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PARTEIEN/373: Brexit - Krebsgang der Geschichte ... (SB)


Brexit - Krebsgang der Geschichte ...


Bereits jetzt macht in Großbritannien die Rede von Theresa May als schlechteste Premierministerin aller Zeiten die Runde. Das hat einen einfachen Grund. Nach dem Einzug in Number 10 Downing Street im Sommer 2016, nach dem plötzlichen Rücktritt David Camerons in Reaktion auf das überraschende Votum einer Mehrheit der britischen Bürger für den Austritt aus der EU, hat sich May auf einen "harten Brexit" festgelegt und damit dem Verbleib des Vereinigten Königreichs Großbritannien und Nordirland in Zollunion und Binnenmarkt eine kategorische Absage erteilt. Im März 2017 hat sie voreilig Artikel 50 des Lissaboner Vertrags und damit das Austrittsdatum 29. März 2019 aktiviert. Beim unnötigen Versuch, zusätzliche öffentliche Unterstützung für ihren wenig kompromißbereiten Kurs bei den Verhandlungen mit der EU zu erhalten, hat die Chefin der konservativen Partei für jenen Mai vorzeitige Neuwahlen anberaumt, sich dabei politisch total verkalkuliert und am Ende die absolute Mehrheit im Unterhaus, die sie von Cameron geerbt hatte, verspielt.

Dadurch sah sich May im Juni 2017 gezwungen, für eine Milliarde Pfund zusätzlicher Subventionen für Nordirland die Stimmen der zehn Unterhausabgeordneten der dortigen, reaktionär-protestantischen Democratic Unionist Party zu kaufen. Seitdem bemüht sich die Tory-Vorsitzende vergeblich, mit Brüssel einen Deal auszuhandeln, der DUP und ihre euroskeptischen Freunde bei der einflußreichen European Research Group (ERG) innerhalb der konservativen Partei zufriedenstellt. ERG und DUP insistieren auf den Austritt aus Zollunion und Binnenmarkt und wollen partout nicht einsehen, daß eine solche Situation unweigerlich zu einer harten Grenze zwischen Nordirland und der Republik Irland führen muß. Damit wäre Großbritannien im Sinne der von London im Rahmen des Karfreitagsabkommens von 1998 gemachten Zusicherungen vertragsbrüchig geworden. Um jenes Szenario einschließlich eines Wiederaufflammens des Nordirlandkonflikts zu vermeiden, beharren die EU-27 auf den sogenannten Backstop, den Brüssels im Dezember 2018 als Teil eines Austrittsvertrags mit May ausgehandelt hat.

Ende Januar hat May beim Votum über ihren Brexit-Deal die mit Abstand schwerste Niederlage in der parlamentarischen Geschichte Großbritanniens erlitten. Dagegen votierten nicht nur die gesamte Opposition aus Sozialdemokraten, Liberaldemokraten und schottischen Nationalisten, weil das Verhandlungsergebnis das Vereinigte Königreich zu stark von der EU distanziert, sondern auch die DUP-10 sowie rund 130 Tory-Rebellen, letztere um ihren Protest gegen den Backstop zu demonstrieren. Die harten Brexiteers befürchten, nicht ganz zu Unrecht, daß der Backstop entweder Nordirland enger an die Republik Irland binden oder das Vereinigte Königreich als ganzes dauerhaft in der Zollunion mit der EU behält. Seit Anfang Februar treten die von May erbetenen Nachverhandlungen zwischen London und Brüssel auf der Stelle. London verlangt Zugeständnisse von Brüssel, doch die EU-27 sehen sich dazu nicht veranlaßt, weil die britische Regierungschefin ihnen im Gegenzug nicht garantieren kann, dafür im Palast von Westminster eine Mehrheit dafür zu bekommen. In Brüssel und den anderen europäischen Hauptstädten nimmt niemand May mehr ernst, weil sie sich seit mehr als zwei Jahren weigert, das Wohl des Landes über das der eigenen Partei zu stellen und endlich die ERG in ihre Schranken zu weisen, selbst auf die Gefahr hin, daß dies die Tories spaltet.

In weiten Teilen Großbritanniens und Nordirlands macht sich inzwischen Angst breit, May spiele auf Zeit, damit in den wenigen verbliebenen Wochen keine Einigung mit Brüssel zustande kommt und das Vereinigte Königreich Ende März doch noch in den ungeordneten EU-Austritt hineintaumelt. Offiziellen Schätzungen zufolge wären verheerende Auswirkungen zu erwarten, darunter Lebensmittelknappheit und ein Einbruch der Leistung der britischen Volkswirtschaft um sechs bis neun Prozent für mindestens die nächsten 15 Jahre. Die zunehmende Panikstimmung hat dazu geführt, daß am 11. Februar sieben Abgeordnete aus der Labour-Partei ausgetreten sind, um eine neue politische Gruppierung zu bilden. Bei den sieben Politikern handelt es sich allesamt um ausgesprochene Gegner von Jeremy Corbyn, die dem Labour-Vorsitzenden ständig vorwerfen, erstens nicht genug gegen die Brexit-Pläne Mays zu unternehmen und zweitens zu israel-kritisch und pro-palästinensisch zu sein. Am 12. Februar schlossen sich drei konservative Hinterbänkler der neuen "Independent Group" an und begründeten ihre Entscheidung mit dem Chaos-Kurs Mays in Sachen Brexit.

Die Austrittswelle hat sich seitdem sowohl bei Labour als auch bei den Konservativen fortgesetzt. Corbyn hat als erster darauf reagiert und sich endlich zur Abhaltung einer zweiten Volksbefragung zum Thema EU-Austritt durchgerungen. Erst nachdem May parteiintern mit einem Aufstand von bis zu zwei Dutzend Ministern gedroht wurde, hat die Premierministerin eingelenkt. Laut einer Stellungnahme Mays vom 26. Februar soll das Unterhaus am 12. März über den Withdrawal Deal mit Brüssel - von dem niemand erwartet, daß es bis dahin essentielle Veränderungen am Backstop enthalten wird - abstimmen. Erhält die Vereinbarung keine Mehrheit, womit alle Beobachter rechnen, soll am darauffolgenden Tag über den ungeordneten Austritt, den No-Deal-Brexit, abgestimmt werden. Davon ausgehend, daß dafür niemand außer der kleinen Minderheit der englischen Anti-EU-Fanatiker bei den Tories stimmen wird, soll am 14. März das Unterhaus über eine Verschiebung des Austrittsdatums beraten und entscheiden.

Während May für eine Verlängerung der Frist, um den Brexit unter Dach und Fach zu bekommen, von lediglich drei Monaten plädiert, insistieren die Sachkundigen wegen der Kompliziertheit der Materie auf 21 Monate, also bis Ende 2021. Doch bereits jetzt droht Frankreich mit einem Veto. Präsident Emmanuel Macron macht eine Verschiebung des Austrittsdatums davon abhängig, daß die politischen Akteure an der Themse endlich ihre Dauerquerelen beenden und sich auf eine Position einigen, die mehrheitsfähig ist und mit der man in Brüssel etwas anfangen kann. Vieles deutet darauf hin, daß die Mehrheit im Unterhaus rechtzeitig die Notbremse zieht, um den No-Deal-Brexit doch noch zu vermeiden und das Austrittsdatum zu verschieben. Sollte dieser Kraftakt gelingen, werden die Karten sicherlich neu gemischt. Mit Neuwahlen und eventuell einer zweiten Abstimmung über Austritt oder Verbleib des Vereinigten Königreichs in der EU ist zu rechnen. Bis Theresa May und ihr Mann die Möbelpacker in die Downing Street bestellen, dauert es sicherlich nicht mehr lange.

28. Februar 2019


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