte, oppositionelle Sinn Féin hatten sich die Führer aller anderen Parteien, die im irischen Unterhaus, dem Dáil Éireann, in Dublin vertreten sind - Fianna Fáil, die Grünen und die Progressive Democrats von der regierenden Koalition sowie Fine Gael und Labour von der Opposition - für Lissabon stark gemacht. Doch die Argumente, welche sie benutzten, scheinen viele Wähler entweder kalt gelassen oder erst recht gegen den Reformvertrag aufgebracht zu haben (Tatsächlich nahm nach offiziellen Angaben an der Abstimmung knapp über die Hälfte der Wahlberechtigten - 1.450.000 von 2.740.000 teil). Man behauptete, der Vertrag sei der beste Deal, den Dublin hätte herausholen können; man müsse dem zustimmen, weil ansonsten die anderen EU-Partnerstaaten von den Iren enttäuscht wären, was die Position des Landes innerhalb der Union schwächen würde. Premierminister Brian Cowen und sein Parteikollege Charlie McGreevy, der derzeit als EU-Wettbewerbskommissar in Brüssel arbeitet, schossen ein absolutes Eigentor, als sie offen zugaben, den Vertrag nicht gelesen zu haben, was Wasser auf die Mühlen derjenigen war, die kritisierten, das 478seitige Abkommen sei undemokratisch, weil zu lang, auf Fachchinesisch und nur von Juraprofessoren zu verstehen.

Trotz der zahlreichen Auftritte auf der Straße, im Radio und Fernsehen und der Unterstützung der meisten großen Medien gelang es dem politischen Establishment Irlands nicht, die Einwände der Gegner, einer aus Sinn Féin, der rechtslibertären Aktionsgruppe Libertas, der Socialist Workers Party um den Soziologiedozenten Kieran Allen und den berühmten Journalisten Eamon McCann, der neuen linksradikalen Partei Éirigí ("Erhebt Euch"), der Communist Party of Ireland (CPI) sowie, diversen Umweltaktivisten, Globalisierungsgegnern und Rüstungskritikern, darunter die beiden Popstars Sinéad O'Connor und Jim Corr, bestehenden, bunten Allianz, glaubhaft zu entkräften. Das Nein-Lager bemängelte am Lissabon-Vertrag das Fehlen einer sozialen Komponente, die Stärkung der Konzern-Lobby zulasten der Arbeiterschaft aufgrund neoliberaler Richtlinien, die Gewichtsverlagerung zugunsten der größeren EU-Staaten bei Zunahme der Mehrheitsentscheidungen und die Aufforderung zur verstärkten militärischen Zusammenarbeit. Die Nein-Leute machten geltend, daß sowohl die Neutralität, der Grundstein des irischen Staatsverständnisses, als auch die Unabhängigkeit des Landes angesichts der zunehmenden Gesetzgebung aus Brüssel einschließlich der im Lissabon-Vertrag vorgesehenen Kompetenzenerweiterung des Europäischen Gerichtshofs in Gefahr seien.

Obwohl das amtliche Endergebnis zu diesem Zeitpunkt noch nicht feststand, räumte am Mittag des 13. Juni Außenminister Micheál Martin von Fianna Fáil ein, viele Menschen hätten dem Vertrag nicht vertraut, und das, dem man nicht vertraue, lasse man besser links liegen. Zu dem Zeitpunkt zeigten sich die Gegner des Vertrags über ihren großartigen Sieg - tatsächlich waren sie im Vergleich zu den Befürwortern mit deren besserwisserischen, belehrenden Ton einfach pfiffiger und engagierter - hocherfreut. Der Libertas-Chef Ganley äußerte sich, stolz auf die irische Demokratie zu sein, sowie darauf, ein Europäer zu sein. Nicht die irische Ja-Seite, sondern die EU-Führung habe die Abstimmung verloren, weil sie dem irischen Volk einen Vertrag vorgelegt habe, den dieses nicht annehmen könne. Das Nein der Iren zum Reformvertrag spiegele die Meinung der Mehrheit der EU-Bürger, so Ganley. Der Sinn-Féin-Vorsitzende Gerry Adams betonte, die Iren seien nach wie vor große Europafreunde, doch die Union müsse sozialer gestaltet werden; nach dem Scheitern von Lissabon wäre jetzt die Chance dazu da.

Es steht jedoch zu befürchten, daß man auf der EU-Führungsebene versuchen wird, das Nein aus Irland zum Lissabon-Vertrag zu relativieren und für unwichtig zu erklären, um den angepeilten Kurs weiter fortsetzen zu können. Schließlich ist der Reformvertrag selbst nichts als eine kosmetisch veränderte Version jener EU-Verfassung, gegen die sich vor drei Jahren die Franzosen und Niederländer bei Volksbefragungen aussprachen. Das Interview, das am Mittag des 13. Juni Jo Leinen, der Vorsitzende des Verfassungsausschusses im EU-Parlament, dem Radiosender NDR Info gab, sprach Bände über die von Micheál Martin attestierte, fehlende Verbindung zwischen den EU-Granden und den einfachen Menschen in den 27 Mitgliedsländern. Angesichts des für Lissabon negativen Ausgangs der Abstimmung auf der grünen Insel sprach der deutsche Sozialdemokrat von "Blockade" und "Stagnation" und erklärte unverfroren, der Ratifizierungsprozeß - 16 EU-Staaten haben bereits formell zugestimmt - sollte unbedingt fortgesetzt werden, die Iren würden sich entscheiden müssen, ob sie sich mit leichten Nachbesserungen zufrieden geben oder sich in die politische Isolation begeben wollten.

13. Juni 2008