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BERICHT/008: "Aggressiver Euro-Imperialismus" ... Raubzug nach außen und innen (SB)


"Deutsche Dominanz und innereuropäische Konflikte"

Symposium in Berlin-Mitte am 10. März 2012



Das ideologische Konstrukt eines Bündnisses der Staaten und Völker Europas im Zeichen des Friedens und Wohlstands flankiert und befördert eine forcierte Zugriffsentwicklung der europäischen Führungsmächte nach innen und außen. Ökonomisch gesehen handelt es sich um die unablässige Ausweitung kapitalistischer Verwertung, die sich unter gesteigertem Verschleiß menschlicher Arbeitskraft, Verfügbarmachung humaner Biosubstanz und Vernichtung von Ressourcen mit eskalierenden Zerstörungsfolgen durchsetzt. In politischer Hinsicht hat man es mit nationalstaatlich und supranational organisierter Herrschaftssicherung zu tun, die unter Vorhaltung und Anwendung des Gewaltmonopols mit administrativen, juristischen, polizeilichen und militärischen Mitteln das Überleben der Eliten zu Lasten unterworfener und zunehmend verelendeter Bevölkerungsmehrheiten in die Zukunft fortzuschreiben versucht. Man kann daher von einem zutiefst aggressiven Entwurf sprechen, der sich die Zurichtung und Ausbeutung der schwächeren Bündnispartner ebenso auf die Fahnen geschrieben hat wie die imperialistische Expansion, zu der es vereinter Kräfte bedarf. Vor allem aber garantiert er den Fortbestand der Klassengesellschaft, die ungeachtet erbitterter Konkurrenz der ökonomischen, nationalstaatlichen und überstaatlichen Akteure das gemeinsame Fundament des gegenwärtig erreichten Stands menschlicher Zivilisation repräsentiert, den es zu bestreiten gilt.

Beim Vortrag - Foto: © 2012 by Schattenblick

Georg Polikeit
Foto: © 2012 by Schattenblick

Im Rahmen des Symposiums "Aggressiver Euro-Imperialismus" [1], zu dem die junge Welt gemeinsam mit der Marx-Engels-Stiftung in die Berliner Ladengalerie der linken Tageszeitung eingeladen hatte, referierte der Journalist und langjährige Chefredakteur der UZ, Georg Polikeit, zum Thema "Deutsche Dominanz und innereuropäische Konflikte". Er analysierte in seinem Vortrag die Strategie und Struktur des europäischen Zusammenschlusses, wobei er insbesondere die maßgeblichen internen und externen Widerspruchslagen des imperialistischen Projekts anschaulich herausarbeitete. Zugleich warnte er im Kontext der tiefgreifenden Systemkrise eindringlich davor, angesichts einer offenkundigen Schwäche und rapide schwindenden Überzeugungskraft der kapitalistischen Doktrin vom nahen Ende dieser Gesellschaftsordnung auszugehen. Wie der Referent anhand der jüngsten Versuche zur Rettung des Euro hervorhob, setzten die Eliten Europas alles in ihrer Macht stehende daran, nicht nur die Währungsunion und damit das aggressive Bündnis der Europäischen Union zu retten, sondern darüber hinaus die Krise zu ihren Gunsten zu nutzen, um das Regime der Führungsmächte auszubauen und die Verwertungsbedingungen des Kapitals auf Grundlage verschärfter Ausbeutung und Zurichtung zu verbessern.

Wenngleich die Vision früherer Jahre, die Europäische Union bis 2010 zum gleichrangigen Wirtschaftsblock neben den Vereinigten Staaten samt der NAFTA auszubauen und in der Folge weltweite Führerschaft zu beanspruchen, aus heutiger Perspektive unter der Rubrik überambitionierte Expansionsgelüste abgelegt werden kann, ist das Vorhaben als solches nach wie vor virulent. Wie der Referent ausführte, strebt die EU den Rang eines ökonomischen, politischen und militärischen Zentrums neben den USA an, und zwar in Partnerschaft und Kooperation mit diesen, wo es sich anbietet und möglich ist, gegebenenfalls aber auch in verdeckter oder offener Konkurrenz. Getrieben von den ökonomischen und politischen Interessen der in den EU-Staaten ansässigen und dominierenden transnationalen Konzerne etablierten die Europäische Union und die Eurogruppe überstaatliche Strukturen zur Bündelung ihrer Kräfte.

Die heutige Rolle der Bundesrepublik und des deutschen Kapitals im Weltmaßstab ist untrennbar mit der Existenz der EU und dem Euro als zweiter Reservewährung neben dem Dollar verbunden. Deutschland konnte aufgrund seiner ökonomischen Potenz im Zusammenwirken mit Frankreich eine Vormachtstellung ausbauen und zunehmend die zentrale Führungsrolle in der EU übernehmen. Polikeit wies in diesem Zusammenhang die These, wonach die EU nur ein europäischer Mantel sei, mit dem der deutsche Imperialismus zum dritten Mal zum Sprung nach der Weltmacht ansetze, als zu schablonenhafte und auf die gegenwärtigen Verhältnisse nicht zu übertragende historische Parallele zurück. Angesichts veränderter Kräfteverhältnisse wie insbesondere der globalpolitischen Dominanz der USA, aber auch aufstrebender Akteure wie den BRICS-Staaten verbiete sich ein erneuter imperialistischer Alleingang von selbst. Hier wie überall führt ein Geschichtsverständnis, dessen Prognostik sich in einer bloßen Wiederholung der Vergangenheit erschöpft, zwangsläufig in eine Sackgasse.

Die Ambitionen der in Brüssel tonangebenden Kreise, die EU sowohl ökonomisch wie politisch und zum Teil auch militärisch zu einem eigenständigen globalen Akteur aufzubauen, richteten sich im Außenverhältnis zunächst gegen das nähere Umfeld. Dies umfaßte vor allem die Entwicklung entsprechender außen- und wirtschaftspolitischer Instrumente, darunter ein Netz von vielfältigen "Partnerschaftsabkommen" mit den Nachbarstaaten in Osteuropa, im Mittelmeerraum und Nahen Osten sowie den Aufbau eines eigenen außenpolitischen Dienstes. Zudem trieb man die militärische Operationsfähigkeit unter Aufbau der dafür notwendigen Strukturen voran und unternahm eigenständige Militäreinsätze in verschiedenen Regionen wie insbesondere in Afrika.

Die Kooperation und Absprache über ein gemeinsames Vorgehen in der internationalen Arena entspringt dem Kalkül der europäischen Staaten, nur im Verbund übereinstimmende ökonomische und politische Interessen im globalen Maßstab durchsetzen zu können. Andererseits könne von einem homogenen Imperialismus der 27 EU-Staaten oder auch nur der 17 Euro-Staaten keine Rede sein, so der Referent. Mit dem Ausbau supranationaler Strukturen verstärkten sich die Gegensätze innerhalb der EU, wobei die Kluft zwischen der dominanten Führungsmacht Deutschland und ökonomisch schwächeren Nationen immer deutlicher hervortrete. Fasse man Imperialismus nicht nur als politisches Phänomen, sondern als Entwicklungsstadium des Kapitalismus auf, wiesen heute alle europäischen Staaten Wirtschaftsstrukturen monopolistischen Charakters auf. Demgegenüber sei jedoch das Verhältnis zwischen transnationalen, meist aus anderen EU-Staaten heraus agierenden Monopolgruppen und dem einheimischen Kapital in den einzelnen Ländern sehr unterschiedlich.

Die Ungleichmäßigkeit der ökonomischen Entwicklung zwischen den einzelnen Mitgliedstaaten ist kein Fehler bei der Konstruktion der Gemeinschaftswährung, sondern im Gegenteil systembedingt. So gründet auch die deutsche Vormachtstellung auf dieser Ungleichheit, die gewissermaßen als Motor innereuropäischer Profitmaximierung fungiert. Daraus läßt sich ableiten, daß die Krise kein Phänomen eines einzelnen Sektors ist und durch dessen Regulierung nicht behoben werden kann. Es handelt sich vielmehr um eine Systemkrise, da die Voraussetzung der Kapitalverwertung zu ihrem Totengräber zu werden droht. Wenn daher im europäischen Kontext von Integration die Rede ist, darf man keine Angleichung der Wirtschafts-, Arbeits- und Lebensbedingungen im Interesse der Bevölkerungsmehrheit erwarten. Stets geht es um die Einbindung und Unterordnung der Schwächeren unter die Stärkeren, um die Herausbildung hegemonialer Strukturen einiger imperialistischer Führungsmächte über den Rest der Mitgliedstaaten.

Georg Polikeit beim Vortrag - Foto: © 2012 by Schattenblick

Kein Konstruktionsfehler, sondern Systemkrise ...
Foto: © 2012 by Schattenblick

Die Entwicklung der EU über eine Zollunion und den europäischen Binnenmarkt hinaus zu einer politischen Union mit Institutionen auf supranationaler Ebene, bei der wichtige nationale Souveränitätsrechte auf die EU- oder Euro-Gremien übertragen werden, schränkt den Handlungsspielraum der Regierungen namentlich in den schwächeren Mitgliedsländern systematisch ein. Der Binnenmarkt ohne Zollgrenzen und mit völliger Freiheit des Waren-, Dienstleistungs- und Kapitaltransfers dient als ökonomische Basis dem Ausbau politischer Lenkungsstrukturen gegenüber den Mitgliedstaaten, verbunden mit der Ein- und Unterordnung der süd- und osteuropäischen Peripherie unter die Interessen der sogenannten Kernstaaten. Diesem Zweck diente auch die Einführung des Euro als gemeinsame Währung und die Unterordnung der nationalen Staatsbanken unter das Europäische Zentralbankensystem. Im Zuge der Krise wurde diese Entwicklung vorangetrieben, indem man die Kontroll-, Regulierungs- und Weisungsbefugnisse der EU-Zentralen gegenüber den Mitgliedstaaten über die einst im Maastricht- und auch im Lissabon-Vertrag festgelegten Regeln hinaus erweiterte.

Da die Konkurrenz zwischen den dominierenden Kapitalinteressen in den Nationalstaaten auch durch die EU-Administration nicht aufgehoben wird, bleibt die Europäische Union ein Feld von Konkurrenzkämpfen und Konflikten zwischen unterschiedlichen Kapitalgruppen und mithin auch der Regierungen. Trotz seiner relativen Stärke ist das in Deutschland ansässige Kapital darauf angewiesen, sich in Verfolgung seiner globalen Interessen mit Kapitalkreisen anderer EU-Staaten auf gemeinsame Konzepte und Vorgehensweisen zu verständigen. Polikeit zitierte dazu aus Thesen des Bundesverbands der Deutschen Industrie (BDI) vom September 2011, in denen dieser größtes Interesse der Industrie am Erhalt des Euro sowie am Fortbestand und der Weiterentwicklung der Europäischen Union zum Ausdruck brachte. Europa müsse jetzt einen Sprung vorwärts in seinen Stabilisierungsmaßnahmen machen. Auch solle die Schuldenkrise als Chance begriffen werden, die notwendigen langfristigen Weichenstellungen endlich anzupacken. Wenige Tage später schob der BDI eine gemeinsame Stellungnahme mit dem französischen Unternehmerverband MEDEF und der italienischen Confindustria nach, die in dieselbe Richtung wies. Dies machte eine weitreichende Übereinstimmung der führenden Kapitalkreise in den drei Ländern hinsichtlich ihrer gemeinsamen strategischen Interessen deutlich.

Damit korrespondiert das hartnäckige Festhalten politischer Führungskreise an der Währungsunion, die unter allen Umständen gerettet werden soll. Andernfalls wäre ein Prozeß der Desintegration die Folge, der die angestrebte globalpolitische Rolle der EU beschädigen und in der Konsequenz unmöglich machen würde. Folglich läßt man kaum ein Mittel unversucht, die Gemeinschaftswährung zu sanieren, die "Schuldenländer" im Euro-Raum zu halten und zugleich die Kontroll- und Steuerungsmöglichkeiten gegenüber den Mitgliedstaaten weiter auszubauen. Faßt man die in den letzten zwei Jahren auf den Weg gebrachten neuen Abmachungen und Verträge zusammen, erreichen die Machtbefugnisse der EU-Administration unter der Bezeichnung "europäische Wirtschaftsregierung" eine neue Qualität rigoroser Einflußnahme.

Es geht um die Abwälzung der Krisenlasten auf die große Mehrheit der Bevölkerung und damit um eine weitere grundsätzliche Veränderung der Verteilungsrelationen des produzierten Reichtums zugunsten des Kapitals und zu Lasten der abhängig Beschäftigten. Gefordert werden strukturelle Reformen, die die Profitabilität des eingesetzten Kapitals verbessern sollen. Bundeskanzlerin Merkel regte dazu Arbeitsmarktreformen an, die in Deutschland unter dem Markenzeichen Hartz IV bekannt geworden seien. Zahlreiche weitere Zwangsmaßnahmen findet man in den entsprechenden Texten der EU. Der Katalog reicht von einer Senkung der Lohnstückkosten über die weitere Deregulierung des Arbeitsrechts wie insbesondere des Kündigungsschutzes bis hin zur Entkoppelung der Lohnentwicklung von der Inflationsrate und einer Aushebelung des Tarifvertragsrechts. Zudem drängt man auf die erleichterte Einführung befristeter Arbeitsverhältnisse sowie auf die Ausweitung des Niedriglohnsektors.

Die Antwort von Politik und Kapital auf die Krise sind weitere soziale Grausamkeiten, wobei Polikeit nicht ausschließen mag, daß es auf diese Weise zu einer Restabilisierung des Euro-Gefüges kommen könnte. Zudem gebe es unmittelbare Krisengewinner wie Banken, Versicherungskonzerne und Hedgefonds, für die Rettungsschirme aufgespannt wurden, worauf sie wieder einträgliche Geschäfte machen konnten. Von einem unabwendbaren Zusammenbruch des Systems könne man daher ebenso wenig ausgehen wie von einer zwangsläufigen Erhebung der Bevölkerung angesichts massenhaften Elends. Wenngleich die Gegenwehr in manchen Ländern deutlich angewachsen sei, habe sie bislang keine durchschlagenden Erfolge erzielt. Neben der Wut und dem Zorn habe auch die Tendenz Bestand, die abgepreßten Krisenopfer hinzunehmen und sich mit der Verschlechterung der Situation abzufinden. Dies verweise einmal mehr darauf, daß nicht nur die objektive Verschärfung der sozialen Gegensätze, sondern vor allem die Entwicklung des subjektiven Faktors, des Kampfwillens und der Kampfentschlossenheit der Betroffenen, entscheidend ist, schloß Georg Polikeit seinen ebenso sachkundigen wie zur Diskussion anregenden Vortrag.

Fußnote:

[1]‍ ‍BERICHT/005: "Aggressiver Euro-Imperialismus" ... im Labor neokolonialer Verfügungsgewalt (SB)
http://www.schattenblick.de/infopool/europool/report/eurb0005.html

BERICHT/006: "Aggressiver Euro-Imperialismus" ... Risse im transatlantischen Pakt (SB)
http://www.schattenblick.de/infopool/europool/report/eurb0006.html

BERICHT/007: "Aggressiver Euro-Imperialismus" ... Gemeinschaftswährung totgesagt (SB)
http://www.schattenblick.de/infopool/europool/report/eurb0007.html

INTERVIEW/016: "Aggressiver Euro-Imperialismus" - Hannes Hofbauer zu Erinnerungsjustiz (SB)
http://www.schattenblick.de/infopool/europool/report/euri0016.html

INTERVIEW/017: "Aggressiver Euro-Imperialismus" - Rainer Rupp zu Europas Säbelrasseln (SB)
http://www.schattenblick.de/infopool/europool/report/euri0017.html

Georg Polikeit beim Vortrag - Foto: © 2012 by Schattenblick

Wut und Zorn allein reichen nicht ...
Foto: © 2012 by Schattenblick

8.‍ ‍Mai 2012