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PARTEIEN/386: Brexit - die brachiale Strategie des Boris Johnson ... (SB)


Brexit - die brachiale Strategie des Boris Johnson ...


In genau einer Woche, am 22. Juli, wird das Ergebnis des Kampfs um den Vorsitz der konservativen Partei Großbritanniens bekanntgegeben. Zur Teilnahme an der Briefwahl, die inzwischen offiziell abgeschlossen ist, waren 160.000 Parteimitglieder berechtigt. Allen Hinweisen und Umfragen zufolge wird Ex-Außenminister Boris Johnson seinen Kontrahenten und Nachfolger im Foreign and Commonwealth Office, Jeremy Hunt, besiegen. Nach der bisherigen Planung soll am 23. Juli Theresa May zum Buckingham Palace fahren, Königin Elisabeth um die Entlassung als Premierministerin bitten, worauf wenig später die Monarchin Johnson mit der Bildung einer neuen Regierung beauftragen wird. Doch ob die Dinge so ihren Lauf nehmen, ist nicht sicher.

Die Tories haben im Unterhaus keine eigene Mehrheit und verfügen dank der Unterstützung der 10 Abgeordneten der protestantischen Democratic Unionist Party (DUP) aus Nordirland über einen Vorsprung von lediglich vier Sitzen. Wegen Johnsons erklärter Absicht, das Vereinigte Königreich zum 31. Oktober auch ohne eine vertragliche Regelung mit Brüssel aus der Europäischen Union herauszuführen, droht eine ganze Reihe von konservativen Hinterbänklern, darunter solch illustre Namen wie Kenneth Clarke, Ex-Finanzminister, und Dominic Grieve, der ehemalige Justizminister, sich mit der Opposition aus Sozialdemokraten, Liberaldemokraten, Grünen und schottischen Nationalisten zu verbünden, um den No-Deal-Brexit zu stoppen. Wegen der ungeheuren Ankündigung von Johnson, notfalls das Parlament nach der Sommerpause bis November zu "vertagen", um jede weitere Abstimmung in der Brexitfrage zu verhindern und den EU-Austritt automatisch erfolgen zu lassen, hat vor wenigen Tagen der ehemalige konservative Premierminister John Major seinem Nachfolger in spe mit einer Klage vor dem britischen Verfassungsgericht gedroht.

Johnson dürfte zwar mit geschätzten 70 zu 30 Prozent die Tory- Abstimmung gewinnen, doch aus dem parteiinternen Wahlkampf geht er geschwächt und beschädigt hervor. Dies hängt vor allem mit seiner sechsmaligen Weigerung bei der Fernsehdebatte gegen Hunt am 9. Juli zusammen, den britischen Botschafter in Washington, Sir Kim Darroch, vor Kritik seitens des US-Präsidenten Donald Trump in Schutz zu nehmen. Zwei Tage zuvor hatte die Journalistin Isabel Oakeshott in der Boulevardzeitung Mail on Sunday aus vertraulichen Depeschen Darrochs zitiert, in denen dieser zu einer recht negativen, wenig schmeichelhaften Einschätzung der Fähigkeiten Trumps und dessen zerstrittener Administration gekommen war. Daraufhin hatte Trump per Twitter den Vertreter Ihrer königlichen Majestät am Potomac als unfreundlichen, ahnungslosen Deppen hingestellt. Darroch verfolgte aus der britischen Botschaft in Washington die Fernsehdebatte live, stellte das Fehlen jeglicher Rückendeckung durch Johnson fest und sah anschließend keine andere Möglichkeit für sich, als den Rücktritt einzureichen.

Der beispiellose Vorgang hat Entsetzen in Großbritannien ausgelöst, nicht nur im diplomatischen Dienst, sondern auch im Parlament, und zwar über die Parteigrenzen hinweg. Zahlreiche Kommentatoren, darunter der ehemalige konservative Außenminister Sir Malcolm Rifkind, warfen Johnson vor, den eigenen Staatsvertreter im Stich gelassen zu haben, um sich bei Trump lieb Kind zu machen. Der Vorwurf ist nicht von der Hand zu weisen. Die ultranationalistischen Kräfte, die Trump 2016 ins Weiße Haus gespült haben, sehen im Brexit die Chance, die EU schwächen und Großbritannien im übertragenen Sinne zum 51. Bundesstaat der USA machen zu können. Es dürfte kein Zufall sein, daß Oakeshott, welche die Depeschen Darrochs bei der Mail on Sunday veröffentlichte, mit dem Hedgefond-Manager Richard Tice liiert ist, der als Vorsitzender der Brexit-Partei auch zu den engen Vertrauten von Nigel Farage zählt. Trump hat in der Vergangenheit den politischen Querulanten Farage mehrmals öffentlich als potentiellen Botschafter in Washington ins Spiel gebracht. Beim Staatsbesuch in Großbritannien Anfang Juni hat sich der New Yorker Immobilienhai für Johnson als Premierminister ausgesprochen und sich damit auf völlig unzulässige Weise in die britische Innenpolitik eingemischt.

Johnson gilt allgemein und völlig zurecht als Lügenbaron, der sich Sachen ausdenkt und von sich gibt, die nicht unbedingt der Wahrheit entsprechen, ihm jedoch in dem Moment nützlich sind. Damit hat er sich in den neunziger Jahren einen Namen als Brüsseler Korrespondent des konservativen Daily Telegraph gemacht und den Euroskeptizismus daheim in Großbritannien befeuert. An diesen Umstand der grundsätzlichen Unaufrichtigkeit Johnsons klammern sich derzeit in Großbritannien viele Menschen, die hoffen, mit dem ganzen Gerede vom No-Deal-Brexit zu Halloween wolle sich der ehemalige Bürgermeister von London lediglich den Vorsitz bei den Tories sichern. Nach dem Einzug in Number 10 Downing Street, so die weitere Hoffnung, werde der Absolvent der Eliteschule Eton dann doch zu einem Kompromiß mit Brüssel kommen, dessen Aushandlung und Umsetzung möglicherweise länger als drei Monate dauert, die britische Volkswirtschaft dafür aber nicht ins Chaos stürzt.

Ob jene Hoffnungen berechtigt sind, läßt sich aktuell nicht sagen. Interessant sind jedoch die Gerüchte, wonach Johnson möglicherweise eine Lösung für den vertracktesten Zankapfel bei den Brexit-Verhandlungen, nämlich für den irischen "Backstop", gefunden hat. Mit diesem Begriff ist die Regelung gemeint, derzufolge Nordirland auch nach dem Brexit im Binnenmarkt und Zollunion bleibt, damit keine harte Grenze zur Republik Irland entsteht und der Bürgerkrieg von einst nicht wieder ausbricht. Gegen den "Backstop" hat sich die DUP mit dem Argument gesperrt, Nordirland dürfe nicht anders als Großbritannien behandelt werden, sonst werde die "Union" zwischen den beiden Teilen des Vereinigten Königreichs geschwächt, der Entwicklung Richtung Wiedervereinigung Irlands Auftrieb verliehen. Doch angeblich will Johnson die Menschen in Nordirland eventuell selbst über den "Backstop" entscheiden lassen. Votierte eine Mehrheit dafür, bestünde weiterhin die zolltechnische Einheit auf der Insel Irland, dafür erfolgten die Kontrollen des Personen- und Güterverkehrs ausschließlich an den Seehäfen beiderseits der Irischen See.

Bei der Brexit-Volksbefragung hat eine deutliche Mehrheit der Nordiren für den Verbleib in der EU gestimmt. Wegen der zu erwartenden, katastrophalen Auswirkungen eines EU-Austritts besonders für die nordirische Landwirtschaft infolge der Einführung eines harten Grenzregimes auf der grünen Insel wäre mit einer noch größeren Mehrheit für den "Backstop" zu rechnen. Mit seinem Winkelzug käme Johnson dem selbstgesteckten Ziel des EU-Austritts für Großbritannien erheblich näher. Brüssel wäre wegen der Ad-acta-Legung der leidigen Grenzproblematik in Irland sicherlich erleichtert und in der Folge London gegenüber eventuell zu weiteren Zugeständnissen - etwa mit Blick auf den Brexit-Zeitplan - bereit. Die DUP stünde jedoch düpiert da und würde vermutlich ihr Unterstützungsarrangement mit den Tories aufkündigen, was Neuwahlen für das Unterhaus mit sich brächte. Mit dem Brexit in greifbarer Nähe könnte es Johnson gelingen, auch diese Herausforderung zu bestehen und die Wahl zu gewinnen. Daß die kürze Ära der protestantisch-fundamentalistischen DUP als "Königsmacher" im Palast von Westminster an der Seite der Tories zu Ende geht, zeigt jedenfalls das Ergebnis zweier Abstimmungen am 9. Juli: Eine große Mehrheit der Abgeordneten im Unterhaus, darunter zahlreiche Tories, hatten gegen den erklärten Willen der Democratic Unionists für die längst fällige Aufhebung des Abtreibungsverbots und für die Einführung der Ehe für alle in Nordirland gesorgt.

16. Juli 2019


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