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PARTEIEN/287: Ex-IRA-Chef Ivor Bell wegen Mordes festgenommen (SB)


Ex-IRA-Chef Ivor Bell wegen Mordes festgenommen

Eine Aufarbeitung der Geschichte Nordirlands sieht anders aus



Die Festnahme von Ivor Bell, dem ehemaligen Generalstabschef der Irisch-Republikanischen Armee (IRA), wegen der Verwicklung in die Ermordung der zehnfachen Familienmutter Jean McConville im Jahr 1972, hat in ganz Irland hohe politische Wellen geschlagen. Der Beschuldigte weist alle Vorwürfe von sich. Ungeachtet der Tatsachen, daß der 77jährige Rentner herzkrank ist, sein ganzes Leben in Belfast gewohnt hat und von einer kleinen Rente lebt - weswegen sein Anwalt Peter Corrigan von der Kanzlei Kevin Winters auf eine Freilassung auf Kaution plädierte - muß er bis zum Prozeßauftakt, der sich noch mehrere Monate oder vielleicht mehr als ein Jahr hinziehen könnte, im Gefängnis bleiben.

Die überraschende Festnahme Bells am 21. März hat die anhaltende Debatte um die Aufarbeitung der Geschichte der nordirischen "Troubles", die zwischen 1968 und 1998, dem Jahr der Unterzeichnung des Karfreitagsabkommens, 3.500 Menschen das Leben kosteten, zusätzlich befeuert. Doch um eine Aufarbeitung zwecks Versöhnung und Verständigung handelt es sich hier nicht. Im Gegenteil versuchen der britische Staat und die protestantischen pro-britischen Politiker der unionistischen Parteien Nordirlands mittels Justiz und Propaganda weiterhin, den damaligen Kampf der IRA zu delegitimieren und ihr, ihrem politischen Arm Sinn Féin und der katholisch-nationalistischen Bevölkerung die alleinige Verantwortung für den Bürgerkrieg zuzuschieben. Wegen des Dauerstreits in der Geschichtsfrage befindet sich die politische Zusammenarbeit zwischen Unionisten und Nationalisten im nordirischen Parlament Stormont im Leerlauf.

Erst nach dem Ende der "Troubles" ist die Tragödie um die sogenannten "Disappeared" - Menschen, die aus irgendeinem Grund von der IRA getötet und deren Leichen niemals gefunden worden waren - zu einem richtigen Thema geworden. In den letzten Jahren hat man mit Hilfe der IRA immerhin neun der Leichen der 16 "Disappeared", die an abgelegenen Plätzen verscharrt waren, bergen können. Die Ermordung der 37jährigen Jean McConville gilt als besonders perfide, nicht nur weil sie eine arme, alleinstehende Mutter von zehn Kindern war, sondern weil der Verdacht, sie hätte Information über Aktivitäten der IRA in der Westbelfaster Siedlung Divis Flats an die britische Armee weitergegeben, möglicherweise unbegründet war. 2010 strahlte der irische Staatssender Raidió Teilifís Éireann (RTÉ) die Fernsehdokumentation "Voices from the Grave" aus, die auf das gleichnamige Buch des Journalisten Ed Moloney, preisgekrönter Autor von "A Secret History of the IRA", beruhte. In dem Buch sowie in der Dokumentation hat der 2008 verstorbene Brendan Hughes, einst ranghoher IRA-Kommandeur, dem amtierenden Sinn-Féin-Präsident Gerry Adams, der heute Oppositionsführer im Dubliner Parlament ist, angelastet, den Befehl zur Hinrichtung McConvilles gegeben zu haben.

Adams gilt als Architekt des gesamten Friedensprozesses und als derjenige, der innerhalb der IRA die Weichen zur Einstellung ihres bewaffneten Kampfes gestellt hat. Dennoch bestreitet er bis heute, offensichtlich aus Angst vor juristischen Konsequenzen, jemals Mitglied der Untergrundorganisation gewesen zu sein. Die belastenden Aussagen von Brendan Hughes, die bei "Voices from the Grave" zitiert wurden, stammten aus mehreren Dutzend Interviews, die der Ex-IRA-Häftling Anthony McIntyre um die Jahrtausendwende im Rahmen einer Doktorarbeit an der Belfaster Queen's University mit mehreren irisch-republikanischen und protestantisch-loyalistischen Ex-Paramilitärs geführt hatte. Die historischen Dokumente wurden dem Boston College zur Aufbewahrung übergeben und sollten erst nach dem Tod des jeweiligen Interviewpartners und nach der Einverständniserklärung von dessen Erben veröffentlicht werden.

2011 hat die britische Regierung im Auftrag des Police Service of Northern Ireland (PSNI) beim Bundesstaat Massachusetts die Aushändigung der sogenannten Boston College Tapes beantragt. Gegen den Antrag legten Ed Moloney und Anthony McIntyre, die nicht nur den journalistischen Quellenschutz, sondern auch den nordirischen Friedensprozeß bedroht sahen, Einspruch ein. Im April 2013 hat der Oberste Gerichtshof der USA den Einspruch abgewiesen und damit den Weg für die Aushändigung eines Teils der Bändersammlung an den PSNI freigemacht. Moloney und McIntyre klagen nun gegen das Boston College wegen der Nicht-Einhaltung der von ihnen gegebenen Sicherheitsgarantien.

Jedenfalls soll sich die Anklage gegen Bell zum guten Teil auf Informationen stützen, die sich in dem vom Boston College übergebenen Interviewmaterial befinden. 1972 soll Bell Oberbefehlshaber der IRA in Belfast und Adams sein Sekundant gewesen sein. Mitte der achtziger Jahren trennten sich ihre Wege, als Adams die republikanische Bewegung Richtung Parlamentarismus drängte, während Bell damals noch weiterhin an eine militärische Lösung des Nordirland-Konfliktes - d. h. an eine erzwungene Kapitulation Londons und einen Abzug der britischen Streitkräfte - glaubte. Die von Anwalt Corrigan postulierte Dürftigkeit der Beweise gibt Anlaß zu der Vermutung, daß der Prozeß gegen seinen Mandanten nicht mit einer Verurteilung, sondern mit einem Freispruch zu Ende gehen wird. Selbst bei einer Verurteilung würde Bell keine lange Haftstrafe absitzen müssen. Wegen des Karfreitagsabkommens werden frühere Beteiligte an den "Troubles" bei guter Führung in der Regel bereits nach zwei Jahren frühzeitig entlassen.

Vor diesem Hintergrund hat Ciaran Mulholland, der bei den nordirischen Kommunalwahlen im Mai als unabhängiger Sozialist in West Belfast kandidiert, am 22. März auf Anthony McIntyres Blog "A Pensive Quill" gegen den PSNI den Vorwurf der politischen Einschüchterung erhoben. Schließlich war Bell bis zu seiner Festnahme Mulhollands Wahlkampfleiter. Wegen der Weigerung des Gerichts, ihn bis zum Prozeß auf Kaution freizulassen, wird Bell diese Funktion nicht mehr erfüllen können, sondern die Zeit im Sicherheitsgefängnis Maghaberry verbringen müssen. Währenddessen herrscht auf protestantisch-unionistischer Seite Zufriedenheit über die Festnahme Bells und den dadurch ausgelösten Streit innerhalb des republikanischen Lagers.

Die Heuchelei der Unionisten, die sich stets als die Bewahrer von Law and Order in Nordirland präsentieren, hat gerade in den letzten Tagen neue Höhen erreicht. Aufgeregt haben sie sich über die Aussage von Anna Lo, Kandidatin der überkonfessionellen Alliance Party bei der bevorstehenden Europa-Wahl, die Teilung Irlands sei "sehr künstlich", die Insel gehöre wiedervereinigt. An der Äußerung von Billy Hutchinson, einem ehemaligen Kommandeur der Ulster Volunteer Force, der heute Chef der kleinen Progressive Unionist Party (PUP) ist, er hätte durch die Erschießung zweier katholischer Zivilisten 1974 ein vereinigtes Irland verhindert, hat niemand von den größeren pro-britischen Gruppierungen, auch nicht von der regierenden Democratic Unionist Party (DUP) um Premierminister Peter Robinson, öffentlich auch nur den leisesten Anstoß genommen.

24. März 2014