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PARTEIEN/406: Dublin - Rechtsruck gebastelt und arrangiert ... (SB)


Brexit - Rechtsruck gebastelt und arrangiert ...


Am 8. Februar fanden die Wahlen zum irischen Unterhaus, dem Dáil, statt. Doch erst am 15. Juni wurde die schwierige Suche nach einer Mehrheit, auf die sich die neue Regierung für die nächsten vier Jahre stützen kann, für beendet erklärt. Für die ungewöhnlich lange Zeit, die das Zueinanderfinden der künftigen Koalitionäre in Anspruch genommen hat, gab es zwei Gründe. Erstens die Corona-Krise, die von Mitte März bis Anfang Juni das öffentliche Leben in der Republik Irland lahmgelegt und die Bewältigung alle anderen Themen zunächst verdrängt hatte; zweitens das Wahlergebnis vom Februar, das die politische Landschaft Irlands grundlegend umgepflügt hat.

Seit der Trennung von Großbritannien 1922 haben zwei Parteien, Fianna Fáil (Soldaten des Schicksals) und Fine Gael (Clan der Iren), die irische Politik dominiert. Sie gehen beide aus dem Bürgerkrieg hervor, den sich Irlands revolutionäre Nationalisten nach dem Abzug der britischen Streitkräfte von Juni 1922 bis 1923 geliefert hatten. Im Mittelpunkt des blutigen Streits stand die Frage der Annahme des Friedensvertrags mit London, der Nordirland vom Rest der Insel teilte und zudem allen Mitgliedern des künftigen Parlaments in Dublin einen Eid auf den englischen König abverlangte. Gewonnen haben den Bürgerkrieg die Pro-Treaty Forces, die sich später unter dem Namen Fine Gael als Interessensvertreter der Grundbesitzer, der Großbauern und der Finanzelite Dublins etablieren sollten. Verloren haben die Anti-Treaty Forces, die sich hauptsächlich auf die Kleinbauern und Teile der städtischen Mittelschicht stützten. Unter den Namen Fianna Fáil sowie der langjährigen Führung des Staatsmanns Éamon de Valera wurde letztere Gruppierung zur stärksten politischen Kraft Irlands. Seit 1922 haben Fianna Fáil - meistens allein - oder Fine Gael - meistens in Koalition mit der sozialdemokratischen Labour Party - abwechselnd die Regierung gestellt.

2008 hat Fianna Fáil, damals in einer Koalition mit den Grünen, Irland in die schwerste Banken- und Finanzkrise geführt, welche die Republik jemals erlebt hat. Ursache war eine unappetitliche Klüngelei zwischen den irischen Banken und den großen Bauunternehmen, die im Rausch der Wirtschaftswunderjahre des "Keltischen Tigers" den Blick für die Wirklichkeit gänzlich verloren hatten. Bei den Wahlen 2011 wurden die politisch Verantwortlichen schwer bestraft: Fianna Fáil verlor Dreiviertel ihre Sitze, kein einziger Abgeordneter der Grünen wurde ins Dáil wiedergewählt. An die Macht kam eine Koalition aus Fine Gael und Labour, die einen inhumanen Austeritätskurs der radikalen Sparmaßnahmen und Kürzungen - vor allem in den Bereichen Bildung, Gesundheit und Soziales - verfolgten. Die irische Bad Bank NAMA verscherbelte Abertausende problematische Hypotheken und zahlreiche Immobilien an amerikanische Hedge Fonds. In Irland setzte eine beschämende, niemals dagewesene Obdachlosigkeit ein. Der Plan von Fine Gael und Labour, den staatlichen Wasserbetrieb an private Investoren zu verkaufen, löste landesweite Massenproteste aus.

Bei der Wahl 2016 um die 160 Abgeordnetenmandate für das Dáil bekamen die damaligen Regierungsparteien die Quittung präsentiert. Fine Gael blieb zwar stärkste Kraft, ihre Fraktion war jedoch von 76 auf 44 Sitze geschrumpft. Bei Labour sah es noch schlimmer aus. Die Sozialdemokraten gingen mit 37 Abgeordneten in die Wahl hinein und kamen mit lediglich 7 wieder heraus. Fianna Fáil, unter der Führung des ehemaligen Außenministers Mícheál Martin, hatte sich wieder gefangen. Sie war nicht ganz zur alten Stärke zurückgekehrt, hatte jedoch die historische Tiefe hinter sich und die Zahl ihrer Mandate von 20 auf 44 immerhin mehr als verdoppelt. Angesichts der ungewöhnlichen Konstellation - zum erstenmal seit fast 100 Jahren hatten Fine Gael und Fianna Fáil zusammen nicht mindestens die Hälfte aller Sitze auf sich vereinigen können - hat FG-Chef Enda Kenny eine Minderheitsregierung mit zahlreichen parteiunabhängigen Abgeordneten, von denen nicht wenige Ministerposten erhielten, zusammengeschustert und gleichzeitig eine Duldungsvereinbarung mit dem FF-Vorsitzenden Martin beschlossen.

Die letzten vier Jahre haben keine Linderung der sozialen Schieflage gebracht. Das Gegenteil ist der Fall. Die Wohnungsnot hat zu- statt abgenommen. Jeden Winter sind die irischen Krankenhäuser mit Grippeerkrankten überfüllt. Auf den Fluren warten stunden- oder gar tagelang alte und pflegebedürftige Menschen auf Stühlen in der Hoffnung, irgendwann behandelt zu werden. Darüber hinaus erschüttert ein mörderischer Bandenkrieg um das Milliardengeschäft mit illegalen Rauschmitteln das Sicherheitsempfinden vieler Bürger. Lediglich bei den Verhandlungen um den EU-Austritt des Vereinigten Königreichs aus der EU hat Fine Gael, vertreten durch Kenny-Nachfolger als Parteivorsitzender und Premierminister Leo Varadkar und Außenminister Simon Coveney, etwas vorzuweisen. Mit Hilfe von Brüssel und den anderen EU-Staaten, insbesondere Deutschland und Frankreich, konnte Dublin im vergangenen November, nach drei Jahren schwierigster Verhandlungen, London endlich abringen, daß die künftige Grenze zwischen dem europäischen Binnenmarkt entlang der Irischen See und nicht, wie von den harten Brexiteers in England gewollt, zwischen der britischen Restkolonie Nordirland und der Republik im Süden verlaufen wird.

Wenige Tage vor dem formalen Brexit am 31. Januar hat Varadkar Neuwahlen für den 8. Februar angesetzt. Der Ausgang des Urnengangs hat allen Wahlbeobachtern den Atem verschlagen. Trotz oder gerade wegen der unablässigen Feindschaft der Mainstream-Medien, allen voran des Staatssenders RTÉ und der beiden tonangebenden Zeitungen Irish Independent und Irish Times, konnte die linksnationalistische Sinn Féin unter der Führung der Dublinerin Mary Lou McDonald endlich aus dem Schatten der IRA, deren politischer Arm sie während der "Troubles" in Nordirland gewesen ist, treten und die meisten Erststimmen für sich verbuchen. Lediglich weil Sinn Féin aus Angst vor zu viel Optimismus nicht genügend Kandidaten aufgestellt hatte, konnte sie nicht die meisten Sitze erobern. Dennoch war es ein grandioser Erfolg, die McDonald gleich als "Votum für Veränderungen" verstanden haben wollte.

Im Februar hat Sinn Féin, welche die Zahl ihrer Sitze von 22 auf 37 erhöht hatte, keine linke Koalition zustande bringen können, die über die magische Grenze von 81 gekommen wäre. Zwar waren viele kleine linke Fraktionen wie Solidarity - People Before Profit und die Social Democrats zu einer Zusammenarbeit mit Sinn Féin bereit. Doch Labour, deren Anhänger bei den letzten Wahlen in Scharen zu Sinn Féin übergelaufen waren und die von sieben auf mickrige sechs Sitze weiter zurückgefallen waren, verweigerte sich kategorisch der Teilnahme an der erster Linksregierung Irlands überhaupt. Ihr machten es alle rechtsgerichteten parteiunabhängigen Abgeordneten gleich.

Und so blieb Ende Februar, Anfang März nichts anderes übrig, als daß Fine Gael und Fianna Fail versuchen mußten, eine eigene "große Koalition" zu bilden und das längst lächerlich gewordene Kriegsbeil aus den zwanziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts zu begraben. Beide Parteien waren geschwächt als Verlierer aus der Wahl hervorgegangen. Fine Gael hatte 12 Sitze abgegeben, nur noch 35 bekommen und war damit auf den dritten Platz hinter Sinn Féin und Fianna Fáil abgerutscht. Letztere, die "Soldiers", wie sie scherzhaft genannt werden, hatten mit nur 38 Sitzen nicht nur ihr erklärtes Wahlziel - 50+ - verfehlt, sondern hatten im Vergleich zu 2016 acht verloren. Die Erholungsphase, die Fianna Fáil irgendwann wieder ihre "traditionelle" absolute Mehrheit einbringen sollte, war verpufft, womöglich für immer.

Anfang März brach die Welle der Corona-Krise über Europa, Irland eingeschlossen, herein. Varadkar lehnte es ab, eine Regierung der nationalen Einheit zu bilden, weil dies Sinn Féin gestärkt hätte, und blieb mit seiner Administration aus zahlreichen Ministern, die ihre Parlamentssitze verloren hatten, geschäftsführend im Amt. Im Vergleich zu den USA und Großbritannien - für die meisten Iren leider fast die einzigen Referenzwerte - hat die Republik Irland die Pandemie ganz gut überstanden, sieht man von den vielen Toten in den Altenheimen und den Seuchenausbrüchen in den Fleischfabriken einmal ab. Varadkar, der selbst ausgebildeter Arzt ist, hat in der Stunde des nationalen Notstands effektive Entscheidungen getroffen und sie auch verständlich gegenüber dem Volk begründen können. Im Vergleich zu London und Washington herrschte in Dublin kein Chaos. Als Ende März, Anfang April Schutzkleider und Atemschutzmasken Mangelware geworden waren, hat man neue in China bestellt und eine Luftbrücke eingerichtet, um die Versorgung der eigenen Ärzte und Krankenpfleger zu gewährleisten.

Ende Mai waren sich "Krisenmanager" Varadkar und Mícheál Martin handelseinig geworden, letzterer vor allem, weil der Politprofi aus Cork nicht in die Geschichtsbücher als erster Fianna-Fáil-Vorsitzende eingehen will, der nicht auch das Amt des Premierministers bekleidet hätte. Doch da gab es ein Problem. 35 und 38 zusammen ergibt keine Mehrheit. Die beiden Altparteien brauchten zusätzliche Stimmen, um ihre irische "Groko" zustande zu bringen und die magische Zahl von mindestens 81 zu erreichen. Und weil sich parteiunabhängige Abgeordnete in der Vergangenheit als politisch nicht besonders zuverlässig erwiesen hatten, fiel die Wahl auf die Grünen. Irlands Umweltpartei, die sich nach dem Untergang von 2011 langsam wieder erholte hatte - 2016 bekamen sie zwei Sitze und im letzten Februar 12 -, trauen der Einladung von FG und FF allerdings nicht so richtig. Während die Parteiführung um Eamon Ryan "Gestaltungsmöglichkeiten" Richtung einer klimagerechten Gesellschaft sehen, haben viele an der Basis Angst als Feigenblatt für die großen Zwei mißbraucht zu werden, um dann in vier Jahren erneut als Partei in der Versenkung zu verschwinden.

Um diese Ängste zu zerstreuen, trägt die Koalitionsvereinbarung, die Varadkar, Martin und Ryan Ende Mai, Anfang Juni ausgehandelt haben, eine deutlich grüne Handschrift. Unter anderem vom Ausbau der Fahrradwege in den Städten und einem Stopp des geplanten LPG-Terminals für amerikanisches Fracking-Gas bei Limerick an der irischen Westküste ist die Rede. Die substantiellen Maßnahmen, mittels derer Irland eine einschneidende Reduzierung seines CO2-Ausstoßes erzielen sollte, fallen jedoch allesamt gegen Ende des jetzigen Jahrzehnts - und damit außerhalb der aktuellen Legislaturperiode - an. Für die Grünen gibt es also gar keine Garantie, daß Fine Gael und Fianna Fáil, die derzeit nur noch bestrebt sind, nach dem corona-bedingten "Lockdown" die Wirtschaft wieder in Gang zu bekommen, ihre Zusagen in der Umweltpolitik einhalten werden. Deshalb ist auch nicht sicher, ob bei den Grünen die erforderliche Zweidrittelmehrheit für die Regierungsbeteiligung zustande kommt. Derzeit wird darüber per Telekonferenz gestritten. Der Ausgang der Beratungen steht noch aus.

Während sich die Führung von Fine Gael wegen der überproportionalen Gewichtung der Stimmen der eigenen Abgeordneten vor einer Revolte der eigenen Basis nicht fürchten muß, sieht es für Mícheál Martin anders aus. Bei Fianna Fáil, wo auch Parlamentarier und Basismitglieder gleichrangig mit einfacher Mehrheit über die Regierungsbeteiligung entscheiden müssen, machen sich viele Aktivisten Sorgen, die Koalition mit Fine Gael könnte das Ende der eigenen Partei einläuten. Die Kritiker, angeführt von De-Valera-Enkel Éamon O'Cuív, lehnen die Gleichschaltung mit der neoliberalen Wirtschaftslinie von Fine Gael ab und befürchten, daß Sinn Féin bei der nächsten Wahl Fianna Fáil als "Partei des einfachen Mannes" ein für allemal ablösen wird. In der Tat kann sich Sinn Féin schadlos in Geduld üben. Nichts im neuen Regierungsprogramm der drei Koalitionsparteien deutet darauf hin, daß diese in den kommenden vier Jahren ernsthafte Maßnahmen zur Linderung der großer Misere auf dem Wohnungsmarkt oder im Gesundheitssystem ergreifen werden.

18. Juni 2020


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