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PARTEIEN/375: Brexit - Mays verlorener Posten ... (SB)


Brexit - Mays verlorener Posten ...


Mit Erstaunen und Erschrecken verfolgen politische Beobachter im Vereinigten Königreich wie auch die Diplomaten im restlichen Europa den völlig chaotischen Versuch des Parlaments in London, das Votum des britischen Volkes vom Juni 2016 für einen Austritt Großbritanniens und Nordirlands aus der EU in die Tat umzusetzen. Bei der ersten Abstimmung am 15. Januar über das nach zweijährigen Verhandlungen vor Weihnachten mit Brüssel vereinbarte Austrittsabkommen hat die konservative Minderheitsregierung von Premierministerin Theresa May mit 432 zu 202 Stimmen - ein Minus von 230 - die schwerste Niederlage in der parlamentarischen Geschichte ihres Landes erlitten. Am 12. März hat May das Unterhaus erneut abstimmen lassen und wieder verloren - 242 zu 291 -, diesmal mit einem Minus von nur 149 Stimmen. Des weiteren hat May am darauffolgenden Tag eine Abstimmung verloren, bei der es darum ging, den ungeordneten Austritt aus der EU "vom Tisch zu nehmen".

Gegen den Willen der Premierministerin und konservativen Parteivorsitzenden, die mit der Drohung des sogenannten No-Deal-Brexits Brüssel zu Zugeständnissen zwingen zu können glaubt, stimmten 312 Abgeordnete für die Resolution und 308 dagegen. Die Mehrheit für die Opposition kam deshalb zustande, weil zahlreiche Abweichler in den Reihen der Tories, darunter mehrere Minister und Staatssekretäre - und das trotz ausdrücklichen Fraktionszwangs - entweder gegen die No-Deal-Option votierten oder sich der Stimme enthielten. May, die längst als politische Leiche gilt, kann die Rebellen für ihr demonstrativ illoyales Verhalten nicht einmal bestrafen. Normalerweise wird das Ausscheren eines Regierungsmitglieds aus der Linie des eigenen Kabinetts mit der Verbannung auf die Hinterbänke bestraft. Doch dazu ist May unfähig. Ihre Autorität ist dahin. Sie darf lediglich das Brexit-Kreuz bis zum ungeordneten Austritt am 29. März oder aber einer Einigung zwischen London und Brüssel über das weitere Vorgehen tragen. Danach wird sie Number 10 Downing Street räumen müssen. Der Machtkampf um ihre Nachfolge ist längst ausgebrochen. Ex-Außenminister Boris Johnson, der sich deshalb extra einen ordentlichen Haarschnitt verpassen ließ und mittels Joggen einige Pfunde abgespeckt hat, gilt als Favorit.

May war am 11. März, sozusagen in letzter Minute, nach Brüssel geflogen, um vom EU-Kommissionsvorsitzenden Jean-Claude Juncker und dem EU-Chefunterhändler Michel Barnier Zusicherungen zu erhalten, mit denen sie am nächsten Tag das Withdrawal Agreement doch noch durch das Unterhaus bekommen könnte. Hauptproblem war und ist die Backstop-Klausel, die auch nach dem EU-Austritt die Entstehung einer harten Grenze zwischen Nordirland und der Republik Irland verhindern sollte. May hatte den Backstop mit Brüssel vereinbart, doch haben im Januar rund 130 harte Brexiteers bei den Konservativen sowie die zehn Abgeordneten der protestantisch-fundamentalistischen Democratic Unionist Party (DUP) aus Nordirland gegen das Austrittsabkommen votiert aus angeblicher Sorge, der Backstop könnte das Vereinigte Königreich auf ewig in einer Zollunion mit der EU halten.

Eine schriftliche Zusage seitens der EU, daß dies nicht der Fall sei, hat bei der zweiten Abstimmung den Europhoben bei den Tories und der DUP nicht gereicht. Entscheidend war bei der Debatte die Aussage des britischen Justizministers Geoffrey Cox, der im Unterhaus erklärte, er sehe keinen rechtlichen Weg, wie das Vereinigte Königreich den Backstop abschütteln und damit die Zollunion verlassen könne, solange eine Lösung für die irische Grenzfrage nicht gefunden worden sei. Interessant waren daher die 1477seitigen Pläne Londons für die Regulation der britischen Grenzen im Fall eines ungeordneten Austritts, die am 13. März veröffentlicht wurden. In einer solchen Situation will die May-Regierung die Zolltarife für alle nicht-europäischen Länder praktisch auf Null setzen. Die Zölle für landwirtschaftliche Güter aus der EU sollen hingegen drastisch erhöht werden - um auf diesem Weg Irland, dessen Bauern und landwirtschaftliche Unternehmen rund die Hälfte ihrer Fleisch- und Molkereiprodukte nach Großbritannien exportieren, zu erpressen.

London kündigte zudem an, keine Zollkontrollen in Irland selbst, sondern bestenfalls zwischen der Grünen Insel und dem britischen Festland - sozusagen in der Irischen See - durchführen zu wollen. Dagegen war erstaunlicherweise kein einziger Protest seitens der DUP zu hören, obwohl gerade deren Vertreter seit über einem Jahr die Brexit-Verhandlungen mit der hysterischen Forderung blockieren, Nordirland dürfe künftig auf gar keinem Fall anders behandelt werden als das restliche Königreich. Um zu verhindern, daß die Republik zum Einfallstor für billige Waren aus Großbritannien und der restlichen Welt werde, müßte die EU selbst für Zollkontrollen sorgen, wenn nicht zwischen den 26 Grafschaften der Republik und den sechs im irischen Nordosten, dann spätestens an den Seehäfen Irlands, Spaniens, Frankreich, Belgiens und der Niederlande.

Doch möglicherweise kommt es gar nicht soweit. Nach dem Votum des Unterhauses gegen den No-Deal-Brexit finden bereits Verhandlungen zwischen der May-Regierung auf der einen und den harten Brexiteers von der European Research Group (ERG) sowie der DUP auf der anderen Seite statt, wie man nächste Woche bei einer dritten Abstimmung das Withdrawal Agreement doch noch verabschiedet bekommt. Berichten zufolge bastelt Justizminister Cox bereits an einer "Optimierung" seiner letzten Expertise. Demnach dürfte das Vereinigte Königreich den Backstop doch noch eigenhändig mit der Behauptung aufkündigen, die EU handele nicht in gutem Glauben gemäß dem Wiener-Abkommen von 1962, das zwischenstaatliche Verträge regelt, sondern übe auf unzulässige Weise Zwang auf London aus. Auf die Frage eines Journalisten, warum Cox nicht bereits bei seinem Auftritt vor zwei Tagen im Unterhaus auf diese Möglichkeit hingewiesen hat, lautet die lapidare Antwort eines anonymen Kabinettskollegen: "Inkompetenz".

Am heutigen Abend soll das Unterhaus über eine weitere Resolution der Regierung abstimmen, bei der es darum geht, die EU um eine Verschiebung des Austrittsdatums zu bitten, um katastrophale Folgen im innereuropäischen Handel und Reiseverkehr Ende März zu vermeiden. Mit einer satten Mehrheit für die Resolution wird gerechnet. Doch ob die EU der Bitte folgt ist eine andere Frage. Bei den restlichen EU-27 ist man von dem politischen Zirkus, der sich seit mehr als zwei Jahren an der Themse abspielt, reichlich genervt. EU-Chefunterhändler Barnier lehnt ein Aufschnüren des Austrittsabkommens kategorisch ab. Seine deutsche Stellvertreterin Sabine Weyand hat per Twitter gewitzelt, die jüngste Entscheidung des Unterhauses gegen den No-Deal-Brexit sei mit einem Votum auf der Titanic, der Eisberg möge aus dem Weg gehen, vergleichbar.

Zudem gibt es praktische Gründe, die gegen eine Brexit-Verschiebung sprechen. Ende Mai finden Wahlen zum EU-Parlament statt. Wird der Brexit verschoben, müßten die Briten daran teilnehmen, sonst verstieße die Zusammensetzung des Gremiums später gegen die EU-Verträge. Doch eine Teilnahme Großbritanniens an der EU-Wahl lehnen viele überzeugte Europäer ab. In einem Interview im Heute Journal des Zweiten Deutschen Fernsehens am 12. März warnte Manfred Weber, bayrischer Spitzenkandidat der Europäischen Volkspartei bei der EU-Wahl, vor einem Übergreifen des politischen Chaos-Bazillus von London auf Brüssel und Strasbourg. Doch möglicherweise ist es bereits zu spät. Medienberichten zufolge haben Nigel Farage von der United Kingdom Independence Party (UKIP) und Aaron Banks, 2016 Hauptfinanzier der Brexit-Kampagne, bereits Kontakt mit Matteo Salvini, Innenminister Italiens und Kopf der neofaschistischen Lega, aufgenommen, damit bei der entscheidenden Sitzung des Europäischen Rats am 21. März Rom sein Veto gegen eine Aufschiebung des Brexits einlegt. Auch wenn es momentan nicht danach aussieht ist die Gefahr eines ungeordneten Brexits nach wie vor groß.

14. März 2019


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