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PARTEIEN/353: Brexit - kurzer Hebel der Vernunft ... (SB)


Brexit - kurzer Hebel der Vernunft ...


Die höchst destruktive Geiselnahme der britischen Politik durch die EU-feindlichen Brexiteers innerhalb der regierenden konservativen Partei setzt sich immer noch fort, neigt sich aber absehbar ihrem Ende zu. Zu verworren und halbgar ist alles, was führende Befürworter des Austritts des Vereinigten Königreichs von Großbritannien und Nordirland aus der europäischen Union seit ihrem überraschenden Sieg bei der Volksbefragung am 23. Juni 2016 von sich geben. Seitdem ist es ihnen nicht gelungen, einen konkreten Entwurf darüber vorzulegen, wie künftig die Beziehungen zwischen dem Vereinigten Königreich und der EU nach dem offiziellen Austritt Ende März 2019 aussehen sollen - die eine Fraktion weiß es selbst nicht, die andere gibt vor, keinen Deal mit der EU anstreben, sondern künftig nach den Regeln der WTO verfahren zu wollen, was zu katastrophalen Handelshemmnissen auf beiden Seiten des Ärmelkanals sowie der inneririschen Grenze führen würde.

Die Entscheidung des stets jovialen, medienaffinen Boris Johnson, sich im Frühjahr 2016 auf die Seite der Brexiteers zu stellen, soll ausschlaggebend für den knappen Sieg der EU-Gegner beim Referendum gewesen sein. Johnsons Manöver war motiviert durch dessen unstillbaren Drang, Premierminister zu werden. Nachdem David Cameron, der voller Naivität der Forderung der konservativen Euroskeptiker innerhalb der eigenen Partei nachgegeben hatte, unmittelbar nach der "verlorenen" Brexit-Abstimmung zurückgetreten war, wurde Johnson mit dem Posten des Außenministers im Kabinett der neuen Parteichefin und ehemaligen Innenministerin Theresa May belohnt. Seitdem tritt Johnson in ein Fettnäpfchen nach dem anderen - meistens mit Absicht -, um sich selbst in Szene zu setzen.

Wegen des zunehmenden Schadens an der eigenen Glaubwürdigkeit sowie an der der May-Regierung verliert Johnsons Dauermasche an Wirksamkeit. Doch der ehemalige Bürgermeister von London kann es nicht lassen. Offenbar hat er nichts anderes in petto. Seine jüngste Blamage erfolgte bei einem BBC-4-Radiointerview am 27. Februar, als er die irische Grenzproblematik leichtfertig abtat und als künftige Lösung jenes elektronische Mautsystem - die sogenannte "congestion charge" - empfahl, das 2003 in London eingeführt worden war, um den Autoverkehr zwischen Außenbezirken und Innenstadt zu drosseln.

Für die Vision eines "effizienten" Kontrollsystems, das die Grenze zwischen Noch-EU-Mitglied Republik Irland und dem nicht mehr zur EU gehörenden Nordirland künftig weiterhin unsichtbar machen sollte, erntete Johnson von der parlamentarischen Opposition und fast allen politischen Kommentatoren Spott und Häme. Sie warfen dem Außenminister vor, die Gefahr eines Wiederaufflammens des Nordirland-Konflikts auf die leichte Schulter zu nehmen. Einen Tag später stellte sich heraus, daß entgegen allen anderslautenden Zusicherungen sich das Außenministerium in London längst auf die eventuelle Einführung von Grenzkontrollen entlang der mehr als 500 km langen irischen Grenze einstellt.

Als am 28. Februar die EU-Kommission einen 119seitigen starken Entwurf des formellen Brexit-Abkommens veröffentlichte, löste dies bei den britischen Europhoben Entsetzen aus. Im Text stand, wie bereits im vergangenen Dezember zwischen London und Brüssels vereinbart, daß im Falle keiner Einigung Nordirland in der Zollunion mit der EU verbliebe; die Frage, wie künftig dessen Handel mit dem britischen Festland zu regeln sei, sei der Regierung Ihrer Majestät Königin Elizabeth II. allein überlassen. Arlene Foster, Chef der protestantischen nordirischen Democratic Unionist Party (DUP), deren zehn Abgeordneten in Londoner Unterhaus Mays Minderheitsregierung über Wasser halten, erklärte den Entwurf für "absolut inakzeptabel", weil er angeblich die "Annektion" Nordirlands durch die EU beinhalte. Für ihre flammende Verteidigung der Union zwischen Nordirland und Großbritannien erhielt Foster großen Beifall von den Brexiteers und Theresa May.

Am 2. März bei einer Grundsatzrede im Londoner Mansion House sollte die Tory-Chefin endlich ihre Karten auf den Tisch liegen, wie künftig die Beziehungen zwischen dem Vereinigten Königreich und der EU aussehen werden. Die mit Spannung erwartete Rede entpuppte sich aber als Rohrkrepierer. May erklärte, das Vereinigte Königreich kehre Zollunion und Binnenmarkt den Rücken, um künftig mit Drittstaaten Handelsverträge nach eigenem Gutdünken aushandeln zu können. Man wolle jedoch weiterhin praktisch im selben Umfang wie bisher Güter und Dienstleistungen in die EU exportieren sowie aus ihr importieren; der Grenzverkehr zwischen der Republik Irland und Nordirland solle weiterhin "reibungslos" verlaufen. Die Worthülsen, die May von sich gegeben hat, haben niemanden überzeugt. Das treffendste Fazit zog Manfred Weber, Fraktionsführer der europäischen Volksparteien im EU-Parlament: "Nachdem, was ich heute gehört habe, bin ich noch mehr besorgt ... Ich sehe nicht, wie wir eine Einigung über Brexit erzielen können, solange die britische Regierung weiterhin ihren Kopf in den Sand steckt."

Auch in Großbritannien machen sich immer mehr Menschen große Sorgen wegen des Kamikaze-Kurses der Brexiteers. Dies verdeutlichen die beiden Brandreden, die innerhalb weniger Tagen der ehemalige Premierminister John Major und der ehemalige Finanzminister Michael Heseltine - beide Tory-Granden - zum Thema Brexit gehalten haben. Beim Auftritt am 28. Februar in London erklärte Major die Brexit-Strategie der amtierenden britischen Regierung für "unrealistisch". Er bezichtigte die Brexiteers, Unwahrheiten zu verbreiten. Er warnte vor den wirtschaftlichen Folgen des Brexit - etwa vor einer Abwanderung der großen japanischen Autokonzerne, die 125.000 Menschen in Großbritannien beschäftigen, und warf May und Konsorten vor, den Frieden in Nordirland leichtfertig aufs Spiel zu setzen. Der Nachfolger von Margaret Thatcher als Premierminister plädierte dafür, daß das Brexit-Votum von 2016 entweder durch eine Abstimmung im Parlament oder eine zweite Volksbefragung rückgängig gemacht werden sollte - dem sozialen und wirtschaftlichen Wohlergehen des Landes zuliebe.

Heseltines Intervention erfolgte zwei Tage nach der Rede Mays. Gegenüber der Sonntagszeitung Observer erklärte das langjährige Mitglied des Thatcher-Kabinetts, die Premierministerin hätte der laufenden Brexit-Diskussion lediglich "Phrasen, Allgemeinplätze und Plattitüden" hinzugefügt. May habe erneut "Rosinenpickerei" betrieben und Forderungen aufgestellt, denen die EU niemals zustimmen könne. Heseltine, der einige Jahre auch britischer Handelsminister gewesen ist, meinte, die Brexiteers hätten auch nach 18 Monaten immer noch keinen Plan für den EU-Austritt deshalb vorgelegt, "weil niemand" wisse, "wie es gehen soll". Heseltine erklärte sich "vollkommen einer Meinung" mit John Major und Ex-Premierminister Tony Blair: Die Angelegenheit müsse entweder vom Parlament oder durch eine erneute Volksabstimmung geregelt werden.

Interessant ist in diesem Zusammenhang die Annäherung, die in den letzten Tagen in Irland zwischen den ansonsten zutiefst verfeindeten Parteien stattfand, der rechtskonservativen Fine Gael und der linksnationalistischen Sinn Féin. FG-Vorsitzender und Regierungschef Leo Varadkar hat Sinn Féins Bemühungen um eine Wiederbelebung der politischen Institutionen in Nordirland überraschend gelobt. Bald darauf forderte er den einstigen politischen Arm der Irisch-Republikanischen Armee (IRA) dazu auf, ihren traditionellen Boykott des britischen Parlaments aufzugeben, um "Irlands willen" bei einer eventuellen Abstimmung dort den Brexit und die May-Regierung zu Fall zu bringen.

Nach Rücktritt von Gerry Adams aus Belfast nach langen Jahren als Sinn-Féin-Präsident dürfte für die neue Parteichefin Mary Lou McDonald aus Dublin die Idee Varadkars nicht so ganz abwegig sein. Ein solcher Schritt wäre jedoch nicht nur historisch, sondern auch mit großen Risiken verbunden. Sinn Féin riskierte, die eigene Wählerschaft zu verprellen. Nähmen die SF-Abgeordneten erstmals an einer Abstimmung im britischen Unterhaus teil, dann nur unter der Voraussetzung, daß ihre sieben Stimmen mit absoluter Sicherheit den erwünschten Erfolg gegen die May-Regierung zeitigte. Das Thema Brexit hat in Großbritannien und Irland die politischen Verhältnisse ganz schön durcheinander gebracht. Die neue Instabilität kann noch eine Weile andauern.

5. März 2018


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