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PARTEIEN/238: Wahlkampf in Britannien - Tories in Torschlußpanik (SB)


Wahlkampf in Britannien - Tories in Torschlußpanik

Erringen Konservative eine knappe Mehrheit oder gibt es ein Patt?


An diesem 6. Mai sind die Untertanen Ihrer Majestät von England, Schottland, Wales und Nordirland dazu aufgerufen, über die Besetzung der 646 Sitze im britischen Unterhaus in London zu bestimmen. Die drei stärksten Parteien Großbritanniens, die seit 1997 regierende Labour, die Konservativen, auch Tories genannt, und die Liberaldemokraten, werden die allermeisten dieser Sitze erobern. Während der letzten, vor einem Monat zu Ende gegangenen Legislaturperiode hatten sie zusammen 616 Sitze - Labour 356, Konservativen 198 und Lib Dems 62. Die restlichen 40 teilten sich schottische und walische Nationalisten, katholische Nationalisten und protestantische Unionisten in Nordirland sowie ein paar Unabhängige. Diesmal dürften die Fraktionen um den Labour-Chef und Premierminister Gordon Brown, den konservativen Oppositionsführer David Cameron und den liberaldemokratischen Vorsitzenden Nick Clegg zusammen wieder etwas mehr als 600 Sitze erobern. Aber in welcher Zusammensetzung? Das ist die wichtige Frage am Ende eines der spannendsten Wahlkämpfe, welche die Briten jemals erlebt haben.

Über letzteren Umstand sind vor allem die Konservativen mehr als unglücklich. Seit David Cameron nach der letzten Parlamentswahl 2005 ihr Partei- und Fraktionsvorsitzender wurde, hat er alles unternommen, um die Tories von ihrem Image aus der Ära Margaret Thatchers, nämlich daß sie für soziale Kälte, eine weitestgehende Privatisierung öffentlichen Eigentums, eine steuerliche Begünstigung der Reichen, eine militaristische Außenpolitik, eine Ausgrenzung von Einwanderern, eine gesetzliche Benachteiligung von Homosexuellen und eine schonungslose Ausbeutung der Natur sind, zu befreien. Durch aufsehenerregende Initiativen wie das Bekenntnis zum Fahrradfahren, seine verständnisvollen Äußerungen bezüglich der schwierigen Situation von Jugendlichen in sozial benachteiligten Regionen - "hug a hoodie" - und seine Ernennung des früheren Popsängers und heutigen Fernsehproduzenten und politischen Aktivisten Bob Geldof zum Berater in Sachen Globalarmut gelang es Cameron in den Umfragewerten zuerst Tony Blair und nach dessen Rücktritt 2007 dessen Nachfolger als Premierminister und Labourvorsitzenden, den früheren Finanzminister Gordon Brown, zu überflügeln.

Das langsame Ende des Höhenfluges des 1966 geborenen Cameron und der Tories in den Umfragewerten setzte mit dem Beginn der internationalen Finanzkrise 2008 ein, als damals Brown seine Wirtschaftskompetenz nicht nur im britischen Kontext, sondern auf der internationalen Bühne ausspielte. Nichtsdestotrotz gingen bis vor wenigen Monaten alle Politbeobachter auf der Insel davon aus, daß die Tories bei den in diesem Frühjahr zu erwartenden Wahlen zum Unterhaus eine satte Mehrheit erzielen werden. Über längere Zeit rangierten die Konservativen in den Umfragen bei rund 40, Labour irgendwo zwischen 20 und 30 und die Lib Dems knapp unter 20 Prozent. Aufgrund der britischen Wahlmodalitäten, wonach der Kandidat bzw. die Kandidatin mit den meisten Stimmen im jeweiligen Bezirk ins Unterhaus einziehen darf - das sogenannte "first-past-the-post system" - gab es kaum Zweifel, daß die Tories auf jedem Fall mehr als 350 und vielleicht sogar mehr als 400 Sitze würden gewinnen können.

Im Vergleich dazu ist der Wahlkampf für die Konservativen miserabel gelaufen. Camerons Wahlspruch von der "Big Society" ist nicht angekommen. Mit jener Idee sollte suggeriert werden, die Konservativen stünden für das Gemeinwohl und eine Gesellschaft, in der jeder dem nächsten und die Regierung den wirklich Schwachen hilft. Die im Wahlkampf angedeuteten, unter den Konservativen zu erwartenden Sozialkürzungen, um die aus dem Ruder gelaufenen britischen Staatsfinanzen auf eine solidere Basis zu stellen, ließen jedoch Camerons "Big Society" als Vorankündigung eines umfassenden, aus Kostengründen bedingten Rückzugs des Staats aus vielen Gesellschaftsbereichen mit der Folge erscheinen, daß sich tatsächlich bald Millionen von Menschen allein auf sich gestellt wiederfinden könnten.

Darüber hinaus hat sich Nick Clegg, der wie Cameron 43 Jahre alt und damit ebenfalls 15 Jahre jünger als Premierminister Gordon Brown ist, im Wahlkampf erfolgreich als den vermeintlich wahren "Alternativkandidaten" präsentieren können. Nach der ersten Fernsehdebatte zwischen den drei Parteiführern am 15. April schossen die Liberaldemokraten in den Umfragen um zehn Punkte auf fast 30 Prozent hoch und holten damit Labour ein, während Cameron und die Tories bei knapp 35 Prozent vor sich hindümpelten. Das zu erwartende gute Abschneiden der Liberaldemokraten hat die politische Landschaft transformiert und alle bisherigen Prognosen über den Haufen geworfen. Verschiedene Wahlausgänge und politische Konstellationen sind durch die Verwandlung des ewigen Labour-Tory-Zweierclinches in einen Dreikampf alle gegen alle möglich geworden. Die meisten Demoskopen sagen ein Parlament voraus, in dem weder Labour noch die Konservativen die absolute Mehrheit haben werden und in dem deshalb den Liberaldemokraten die Rolle des Königsmachers - eventuell als Juniorpartner in einer Koalitionsregierung - zukommen wird.

Von den Positionen her liegen die Lib Dems und Labour nahe bei einander. Beide wollen die zu erwartenden drastischen Haushaltskürzungen erst vornehmen, wenn die britische Wirtschaft wieder halbwegs läuft und die Steuereinnahmen üppiger als jetzt fließen. Die Konservativen dagegen wollen der britischen Bevölkerung die bittere Medizin so schnell wie möglich verpassen, vermutlich in der Hoffnung, daß sich bis zur nächsten Wahl, die fünf Jahre in der Zukunft liegen sollte, die wirtschaftliche Lage gebessert haben wird. Brown und Clegg lehnen diesen Kurs ab und werfen Cameron und dem konservativen Schattenfinanzminister George Osborne vor, die leichte Erholung der britische Wirtschaft auf Spiel setzen und die Gefahr einer neuen Rezension eingehen zu wollen.

Clegg hat sich für drastische Einsparungen im Militärbereich, speziell für die Abschaffung des enorm teuren britischen Atomwaffenarsenals stark gemacht. Dies lehnen Labour und die Tories gleichermaßen ab. Doch wenn es eine Forderung gibt, welche die Lib Dems erfüllt haben wollen, bevor sie überhaupt mit jemandem in eine Koalitionsregierung eintreten, dann lautet diese die Reform des britischen Wahlsystems, damit die Parteien prozentual so viele Sitze im Parlament erhalten, wie sie Stimmenanteile im ganzen Land erzielen. Cameron, der auf jeden Fall Führer der größten Fraktion sein wird und bereits jetzt schon in Gedanken seinen Einzug in die Number 10 Downing Street vorbereitet, lehnt das Ansinnen Cleggs ab. Labour dagegen sieht für sich in einer Koalition mit den Liberaldemokraten die vielleicht einzige Chance, an der Macht zu bleiben, und gibt sich inzwischen gesprächsbereit.

Von daher könnten Labour und die Liberaldemokraten, selbst wenn die Tories die Wahl knapp gewinnen, versuchen eine gemeinsame Koalitionsregierung zu bilden. Für diesen Fall hat Labour bereits einen Rücktritt Browns in Aussicht gestellt. Dann würde vermutlich David Milliband Labour-Chef und Premierminister werden, während Clegg den Posten des Außenministers übernähme. Und weil niemand richtig weiß, wie die Wahl ausgehen wird, haben die drei Parteien ihre Energie bis zum Schluß auf die rund 100 Wahlkreise konzentriert, bei denen nicht von vornherein feststeht, an welchen Kandidaten bzw. welche Kandidatin von den Konservativen, von Labour oder von den Lib Dems sie gehen werden.

Gerade diese sogenannten "marginals", in denen der Stimmenvorsprung der Partei, die den Wahlkreis beim letztenmal gewonnen hat, gering ist, machen eine verläßliche Prognose hinsichtlich des Endergebnisses so schwierig. Im Wahlkampf haben die Tories und ihre Unterstützer alles unternommen, um den Störfaktor Clegg auszuschalten. Zuletzt wurde ihm von einer Gruppe ehemaliger ranghoher Mitglieder des Sicherheitsapparats in einem Gastkommentar für Rupert Murdochs Times of London wegen seiner Kritik an der "special relationship" Großbritanniens zu den USA "außenpolitische Naivität" vorgeworfen. Die nächsten Stunden werden zeigen, ob die Dauerangriffe gegen Clegg die erwünschte Wirkung erzielt haben. Zu erwarten ist entweder eine knappe absolute Mehrheit für die Tories oder ein "hung parlament" einschließlich tagelangen fieberhaften Pokerns um die Regierungsgewalt, bei dem sogar die Kleinparteien aus Schottland, Wales und Nordirland mitmischen könnten.

6. Mai 2010