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PARTEIEN/377: Brexit - die Entscheidungsschlacht ... (SB)


Brexit - die Entscheidungsschlacht...


In Brüssel schrillen bereits die Alarmglocken in Sachen Brexit. Am 3. April haben getrennt voneinander sowohl EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker als auch der französische Präsident Emmanuel Macron die Einschätzung abgegeben, daß der ungeordnete Austritt des Vereinigten Königreichs Großbritannien und Nordirland aus der Europäischen Union um 24 Uhr des 12. April "sehr wahrscheinlich" sei. Und das trotz oder gerade wegen des gestrigen Angebots der britischen Premierministerin Theresa May an Oppositionsführer Jeremy Corbyn, gemeinsam einen gangbaren Weg aus der aktuellen Krise zu finden, der im Unterhaus zu London eine Mehrheit finden und zugleich bei den anderen 27 EU-Staaten akzeptabel sein soll. Leider liegen Juncker und Macron mit ihrer pessimistischen Prognose richtig. Grund dafür ist die Entscheidung Mays, das Wohl ihrer konservativen Partei stets über das ihres Landes zu stellen. Von diesem Prinzip ist die Tory-Chefin während ihrer fast drei Jahre in Number 10 Downing Street nicht abgewichen - gestern eingeschlossen.

In dem Amtssitz der britischen Premierministerin fand am 2. April eine siebenstündige Marathonsitzung des Kabinetts statt, bei der May und ihre 23 konservativen Parteikollegen eine Einigung über das weitere Vorgehen erzielen wollten. Dem Treffen waren zehn Tage Chaos im Parlament vorausgegangen, im Rahmen dessen das von May mit Brüssel ausgehandelte Austrittsabkommen zum dritten Mal und weitere 12 überparteiliche Kompromißvorschläge - darunter Zollunion, zweites Referendum, Aussetzung des Austrittsdatums nach Artikel 50 des Lissaboner Vertrags et cetera - gescheitert sind. Bei der Kabinettssitzung sollen Presseberichten zufolge die Fetzen so richtig geflogen sein und sich die Brexitbefürworter und -gegner gegenseitig für die aktuelle Misere verantwortlich gemacht haben. Ganz am Ende der Diskussion soll May, angeblich ganz überraschend, ihre Absicht bekundet haben, Corbyn ins Boot zu holen. Danach verlangte sie und erreichte die Aushändigung aller Mobiltelefone ihrer Minister, bis sie eine Rede ans Volk über die neueste Entwicklung gehalten hat.

Nach kurzer Zeit hat sich der Vorsitzende der britischen Sozialdemokraten bereit erklärt, mit May an einer Beilegung der Brexit-Krise mitzuwirken. Da stellt sich die Frage, warum nicht nur Juncker und Macron, sondern die meisten politischen Beobachter in London keine Hoffnung auf die kommenden May-Corbyn-Gespräche setzen. Die Erklärung ist einfach. Wäre das Mitwirkungsangebot Mays ernst gemeint, hätte es im Anschluß an die Sitzung in der Downing Street zum Rücktritt der harten Brexiteers im Kabinett kommen müssen. Schließlich treten Corbyn und die Labour Party für einen Verbleib des Vereinigten Königreichs in der Zollunion mit der EU sowie für die größtmögliche regulatorische Nähe zum europäischen Binnenmarkt ein, um die Personenfreizügigkeit sowie hohe Standards in den Bereichen Arbeitsrecht und Umweltschutz zu gewährleisten. Gerade die Abschaffung derlei Schutzmechanismen ist es, worauf die harten Brexiteers zielen.

Die Tatsache, daß in den letzten 24 Stunden lediglich zwei Staatssekretäre, jedoch keine prominenten Brexiteers wie Handelsminister Liam Fox oder Transportminister Chris Grayling zurückgetreten sind, deutet darauf hin, daß das Gesprächsangebot Mays eine Finte ist, die Kompromißbereitschaft und Einigungswillen suggerieren soll, wo nichts dergleichen existiert. Eine Twittermeldung Nicola Sturgeons nach einem eigenen Treffen mit Corbyn, wonach am 3. April die schottische Premierministerin meinte, sie wäre "sehr enttäuscht", sollte sich der Labour-Chef mit den Minimalzugeständnissen Mays zufriedengeben, verstärkt den Verdacht, daß man es hier mit nur noch mehr politischem Theater zu tun hat, mit dem die konservative Parteichefin weiter auf Zeit spielt, bis ihr Withdrawal Agreement mit Brüssel die einzige Option ist, die den ungeordneten Austritt mit allen katastrophalen Folgen noch verhindern kann.

Lange Zeit hat May den Standpunkt vertreten, daß der "No Deal"-Brexit besser als ein "schlechter Deal" mit Brüssel sei. Bei der gestrigen Rede an die Nation ist sie erstmals davon abgerückt und hat den "No Deal" zum Alptraumszenario erklärt, das unbedingt vermieden werden müsse. Doch meint sie das wirklich? Oder hat sie das Angebot an Corbyn und die Sozialdemokraten lediglich gemacht, um diese nachher für das große Scheitern der Brexit-Verhandlungen mit der EU mitverantwortlich machen zu können?

Interessant in diesem Zusammenhang ist das Verhalten der nordirisch-protestantischen Democratic Unionist Party (DUP), deren zehn Abgeordnete im Unterhaus seit Sommer 2017 das Überleben von Mays Minderheitsregierung sichern. Die Politiker der DUP gehörten von Anfang an zu den eifrigsten Brexit-Befürwortern, weil sie sich vom EU-Austritt eine Zementierung der "teuren Union" Nordirlands mit Großbritannien erhofft haben. Das Gegenteil ist jedoch eingetreten. Ähnlich Schottland hat 2016 eine Mehrheit der Wähler in Nordirland für den Verbleib in der EU gestimmt. Das lautstarke Drängen der DUP in Richtung Brexit hat der längst fälligen Diskussion um die Wiedervereinigung Irlands enormen Auftrieb verliehen.

Die DUP lehnt Mays Austrittsdeal mit der EU deshalb kategorisch ab, weil darin eine ordnungspolitische Übereinstimmung zwischen Nord- und Südirland vorgesehen ist, um Grenz- und Zollkontrollen auf der grünen Insel zu vermeiden. Vor drei Tagen hat der DUP-Fraktionsschef im Unterhaus, Nigel Dodds, vollkommen unerwartet erklärt, seine Partei ziehe den Verbleib in der EU dem Withdrawal Agreement Mays vor, wenn das die einzige Möglichkeit sei, die "Union" zu retten. Bei der DUP, die bei den Brexit-Abstimmungen im britischen Parlament zu allen Resolutionen ohne Ausnahme "Nein" gesagt hat, macht man sich offenbar inzwischen ebenso viele Sorgen, als politischer Querulantenhaufen in die Geschichtsbücher einzugehen, die den nötigen Kompromiß verhindert haben, wie um den Erhalt des Vereinigten Königreichs in seiner heutigen Form.

Interessant war auch die Reaktion der DUP auf Mays Gesprächsangebot an Corbyn. DUP-Chefin Arlene Foster hat die Offerte als "höchst bedauerlich" bezeichnet und ihre Verwunderung zum Ausdruck gebracht, daß die Tories über die Zukunft des Brexit-Projekts mit einem Mann verhandeln wollten, den sie selbst seit Jahren als Marxisten und Pazifisten "dämonisieren". Die Folgen dieser Verteufelung wurden am 3. April auf peinliche Weise sichtbar, als in den sozialen Medien eine Videosequenz auftauchte, in der vier uniformierte Mitglieder des 3. Bataillon des berüchtigten britischen Fallschirmjägerregiments bei einer Schießübung auf ein lebensgroßes Bild von Corbyn zahlreiche Schüsse abgeben. Die Aufnahme soll in Kabul gemacht worden sein. Die Soldaten, gegen die jetzt eifrig ermittelt wird, nehmen lediglich das ernst, was im September 2015, nach der Wahl Corbyns zum Labour-Vorsitzenden, ein ranghohes Mitglied der britischen Generalität anonym gegenüber der Sunday Times erklärt hat. Sollte Labour bei der nächsten Wahl gewinnen und Corbyn Premierminister werden, käme es zu einer "Meuterei" der britischen Streitkräfte, so der Offizier. Damals haben Politik und Medien in Großbritannien die Drohung des Militärs, die demokratische Grundordnung aufzukündigen, einfach durchgehen lassen.

Jedenfalls hat May - mit oder ohne Corbyns Unterstützung - nur noch wenige Tage, um ihren Deal durch das Unterhaus zu bringen, denn auf seiten der EU-27 ist die Geduld mit London am Ende. Reist May erneut mit leeren Händen zum Krisengipfel in Brüssel am 10. April, dann ist seitens der europäischen Amtskollegen wenig Hilfe zu erwarten. Brexit ist ein innenpolitisches Dilemma, in das sich vor allem die Engländer hineinmanövriert haben, und nur sie können es lösen. Die Chancen, daß May um eine Fristverlängerung bittet, geschweige denn eine bekommt, sind gering. Dann zwischen dem 23. und 26. Mai sind EU-Wahlen geplant. Eine Teilnahme der Briten an dem Urnengang ist wegen der aufgeheizten Stimmung im Vereinigten Königreich absolut unvorstellbar.

3. April 2019


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