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PARTEIEN/371: Brexit - auf Schlingerkurs ... (SB)


Brexit - auf Schlingerkurs ...


Am heutigen 7. Februar traf Theresa May in Brüssel mit dem EU-Kommissionspräsidenten Jean-Claude Juncker zusammen. In Sachen Brexit war die Stunde der Wahrheit gekommen. Gestützt auf das Votum einer knappen Regierungsmehrheit im britischen Unterhaus trug May ihr Anliegen, Neuverhandlungen des Abkommens über den Austritt des Vereinigten Königreichs Großbritanniens und Nordirlands aus der Europäischen Union, vor allem die Streichung des sogenannten Backstop in bezug auf die innerirische Grenze, nach Angaben der Pressestelle von Number 10 Downing Street "robust" vor. Wie vor ihm EU-Chefunterhändler Michel Barnier und dessen Stellvertreterin Sabine Weyand blieb Juncker hart. Neue Verhandlungen kämen nicht in Frage, am Backstop werde festgehalten. Daraufhin haben May und Juncker vereinbart, sich Ende Februar erneut zu treffen. Bis dahin sollen die Verhandlungsdelegationen Londons und Brüssels versuchen, einen ergänzenden Passus zur politischen Begleiterklärung zum Withdrawal Agreement zu formulieren, welche die Ängste der Regierung Großbritanniens, das Land werde durch den Backstop für immer an Zollunion und Binnenmarkt rechtlich gebunden sein, zerstreuen soll.

Entgegen des ersten Eindrucks, in Sachen Brexit werde einfach erneut auf Zeit gespielt, waren hier die wichtigsten Würfel gefallen. Wie der langjährige Politkorrespondent der BBC Robert Peston gleich nach dem Treffen May-Juncker per Twitter richtig feststellte, hatte sich die Premierministerin gerade endgültig von der Gefangenschaft durch die harten Brexiteers in der eigenen konservativen Partei, vertreten vor allem durch die European Research Group (ERG) um Jacob-Rees Mogg, sowie bei der fundamentalistisch-protestantischen Democratic Unionist Party (DUP) aus Nordirland befreit. Diese Kräfte beharrten bis zuletzt auf die Streichung des Backstop angeblich aus Angst, diese jene Garantie, auch nach dem Brexit keine handels- oder ordnungspolitischen Differenzen zwischen Nordirland und dem EU-Mitgliedsstaat Republik Irland aufkommen zu lassen, käme der schleichenden Wiedervereinigung der grünen Insel gleich.

In den letzten Tagen war zunehmend klar geworden, daß ein Festhalten am kompromißlosen Kurs von ERG und DUP gegenüber Brüssel zwangsläufig zum No-Deal-Brexit am Austrittsdatum, dem 29. März, führen und das Vereinigte Königreich damit in eine wirtschaftliche und politische Katastrophe stürzen müßte. Verschiedene Schreckensmeldungen haben den Ernst der Lage verdeutlicht. Hierzu gehörten die Existenz eines Notfallplans, Königin Elizabeth II bei einem eventuellen Zusammenbruch der öffentlichen Ordnung außer Landes zu bringen, die Entscheidung des japanischen Autoherstellers Nissan, den neuen X-Trail-Allradwagen nicht mehr wie ursprünglich beabsichtigt in seiner Fabrik im nordenglischen Sunderland zu bauen, sowie Berichte über eine drohende Medikamenten- und Lebensmittelknappheit.

Am 5. und 6. Februar verbrachte May zwei Tage in Nordirland, wo sie bei Treffen mit Politikern, Geschäftsleuten und Vertretern zivilgesellschaftlicher Gruppen ohne nennenswerten Erfolg für "ihren" Austrittsvertrag samt Revidierung des Backstop warb. Daß die nationalistische Sinn Féin ein baldestmögliches Referendum über die Wiedervereinigung Nordirlands mit der Republik bzw. als Minimum ein Festhalten am Backstop verlangen würde, war von vornherein klar. Wenig überraschend dürfte für May auch die Enttäuschung gewesen sein, die ihr viele protestantische Unternehmer und Bauern entgegenbrachten. Diese hatten sich im Dezember und Januar öffentlich für Mays Austrittsdeal samt Backstop stark gemacht und waren dafür von der DUP-Führung als Verräter an der unionistischen Sache beschimpft worden, nur um Ende Januar mitansehen zu müssen, wie die Premierministerin bei der entscheidenden Abstimmung im Unterhaus vor den ERG-Hinterbänklern und der zehnköpfigen Fraktion der Democratic Unionists eingeknickt war.

Irgendwie scheint sich May während des 48stündigen Besuchs in der einstigen Unruheprovinz auf ihre Verantwortung für den Frieden in Nordirland besonnen und dafür entschieden zu haben, daß er wichtiger als der Zusammenhalt ihrer konservativen Partei bzw. deren aktuelle Allianz mit der DUP sei. Noch während in London die harten Brexiteers mit Hilfe des japanischen Konzern Fujitsu an einem High-Tech-Ersatz für eine feste Grenzanlage bastelten, erklärte May bei ihrer wichtigsten Rede in Belfast, ihre Regierung werde "nichts unternehmen", was den Frieden in Nordirland und den reibungslosen Personen- und Warenverkehr auf der Insel gefährden könnte. Zwar erwähnte May erneut den Backstop, aber diesmal sprach sie plötzlich von der Notwendigkeit, die Garantie "zu ändern" - und nicht mehr, wie von ERG und der DUP verlangt, davon, sie in Verhandlungen mit Brüssel gänzlich abzuschaffen. Bei den harten Brexiteers witterte man sofort Verrat. Aus London wurde im Nu gemeldet, May habe mit der Belfaster Rede den Burgfrieden bei den Tories zerstört, in den eigenen Reihen werde erneut über einen Putsch gegen sie nachgedacht.

Doch inzwischen deutet alles darauf hin, daß die Chaostruppe um Rees-Mogg, Ex-Außenminister Boris Johnson, Ex-Brexit-Minister David Davis, Handelsminister Liam Fox und ihre Kumpane bei der DUP in Sachen Brexit ausgedient hat. Noch am Abend des 6. Februar hat Jeremy Corbyn, Chef der oppositionellen Labour-Partei, May ein schriftliches Angebot gemacht, wie sie mit Hilfe der Sozialdemokraten im Unterhaus das "Withdrawal Agreement" parlamentarisch über die Bühne bringen könne - notfalls auch gegen die 140 Stimmen der Tory-Rebellen und der zehnköpfigen DUP-Unterhausfraktion. Der Corbyn-Plan sieht Verbleib des Vereinigten Königreichs in der Zollunion und größtmögliche Nähe zum Binnenmarkt vor. Mit diesem Angebot in der Tasche reiste May nach Brüssel, um mit Juncker über einen Ausweg aus der Krise zu diskutieren.

Die totale Niederlage der harten Brexiteers aus England und ihrer unionistischen Kumpane aus Nordirland war bereits am Nachmittag des 6. Februar sichtbar, als EU-Ratsvorsitzender Donald Tusk und der irische Premierminister Leo Varadkar nach einem Arbeitstreffen in Brüssel eine Pressekonferenz abhielten. Bei diesem Anlaß hob Tusk die existentielle Bedeutung der EU als friedensstiftende, kriegsverhindernde Institution hervor, um dann vor versammelter Presse über die Frage zu sinnieren, welcher "besondere Ort in der Hölle" denjenigen vorbehalten sei, die "für den Brexit Stimmung gemacht haben, ohne auch nur die Idee eines Plans zu haben, wie man ihn umsetzt". Die Brexit-Befürworter reagierten beleidigt und empört auf die undiplomatischen Worte des ehemaligen polnischen Premierministers - DUP-Brexit-Sprecher Sammy Wilson beschimpfte ihn sogar als "dämonischen, dreizackschwingenden Eurofanatiker". Doch keiner von ihnen konnte den Vorwurf entkräften, den Brexit ohne jeden Plan seiner Umsetzung angezettelt zu haben. Für die Planlosigkeit und völlig unrealistischen Erwartungen der Brexiteers sprechen auch jüngste Stellungnahmen führender Mitglieder des amerikanischen Kongresses, wonach sich die Briten bei einer Beeinträchtigung des Friedens in Irland, an dessen Zustandekommen bekanntlich Washington unter der damaligen Führung Bill Clintons so energisch mitgewirkt hat, durch den Brexit jedes Freihandelsabkommen mit den USA abschminken könnten.

7. Februar 2019


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