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PARTEIEN/364: Brexit - Vexierspiele ... (SB)


Brexit - Vexierspiele ...


Für die britische Premierministerin Theresa May wurde der EU-Sondergipfel in Salzburg zum peinlichen Fiasko. So brüsk und unfreundlich ist seit Menschengedenken keine britische Spitzenvertreterin auf dem diplomatischen Parkett behandelt worden. Bei der abschließenden Pressekonferenz kurz vor der Abreise aus Österreich wirkte sie dermaßen niedergeschlagen und verunsichert, daß sie sich gleich am nächsten Mittag in London veranlaßt sah, in Number 10 Downing Street eine Fernsehansprache zu halten und darin von den EU-Kollegen "Respekt" einzufordern. Die Willensdemonstration wirkte nicht besonders überzeugend. Der britische Pfund fiel innerhalb weniger Stunden um 1,5 Prozent gegenüber Euro und Dollar - der höchste Tagesverlust seit Beginn des Jahres.

Das Desaster von Salzburg hat May sich selbst zuzuschreiben. Die Kompromißlösung, welche die Premierministerin in Klausur am Amtssitz Chequers im Juli ausgeheckt hat, findet weder in der eigenen konservativen Partei, wo die harten Brexiteers um Ex-Außenminister Boris Johnson weiterhin den Ton angeben, noch im Parlament, wo die oppositionelle Labour-Partei, die schottischen Nationalisten und versprengte Tory-Rebellen zum sanften Brexit einschließlich Verbleib in der Zollunion mit der EU tendieren, Rückhalt. Auch EU-Chefunterhändler Michel Barnier aus Frankreich hatte schwerwiegende Bedenken bezüglich des Chequers-Plans, vor allem wegen der Absicht des Vereinigten Königreichs, weiterhin dem Binnenmarkt für Güter anzugehören, jedoch in Sachen Dienstleistungen eigene Wege zu gehen, geäußert. Und trotzdem hat May in Salzburg versucht, den anderen 27 Amtskollegen die Bedingungen zu diktieren.

Sowohl im Gastbeitrag bei der Tageszeitung Die Welt als auch bei der Ansprache in der Premierministerrunde nach dem Abendessen am 19. September hat May den Amtskollegen erklärt, sie könnten lediglich zwischen dem Chequers-Plan und dem "No-Deal", dem Austritt des UK aus der EU ohne vorherige Einigung über die künftigen Beziehungen, wählen. Doch der Bluff wurde durchschaut. Die EU-Partner entschieden sich für letzteres in der Gewißheit, wegen der absehbaren schweren Schäden für die britische Wirtschaft sei der No-Deal auf der Insel politisch noch weniger durchsetzbar als der Chequers-Plan. Für große Verärgerung in Salzburg hat auch Mays Offenbarung gegenüber dem irischen Premierminister Leo Varadkar beim bilateralen Treffen am Vormittag des 20. September gesorgt, wonach sich London nicht - trotz früherer Zusicherungen - in der Lage sehe, bis Oktober eine Lösung für die extrem schwierige Frage der künftigen Handhabung der Grenze zwischen der Republik Irland und Nordirland vorzulegen.

Damit hatte London die Geduld der europäischen Noch-Partner endgültig überstrapaziert. Aus Sorge um ein Wiederaufflammen der paramilitärischen Gewalt in der Unruheprovinz beharren Dublin und Brüssel darauf, daß es auch nach dem Brexit keine Grenzinstallationen zwischen Derry und Dundalk geben darf. London hat diese Bedingung, die sich logischerweise aus dem Karfreitagsabkommen von 1998 ergibt, akzeptiert, weigert sich jedoch die Konsequenzen zu ziehen. Sie lauten: Grenzkontrollen an den See- und Flughäfen; doch nämliche Lösung kann May wegen des Widerstands der protestantischen pro-britischen Democratic Unionist Party (DUP), deren zehn Abgeordneten im Unterhaus ihre Minderheitsregierung an der Macht halten und die eine Schwächung der Bindung zu Großbritannien kategorisch ablehnen, nicht durchsetzen. Die andere Option - Verbleib des Vereinigten Königreichs im EU-Binnenmarkt - lassen die harten Brexiteers nicht zu. Daher der hochkomplizierte Chequers-Plan, von dem niemand weiß, vermutlich nicht einmal Theresa May, wie er funktionieren soll.

Um der bedrängten Regierung an der Themse entgegenzukommen, hatte sich Barnier in den letzten Wochen um eine "Entdramatisierung" der irischen Grenzfrage bemüht und Kompromißideen wie elektronische Handelsüberwachung, stichpunktartige Zollkontrollen bei Versandhäusern und Fabriken und lediglich Veterinärinspektionen bei Tiertransporten über die Irische See, die bereits jetzt schon durchgeführt werden, ventiliert. Dessen ungeachtet hat May mit der Forderung nach einer Entscheidung zwischen Chequers-Plan und No-Deal die eigene Verhandlungsposition vollkommen überschätzt. Das kann man verzeihen. Was aber nicht verziehen werden konnte, war Londons Weigerung, an einer Beilegung der irischen Grenzproblematik mitzuwirken. Dies erklärt auch die rüde Abfuhr, die der britischen Delegation am 20. September zuteil wurde. Der luxemburgische EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker machte sich über die Möglichkeit eines "No-Deals" mit dem Liedzitat "Don't worry, be happy" lustig. Frankreichs Präsident Emmanuel Macron beschimpfte die harten Brexiteers offen als "Lügner", die ihr Volk vor zwei Jahren mit hohlen Versprechungen gezielt in die Irre geführt hätten. Der polnische EU-Ratspräsident Donald Tusk teilte May vor der Abreise mit, sie müsse bis zum nächsten Gipfeltreffen Mitte Oktober einen brauchbaren Vorschlag für die irische Grenzfrage vorlegen, sonst beriefe er das für November geplante Treffen zur Verabschiedung eines Vertragsergebnisses gar nicht erst ein, denn es hätte keinen Sinn.

In Großbritannien hat die hilf- und glücklose Figur, die May in Salzburg abgegeben hat, die Brexit-Krise nur noch weiter verschärft. Nach dem Nein der EU-27 zum Chequers-Plan drängen nun die harten Brexiteers auf ein Freihandelsabkommen mit Brüssel ähnlich dem mit Kanada. Der Vorschlag zeugt von Wirklichkeitsverweigerung. Solche Freihandelsverträge auszuhandeln dauert bekanntlich Jahre; der Brexit tritt wegen Mays letztjähriger, undurchdachter Aktivierung von Artikel 50 des Lissabon-Vertrages in etwas mehr als sechs Monaten in Kraft. Wegen des engen Zeitraums und der Vielzahl der ungelösten Probleme treten deshalb immer mehr Politiker und Medienkommentatoren für einen Beitritt des Vereinigten Königreichs zur Europäischen Freihandelsassoziation, in der sich bereits Island, Liechtenstein, Norwegen und die Schweiz befinden und die weitreichenden Zugang zu EU-Binnenmarkt und -Zollunion gewährt, ein.

Am 23. September hat in Liverpool der diesjährige Parteitag der britischen Sozialdemokraten begonnen. Über drei Tage wollen 13.000 Labour-Mitglieder unter anderem über Brexit und die Möglichkeit einer zweiten Volksbefragung diskutieren. Die Parteiführung um Jeremy Corbyn weigert sich bisher aus berechtigter Kritik am neoliberalen Kurs der EU, sich für eine zweite Abstimmung stark zu machen. Schließlich waren es vor allem die vielen minderprivilegierten Menschen in den Labour-Hochburgen, die im Juni 2016 für die Mehrheit zum Brexit gesorgt hatten. Corbyn und Schatten-Finanzminister John McDonnell möchten selbstverständlich mit einem Plädoyer für den Verbleib in der EU nicht die eigene Wählerschaft gegen sich aufbringen.

Doch möglicherweise müssen sie das gar nicht. Die absehbaren Auswirkungen eines No-Deals - explodierende Lebensmittelpreise, gesellschaftliche Unruhen, steigende Arbeitslosigkeit - und die immer deutlicher werdenden Absichten der harten Brexiteers, so schnell wie möglich die ganzen EU-Vorschriften in den Bereichen Arbeitsschutz, Sozialgesetzgebung und Umweltstandards über Bord zu werfen, haben dazu geführt, daß inzwischen eine große Mehrheit der Labour-Wähler - nach letzten Umfragen 86 Prozent - für ein zweites Referendum sind. Nach Angaben des demoskopischen Instituts YouGov würde der Eintritt für eine zweite Volksbefragung Labour bei vorgezogenen Parlamentswahlen, die wegen der Instabilität der May-Regierung jederzeit möglich sind, 1,5 Millionen zusätzliche Stimmen einbringen und ihr zu einer Abgeordnetenmehrheit im Unterhaus verhelfen. Wenn das Corbyn und McDonnell nicht zu denken gibt ...

24. September 2018


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