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PARTEIEN/395: Brexit - trendierte Wahl ... (SB)


Brexit - trendierte Wahl ...


Heute wählen die Menschen in Großbritannien und Nordirland ein neues Unterhaus. Die Demoskopen prognostizieren einen Sieg der regierenden Konservativen, die mit einer absoluten Mehrheit von rund 30 der insgesamt 650 Sitze die Pläne von Premierminister Boris Johnson zum schnellstmöglichen Austritt des Vereinigten Königreichs aus der Europäischen Union umsetzen könnten. Doch wegen des britischen Mehrheitswahlrechts, demzufolge der Kandidat oder die Kandidatin mit den meisten Stimmen - bei einem großen Teilnehmerfeld häufig weit weniger als 50 Prozent - das Mandat automatisch erhält, kann man sich auf die landesweiten Prozentzahlen der Wahlforscher nicht verlassen. Schaffen es die Brexit-Gegner bei den Sozialdemokraten, Liberaldemokraten, Grünen und schottischen Nationalisten, die eigene Parteiverbundenheit zurückzustellen - wozu die jeweiligen Vorsitzenden dringend geraten haben - und ihre Stimmen dem Kandidaten oder der Kandidatin zu geben, der/die die meisten Chancen hat, den lokalen Vertreter der Tories zu schlagen, dann ist es durchaus möglich, daß die Konservativen die Mehrheit verfehlen und es zu einer von Labour geführten Minderheitsregierung unter dem Vorsitz von Jeremy Corbyn kommt.

Doch ein Sieg Corbyns, der Galionsfigur der sozialdemokratischen Linken in Großbritannien, ist genau das, was das Establishment in Großbritannien - wozu das Militär, die Tories, die Konzernmedien und sogar der Blair-Flügel bei Labour gehören - unbedingt verhindern will. Nicht zuletzt wegen des Vorwurfs, Antisemitismus in den Reihen der Sozialdemokraten zu dulden, machen sowohl die Boulevardpresse als auch die seriösen Zeitungen wie Times und Guardian Corbyn das Leben zur Hölle. Angetrieben wird die medien- und wahltechnisch höchst schädliche Antisemitismus-Debatte bei den Sozialdemokraten von der israelischen Botschaft in London und zionistischen Kreisen innerhalb der Partei selbst, denen Corbyns jahrelanger Einsatz für die Rechte der Palästinenser ein Dorn im Auge ist. Diese Kreise torpedieren seit nunmehr fünf Wochen den laufenden Wahlkampf der eigenen Parteiführung und bereiten sich auf einen Putsch gegen Corbyn nach der von ihnen erhofften Wahlniederlage vor, wie der vom Politblog Guido Fawkes veröffentlichte Mitschnitt eines Telefongesprächs zwischen Labours gesundheitspolitischem Sprecher Jon Ashworth und seinem Tory-Freund und Politberater Greig Baker enthüllte.

Die Führungsrolle bei der Diffamierungskampagne gegen Corbyn spielen die Zeitungen und Fernsehsender des australischen Medienzaren Rupert Murdoch, der seit mehr als 40 Jahren als Intimus u. a. von Ronald Reagan, Margaret Thatcher, Tony Blair und Donald Trump wie keine zweite Person die Politik in seinem Heimatland, in den USA und in Großbritannien in Richtung neoliberaler Raubtierkapitalismus treibt. Am 7. Dezember wartete Murdochs Massenblatt The Sun mit der Gruselgeschichte auf, Corbyn sei die Spinne im Zentrum eines linksextremistischen Netzwerks, das Großbritannien in einen steinzeit-kommunistischen Überwachungsstaat verwandelt wolle. Als Quelle der brisanten Informationen wurde ein nicht namentlich genanntes - und vermutlich nicht einmal existierendes - ehemaliges Mitglied des britischen Geheimdiensts angegeben.

Die Einseitigkeit der Berichterstattung zugunsten von Johnsons Tories und zuungunsten von Corbyn und Labour ist bei dieser Wahl so krass gewesen, daß das Thema der New York Times am 11. Dezember einen Artikel wert war. "Überraschend" stellten die NYT-Reporter Adam Satariano und Amie Tsang fest, daß die Hauptquelle der "fake news", die den britischen Wahlkampf 2019 überschwemmt haben, doch nicht in Wladimir Putins Rußland, sondern in der Parteizentrale der Konservativen sitzt, wo Dominic Cummings für Johnson die Hilfestellung Steve Bannons für Donald Trump im Jahr 2016 zu reproduzieren versucht - unter anderem durch den Einsatz zweier Computernerds aus Neuseeland, der beiden Mitzwanziger Sean Topham und Ben Guerin, die durch das gezielte Plazieren von Falschinformationen in den sozialen Netzwerken den Konservativen um Scott Morrison maßgeblich zum unerwarteten Sieg bei den australischen Parlamentswahlen im vergangenen Mai verholfen haben sollen.

Wie das funktioniert, konnte man am 9. Dezember gut beobachten. An diesem drittletzten Tag vor der Wahl verursachte der stets flappsig agierende Johnson in einem spontanen Stehinterview mit Joe Pike den PR-technischen Super-GAU, den seine Berater seit Wochen befürchtet hatten. Als der Reporter des privaten Fernsehsenders ITV den Premierminister mit dem Bild eines kranken Jungen, der wegen Überfüllung in der Notaufnahme des Zentralkrankenhauses von Leeds auf Decken auf dem Fußboden liegen mußte, zu konfrontieren versuchte, weigerte sich Johnson, das Foto anzusehen, das an diesem Tag die Titelseite der Zeitung Daily Mirror als Indikator eines maroden Gesundheitssystems schmückte, steckte vor laufender Kamera Pikes Mobiltelefon in die eigene Tasche und erzählte, wie in Großbritannien alles besser werde, sobald "der Brexit endlich erledigt" sei.

Der Mißgriff Johnsons und seine fehlende Sensibilität für das Schicksal des kranken Jungen hat in den sozialen Medien Großbritanniens einen allgemeinen Schrei der Empörung ausgelöst. Also mußten der Schaden begrenzt und die laufenden Wahlkampfnarrative in andere Bahnen gelenkt werden. In Windeseile kursierten Berichte bei Twitter und Facebook, das peinliche Bild aus dem Krankenhaus von Leeds sei extra von der Mutter des Jungen gestellt worden, um den Tories im Wahlkampf zu schaden. Als Quelle dieser Angaben, die von mindestens fünf konservativen Politikern weitergetwittert wurden, galt zunächst die Facebook-Seite einer Krankenhausmitarbeiterin. Später meldete sich diese Frau beim Guardian und erklärte, die Angaben auf ihrer Facebook-Timeline stammten nicht von ihr, unbekannte Täter hätten ihr Mobiltelefon gehackt und unter ihrem Namen die Fehlinformationen in Umlauf gebracht.

Doch damit nicht genug. Noch am selben Tag hatte die konservative Wahlkampfleitung den Gesundheitsminister Matt Hancock zum Krankenhaus in Leeds geschickt, um zu demonstrieren, daß die Tories doch ein Herz für kranke Kinder haben. Am Eingang der Klinik wurde Hancock von Passanten und Krankenhausbesuchern wegen der Misere im britischen Gesundheitssystem beschimpft. Kurz darauf verbreitete sich die Nachricht - nicht zuletzt dank des Twitter-Feeds der Chefkorrespondentin der Nachrichtenredaktion des staatlichen Rundfunks BBC Laura Kuenssberg mit ihren 1,1 Millionen Followern - bei der Ankunft am Krankenhaus sei ein Referent Hancocks von einem Labour-Parteiaktivisten geschlagen worden. Später dokumentierten Fersehbilder der lautstarken Begegnung jedoch, daß es nicht einmal im Ansatz zu Handgreiflichkeiten gekommen war.

Inzwischen sieht sich Kuenssberg selbst mit dem Vorwurf der gezielten Wahlmanipulation zugunsten der Konservativen und ihres bevorzugten Gesprächspartners Boris Johnson konfrontiert. Am Nachmittag des 11. Dezember berichtete Kuenssberg, die im Auto irgendwo unterwegs war, live von den letzten fieberhaften Stunden des Wahlkampfes. Nach einer kurzen Diskussion mit der Moderatorin im BBC-Hauptstadtstudio in London über die schlechten Wetteraussichten - kalt und naß - die möglichen Auswirkungen auf die Wahlbeteiligung - viele ältere Menschen könnten zu Hause bleiben - gab sich Kuenssberg plötzlich als absolute Insiderin und behauptete, sie habe aus internen Parteikreisen, die erste Einblicke in die Briefwahlzettel genommen hätten, erfahren, daß die Zustimmung für Labour in deren traditioneller Hochburg im deindustrialisierten Norden Englands, wo viele Menschen 2016 für den Brexit stimmten und die Konservativen den Sozialdemokraten zahlreiche Sitze abzunehmen beabsichtigen, "düster" sei.

Vor dem Wahltag auch nur die geringste Information über die Briefwahl preiszugeben, ist in Großbritannien gesetzlich verboten. Das weiß natürlich auch Laura Kuenssberg, die jeden Vorwurf des Fehlverhaltens empört von sich weist. Ob die Realität mit der von ihr weitergegebenen "Einschätzung" übereinstimmt, oder ob die Absolventin der George Washington University in der US-Hauptstadt nur Propaganda für die Tories machte, muß sich noch herausstellen. Jedenfalls scheint das schlechte Wetter die Menschen nicht vom Urnengang abzuhalten. Medienberichten zufolge haben sich den ganzen Tag über vor den meisten Wahllokalen ungewöhnlich lange Schlangen gebildet, der Andrang sei noch nie so groß gewesen. Die nächsten Stunden werden zeigen, ob Lügenbaron Johnson und seine Brexiteer-Klique doch noch verlieren.

12. Dezember 2019


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