Schattenblick →INFOPOOL →EUROPOOL → REPORT

INTERVIEW/008: Anthony McIntyre zum "Ausverkauf" der IRA und Sinn Féin (SB)



Interview mit Anthony McIntyre am 25. Juni in Drogheda

In Irland gilt Anthony McIntyre als einer der schärfsten und glaubwürdigsten Kritiker der linksnationalistischen Partei Sinn Féin (Wir Selbst). Als Freiwilliger der katholisch-nationalistischen Irisch-Republikanischen Armee (IRA) hat der aus Belfast stammende McIntyre in den siebziger Jahren einen loyalistischen - protestantisch-probritischen - Paramilitär erschossen und deshalb 18 Jahre im berüchtigten Maze-Gefängnis gesessen. Dort nahm er vier Jahre lang an dem "schmutzigen" Protest teil, als die republikanischen Gefangenen nach der Aberkennung ihres Kriegsgefangenenstatus durch die Regierung in London sich weigerten, Häftlingsuniforme anzuziehen. Höhepunkt jenes Protests waren die Hungerstreiks, bei denen 1981 sieben Mitglieder der IRA und drei von der Irish National Liberation Army (INLA) ihr Leben verloren und der Anführer der Aktion, Bobby Sands, noch im Sterben bei einer Nachwahl in Nordirland zum Abgeordneten des britischen Unterhauses gewählt wurde.

Anthony McIntyre - Foto: © 2011 by Schattenblick

Foto: © 2011 by Schattenblick Durch den ungeheuren Wahlerfolg von Sands machte sich bei der Führung der IRA und seines politischen Arms Sinn Féin der Gedanke breit, das Ziel eines wiedervereinigten Irlands und eines kompletten Rückzugs des britischen Staates aus Nordirland ließe sich durch eine geschickte Kombination von Wahlen und Waffen erreichen. Der Keim des späteren Friedensprozesses war damit gesät. Skeptiker wie McIntyre werfen der Sinn-Féin-Führung um Parteipräsident Gerry Adams und Vizepräsident Martin McGuinness vor, die republikanische Bewegung in und durch einen politischen Prozeß manövriert zu haben, von dem sie wußten, daß sich die Ziele der IRA nicht im Entferntesten realisieren ließen. Die IRA- und Sinn-Féin-Führungsclique hätte sich auf das Spiel Londons eingelassen, den früheren Idealismus aufgegeben und ihre Kameraden hinters Licht geführt, um schließlich selbst gut dotierte Posten in den neuen, nach dem Karfreitagsabkommen von 1998 für Nordirland geschaffenen Verwaltungsstrukturen zu ergattern, so der Vorwurf. McGuinness zum Beispiel gehört seit 2007 der nordirischen Allparteienregierung als Vizepremierminister an, während Adams im Unterhaus der irischen Republik in Dublin der dortigen Sinn-Féin-Fraktion vorsitzt.

Nach der Entlassung aus dem Gefängnis hat Anthony McIntyre seinen Doktor in politischer Wissenschaft an der Belfaster Universität Queen's gemacht. Während dieser Zeit hat er mit seiner Frau Carrie Twomey die Zeitschrift "The Blanket" gegründet, die als "Journal of Protest and Dissent" linken Gegnern der politischen Verhältnisse in Nordirland sowohl des katholisch-nationalischen als auch des protestantisch-unionistischen Lagers ein Forum bot. Der Name der Zeitschrift verwies auf den schmutzigen Protest im Maze, als die republikanischen Häftlinge über Jahre lediglich ihre Decken als Kleidung trugen. Seit 2008 betreibt McIntyre den empfehlsenwerten Blog "The Pensive Quill". Im selben Jahr erschien sein vielbeachtetes Buch "Good Friday: The Death of Irish Republicanism", in dem er schonungslos den "Ausverkauf" erläutert, den Sinn Féin und die IRA im Rahmen des sogenannten nordirischen Friedensprozesses betrieben haben. Gleichwohl steht McIntyre den IRA-Dissidenten skeptisch gegenüber, die heute noch meinen, mit Bomben die Briten aus Irland vertreiben zu können, und hat sie mit den letzten Soldaten der kaiserlichen Armee Japans verglichen, die auch noch Jahrzehnte nach der Kapitulation Tokios den Zweiten Weltkrieg aus den tiefsten Dschungeln der Philippinen vergeblich führten.

Wegen ständiger Einschüchterungsmaßnahmen, vereinzelter Morddrohungen und einer Mißhandlung durch eine republikanische Schlägertruppe ist McIntyre mit seiner Frau und beiden Kindern vor einigen Jahren aus seiner Heimatstadt Belfast weggezogen und hat sich südlich der irischen Grenze in Drogheda niedergelassen. Dort hat sich der Schattenblick am 25. Juni mit ihm zu einem ausführlichen Gespräch getroffen. Anlaß war der Ende Juni von Google und dem Council on Foreign Relations veranstaltete "Summit Against Violent Extremism", der nicht zuletzt wegen der Vorbildfunktion des "Friedensprozesses" in Nordirland, der auch damals maßgeblich von der damaligen US-Regierung Bill Clintons unterstützt wurde, in der irischen Hauptstadt Dublin stattfand.


Schattenblick: Glauben Sie als ehemaliger Freiwilliger, die IRA hätte jemals die britische Armee besiegen und zu einem vollständigen Abzug aus Irland zwingen können?

Anthony McIntyre: Nein. Das wäre unmöglich gewesen. Ich gehe sogar soweit zu behaupten, daß der Republikanismus als strategisches Konzept auf die Präsenz des britischen Staats in Irland unzureichend gewesen ist. Auch ohne den bewaffneten Kampf der IRA hat der Republikanismus keine Antwort auf das Prinzip der Einheit nur mit Einwilligung der protestantischen Mehrheit in Nordirland, das sich seit der Teilung der Insel im Jahr 1921 in das Bewußtsein der Menschen eingebrannt hat. Zum Teil als Reaktion auf die Gewalt der IRA hat sich das Prinzip im allgemeinen Bewußtsein noch tiefer verankert. Also hatte die IRA niemals eine echte Chance, mittels Gewalt die Briten zum Rückzug zu zwingen.

SB: Selbst wenn die Eksund mitte der achtziger Jahre mit ihrer riesigen Waffenladung aus Libyen gelandet wäre und die IRA weitere verheerende Großanschläge gegen die britische Wirtschaft wie beispielsweise gegen die Baltic Exchange und die Natwest Bank im Finanzzentrum Londons durchgeführt hätte?

AM: Theoretisch kann eine Aufstandsbewegung ihrem Gegner militärisch dermaßen zusetzen, daß sein politischer Wille gebrochen wird. Selbst wenn die Eksund durchgekommen wäre - andere größere Lieferungen haben es schließlich geschafft - und der IRA weitere spektakuläre, für die Briten sehr kostspielige Anschläge gelungen wären, wie die beiden, die Sie gerade erwähnten, dann hätte das einfach eine entsprechende Antwort aus London nach sich gezogen. Ich glaube nicht, daß die Briten einfach die weiße Fahne gehißt hätten. Ich habe mit anderen IRA-Freiwilligen gesprochen, die der Meinung sind, daß die Briten der IRA durch die Wiedereinführung der Internierung den Garaus gemacht hätten.

SB: Bitte erklären Sie das.

AM: In einem Szenario des zunehmenden Erfolges der IRA-Kampagne hätten sich die Briten keineswegs damit begnügt, bekannte IRA-Aktivisten und republikanische Sympathisanten weiterhin unter Beobachtung zu stellen, sie gegebenenfalls bei Gesetzesverstößen und vor Gericht zu bringen und den SAS auf die eine oder andere Shoot-to-Kill-Operation zu schicken. Die Regierung in London hätte vielmehr zu drakonischen Maßnahmen gegriffen. Angesichts der allgemeinen Ablehnung auf beiden Seiten der Grenze gegenüber der paramilitärischen Gewalt sowie in Anbetracht des begrenzten Operationsgebiets der IRA hätten die Briten im Falle einer Eskalation leichtes Spiel gehabt, dem ganzen Spuk ein Ende zu machen.

SB: Wenn also eine wirkliche Aussicht auf militärischen Erfolg niemals bestanden hat, war die Entscheidung seitens der republikanischen Bewegung für eine Strategie des Entgegenkommens dann folgerichtig?

AM: Es kommt darauf an, was man unter Entgegenkommen versteht. Ich persönlich halte nichts von der Annahme, es habe lediglich die Wahl zwischen einer Fortsetzung des bewaffneten Kampfes in seiner damaligen Form oder der Aufnahme der republikanischen Führungsclique in den britischen Staatsapparat durch Kooption, wie wir sie inzwischen erleben, gegeben. Unter Entgegenkommen verstehe ich etwas anderes als die jetzige Situation, die für mich nach Unterwerfung riecht. Entgegenkommen könnte zum Beispiel bedeuten, daß Großbritannien und die Republik Irland die Souveränität über Nordirland gemeinsam ausübten. Warum muß es ein Entgegenkommen sein, welches die Teilung Irlands zementiert?

Aus Sicht Londons mußte die IRA-Kampagne zu den Akten gelegt werden, ohne daß sich die Briten dafür im Gegenzug zu einem Abzug bereiterklärten. Das ist ihnen wegen der bereits erläuterten schwachen militärischen Position der IRA gelungen. Doch ist es weniger das Ende der IRA-Kampagne an sich, das viele Republikaner verärgert hat, als vielmehr die Art, wie sie geführt und abgeschlossen wurde, die uns praktisch in eine Situation, wie sie bereits 1974 existierte, zurückgeworfen hat. Die IRA-Führung hat die damalige von Dublin und London vorgelegte politische Lösung des Konfliktes in Nordirland abgelehnt. In der Folgezeit wie auch in der 1977 verkündeten IRA- Militärdoktrin "The Long War" gab es nicht die leiseste Andeutung, daß ein Arrangement, wie es 1973/1974 mit dem Sunningdale-Abkommen zur Debatte stand, jemals von der Führung der republikanischen Bewegung akzeptiert worden wäre.

SB: Ab welchem Zeitpunkt hat sich das Entgegenkommen der IRA in eine Kooption ihrer Führungsschicht und der von Sinn Féin in die staatlich-institutionelle Infrastruktur Nordirlands gewandelt?

AM: Meines Erachtens hat es keinen bestimmtem Zeitpunkt in diesem Sinne gegeben, sondern es ist vielmehr das Resultat einer langjährigen Entwicklung gewesen. Einzelberichten und anderen Hinweisen, die wir zutage gefördert haben, zufolge wissen wir aber, daß es bereits 1982 seitens der Führung um Gerry Adams Signale an London gab, daß sie mit einem Arrangement wie dem heutigen leben könnte. Obwohl Ivor Bell formell den Posten des Stabschefs der IRA und damit des Vorsitzenden im Armeerat, des obersten Gremiums innerhalb der Organisation, bekleidete, war Adams schon damals die eigentliche Führungsperson. In der Zeit um die Wahlen zur nordirischen Versammlung 1982 traten Adams und Martin McGuinness, die beiden unmittelbaren Vorgänger Bells als Stabschef, vom General Headquarters (der operativen Militärführung - Anm. d. SB-Red.) zurück, wenngleich sie weiterhin im Armeerat der IRA blieben. Die Distanzierung vom militärischen Geschehen sollte es ihnen erleichtern, als politische Führer aufzutreten. Jedenfalls wurde schon seinerzeit in IRA-Zirkeln die Idee einer Beendigung des bewaffneten Kampfes zur Diskussion gestellt. Der Testballon ist jedoch abgestürzt. Der Führung ist schnell klargeworden, daß ein solcher Kurswechsel zur Spaltung der IRA führen würde. Also wurde die Idee erstmals fallengelassen. Wie Ed Moloney in seinem Buch "The Secret History of the IRA" beschreibt, streckte Adams 1986 seine Fühler in Richtung britische Regierung aus und bot ihr einen Deal ähnlich des heutigen an.

Wie der Hase läuft wurde Mitte der neunziger Jahre deutlich, als republikanische Politiker wie Pat Doherty und Mitchell McLaughlin (heute beide Sinn-Féin-Abgeordnete im nordirischen Parlament - Anm. d. SB-Red.) begannen, von der Notwendigkeit eines Einverständnisses der Unionisten bezüglich eines vereinten Irlands zu sprechen. Bis dahin hatte man immer kategorisch den Standpunkt vertreten, daß ein Veto der Unionisten in der Frage der Wiederherstellung der Einheit Irlands vollkommen inakzeptabel sei. Folglich sahen sich die Sinn Féin- Vertreter von da an plötzlich in der schwierigen Situation, erklären zu müssen, was der Unterschied zwischen einem Veto und einem Einverständnis der Unionisten sei - wo es doch keinen gab. Beides war ein und dasselbe. Mit dieser Art von Sophisterei wurde der Widerstand in den eigenen Reihen kaputtgeredet und vielen Aktivisten und Sympathisanten von IRA und Sinn Féin ein Ende des bewaffneten Kampfes verkauft, der wenige Jahre zuvor als unannehmbar gegolten hatte.

SB: Eines der größten Versprechen des 1998 vereinbarten Karfreitagsabkommens war die Abschaffung oder Reform jener staatlichen Organe, welche die katholisch-nationalistische Bevölkerung in Nordirland seit der Teilung der Insel als Instrumente protestantisch-unionistischer Unterdrückung empfunden bzw. erlebt hatte. Folglich wurde in den darauffolgenden Jahren die bis dahin protestantisch dominierte Royal Ulster Constabulary (RUC) reformiert. Sie verlor die Bezeichnung "königlich" und wurde in die neutraler klingende Police Service of Northern Ireland (PSNI) umgetauft. Zudem hat man eine 50prozentige Quote für Katholiken bei der Anwerbung neuer Rekruten eingeführt. Darüber hinaus wurden die meisten paramilitärischen Gefangenen - sowohl republikanische als auch loyalistische - unter der Auflage, sich an die Beendigung des bewaffneten Kampfes ihrer Organisationen zu halten, freigelassen. Doch der Eindruck der gelungenen Befriedung des Konflikts täuscht. Seit einiger Zeit beklagen sich Gefangene aus republikanischen Dissidentengruppen im Gefängnis Maghaberry über Drangsalierungen und menschenunwürdige Behandlungen. Es droht dort sogar ein erneuter Hungerstreik. Wie konnte die Führung von IRA und Sinn Féin es so weit kommen lassen?

AM: Dieser Frage liegt die Annahme zugrunde, daß etwas eingetreten sei, womit die republikanische Führung nicht gerechnet hätte. Ich sehe die Sache etwas zynischer. In der Entscheidung der Führung um Adams und McGuinness, sich ausschließlich auf das politische Geschäft mit all seinen negativen Konnotationen zu konzentrieren, steckte bereits die Akzeptanz der von London vorgegebenen Rahmenbedingungen, nämlich der Existenz eines nordirischen Duodezstaats unter Beibehaltung der Union mit Großbritannien. Sie mußten sich mit diesem Kontext abfinden, um Regierungsmacht ausüben zu dürfen. Ich schließe nicht aus, daß einige von ihnen noch heute um vier Uhr morgens aufwachen, sich im Spiegel anschauen und sich fragen, wo die Ideale von damals geblieben sind. Aber dennoch verlassen sie jeden Morgen ihre Wohnungen und erfüllen pflichtbewußt ihre Funktionen als nordirische Minister, Abgeordnete oder Kommunalpolitiker.

Das Ergebnis war absehbar. Wenn man eine reformistische Position bezieht und sich dadurch mit allem arrangiert, wogegen man früher gekämpft hat, dann wird man am Ende zu dem, was man früher gehaßt hatte. Mich überrascht es nicht, daß Sinn Féin zu einer Neuauflage der Social Democratic Labour Party (SDLP) mutiert ist, die von Anfang an den bewaffneten Kampf der IRA ablehnte und eine Verständigung mit London und den Unionisten predigte. Zum Teil verhält sich Sinn Féin heute sogar London-freundlicher als die SDLP. Ich kann mich nicht entsinnen, daß SDLP-Politiker IRA-Mitglieder als Kriminelle beschimpft und ihre Verhaftung verlangt haben, wie es heute Sinn Féin-Vertreter in Bezug auf republikanische Dissidenten tun. Mit Rücksicht auf die Stimmung in der katholisch-nationalistischen Bevölkerung hat die SDLP immer sehr vorsichtig agiert und politische Gewalttaten stets verurteilt, ihre Urheber aber niemals kriminalisiert. Also, um Ihre Frage, wie die Führung der IRA und Sinn Féin es so weit kommen lassen konnte, zu beantworten: Verhältnisse, wie sie heute vorherrschen, waren von Anfang an einkalkuliert.

SB: Also war Sinn Féin aufgrund ihrer reformistischen Position niemals in der Lage, eine Reform des nordirischen Polizeiwesens, die diesen Namen verdient hätte, zu verwirklichen?

AM: Meines Erachtens stand so etwas niemals zur Debatte. Wollte man die nordirische Polizei wirklich reformieren, hätte man zwei Dinge tun müssen: Erstens, sie in Einzelteile, die den neuen Nord-Süd-Institutionen unterstellt würden, zu zerlegen und zweitens, sie später mit der Garda Síochána (der Polizei der Irischen Republik - Anm. d. Red.) zusammenzulegen. Das wurde nicht getan, und so hat man es heute in Nordirland mit einer umgetauften RUC zu tun. Witzbolde nennen sie deshalb die Continuity RUC (Anspielung auf die republikanische Splittergruppe Continuity IRA - Anm. d. SB-Red.). Als Polizeibehörde ist der PSNI zweifelsohne sehr viel besser als die RUC, doch am Ende des Tages tut sie wie jede andere Polizeibehörde der Welt, was immer erforderlich ist, wenn die staatliche Autorität herausgefordert wird. Die Tatsache, daß der PSNI im Vergleich zur RUC viel weniger Republikaner verhaftet und auf Folter verzichtet, hängt nicht zuletzt damit zusammen, daß die Infragestellung bzw. Ablehnung der staatlichen Ordnung stark nachgelassen hat.

SB: Nichtsdestotrotz hat man den Eindruck, der PSNI interessiere sich vor allem dafür, republikanische Kritiker zu drangsalieren anstatt etwas gegen den Hooliganismus und Vandalismus in katholischen und protestantischen Armenvierteln zu unternehmen.

AM: Da unterscheidet sich die Vorgehensweise der Polizei in Belfast oder Derry nicht von der ihrer Kollegen in Dublin, Liverpool oder Amsterdam. In den Großstädten wird viel weniger gegen asoziale Elemente vorgegangen, als man es sich wünschen würde oder es eigentlich erforderlich wäre. Früher hieß es seitens Sinn-Féin-freundlicher Presseorgane wie der Andersontown News (Westbelfaster Lokalzeitung - Anm. d. SB-Red.), die Menschen in den katholisch-nationalistischen Vierteln müßten lediglich den PSNI akzeptieren und mit der neuen Polizeibehörde zusammenarbeiten, damit die Straßen nachts wieder sicherer seien. Das war ein Täuschungsmanöver. Das Versprechen hat sich nicht erfüllt. Der PSNI ist genauso wenig wie die Garda Síochána oder die Metropolitan Police in London in der Lage, etwas Grundlegendes gegen das Phänomen des asozialen Verhaltens zu unternehmen. Deshalb ist es nur natürlich, daß er sein Hauptaugenmerk auf diejenigen richtet, von denen angeblich eine "terroristische" Bedrohung des Staates ausgeht.

SB: In den letzten Jahren hat es eine heftige Kontroverse über die Frage gegeben, inwieweit die IRA-Führung die Hungerstreiks im Gefängnis Maze Anfang der achtziger Jahre absichtlich in die Länge zog, um Sinn Féin zum politischen Durchbruch zu verhelfen. Damals galt die Strategie der Waffe und der Wahlurne ("Armalite and Ballot-box" - Anm. d. SB-Red.), um den Sieg im Kampf um die Wiedervereinigung Irlands herbeizuführen. Hätte die damalige Strategie infolge des militärisch-propagandistischen Erfolgs des Hungerstreiks am Ende tatsächlich die Teilung erzwungen, wäre dann der Tod zusätzlicher IRA-Hungerstreikender gerechtfertigt gewesen?

MA: Nein. Als ehemaliger IRA-Kriegsgefangener sage ich, daß es durch nichts zu rechtfertigen gewesen wäre. Leute, die ihr Leben für eine Sache aufs Spiel setzen, sollten nicht durch dubiose Machenschaften den Tod finden.

SB: Wenn man aber als Kommandeur im Krieg die Gelegenheit hat, dem Gegner den alles entscheidenden moralischen Schlag zu versetzen und so das Ziel zu erreichen, für das die Freiwilligen ihr Leben in die Waagschale geworfen haben, ließe sich da nicht argumentieren, es wäre ebenso zu rechtfertigen, sie im Hungerstreik wie bei einem Überfall oder Bombenanschlag zu opfern?

MA: Die moralisch-ethischen Nachteile, die man dafür im Kauf nehmen müßte, überwögen den zu erzielenden strategischen Gewinn. Letztlich läuft es auf die Frage hinaus, wie weit man zu gehen bereit ist. Heute opfert man sechs Hungerstreikende und morgen könnten es zehn Kinder bei einem Bombenanschlag sein. Der Krieg ist ein schmutziges Geschäft und in Nordirland sind viele schlimme Dinge passiert. Der Mensch muß Vorrang vor der Waffe haben. Bis heute sieht sich die IRA Vorwürfen über die Art und Weise, wie sie den Krieg gegen den britischen Staat führte, ausgesetzt. Timothy Shanahan, der Professor der Philosphie an der Loyola Marymount University in Kalifornien ist, hat vor kurzem mit seinem Buch "The Provisional Irish Republican Army and the Morality of Terrorism", das ich übrigens für irgendein akademisches Journal rezensierte, die Moralität des Untergrundkampfes gegen die britischen Streitkräfte in Irland eingehend untersucht. Jedenfalls bin ich der Meinung, daß man im Krieg als Kommandeur nicht befugt ist, sich über die Rechte seiner Untergebenen, die in diesem Fall außerdem Freiwillige waren, hinwegzusetzen. Gerade die Hungerstreikenden, die einen so langsamen und grausamen Tod erlitten haben und deshalb zu Ikonen der republikanischen Bewegung geworden sind, hätte man über den Stand der Verhandlungen mit der Regierung Margaret Thatchers in Kenntnis setzen und ihnen selbst die Entscheidung überlassen sollen, ob sie ihre Aktion fortsetzen oder abbrechen. Würden Sie Ihre Frage Danny Morrison (dem früheren Pressesprecher von Sinn Féin - Anm. d. SB-Red.) stellen, der an der Entscheidung, den Hungerstreik zu verlängern, beteiligt gewesen ist und damit das Leben der letzten, die dabei starben, mutwillig opferte, glaube ich nicht, daß er offen den Standpunkt vertreten würde, die Entscheidung sei durch das Streben nach irgendeinem höheren Ziel gerechtfertigt gewesen.

SB-Redakteur & Anthony McIntyre - Foto: © 2011 by Schattenblick

SB-Redakteur & Anthony McIntyre
Foto: © 2011 by Schattenblick
SB: Grün, weiß, orange sind die Farben der irischen Staatsflagge und stehen für den Frieden zwischen katholischen Nationalisten und protestantischen Unionisten. Als jemand, der für die Dokumentation "Voices from beyond the Grave" sowohl mit Loyalisten als auch mit einfachen Mitgliedern der Großbritannien treu ergebenen Bevölkerung gesprochen hat, frage ich Sie, wie die Versöhnung in Irland zwischen Urbevölkerung und Nachfahren der von London eingesetzten Kolonisten zu erreichen wäre.

AM: Ich sehe nichts, was die Wunden des Bürgerkrieges heilen und die Menschen auf der Insel miteinander aussöhnen könnte - außer der Zeit. Ich bin immer noch häufig nördlich der Grenze und betrachte die Verhältnisse dort sehr genau. Obwohl die Versöhnung das erklärte Ziel des Karfreitagsabkommens gewesen ist, sind die Spannungen zwischen den Konfessionen heute genauso stark wie vor dreizehn Jahren. In Nordirland wird der Staat zwar nicht mehr von einer Konfession dominiert, doch die Gesellschaft ist entlang der konfessionellen Linie noch immer tief gespalten. Katholiken und Protestanten leben weitestgehend voneinander getrennt, besuchen eigene Schulen et cetera. Und obwohl Sinn Féin, die SDLP, die Democratic Unionist Party (DUP) und die Ulster Unionist Party (UUP) die Provinz gemeinsam regieren, befinden sich Nationalisten und Unionisten in politischer Dauerfehde. Die eine Seite versucht stets auf Kosten der anderen zu punkten und auf diese Weise die eigene Anhängerschaft zu mobilisieren.

Laut der marxistischen Analyse besteht die Funktion des Staates darin, die herrschende Klasse zu vereinigen, die beherrschten Klassen zu teilen und den Streit zwischen oben und unten auszusteuern. Genau das ist es, was wir in Nordirland beobachten können. Die staatliche Führung - Protestanten und Katholiken gleichermaßen - arbeiten zusammen, um die Menschen der unteren Schichten in einer Dauerfeindschaft zu halten. Da die Menschen am unteren Ende der Leiter ihre gegenseitige Feindschaft fast schon mit religiöser Hingabe pflegen, haben die da oben leichtes Spiel. Sie wären sogar blöd, wenn sie die Gelegenheit nicht nutzen würden. Statt die konfessionelle Trennungslinie zu überwinden hat das Karfreitagsabkommen sie institutionalisiert und zementiert.

SB: In Verbindung mit dem Rechtsstreit um die Protokolle der Zeugen in der Dokumentation "Voices from the Grave" wurden Sie vor kurzem von der Irish Times mit der Vermutung zitiert, die britischen Behörden versuchten das Material in die Finger zu bekommen, um Gerry Adams öffentlich diskreditieren und demontieren zu können. Da geht es um Hinweise, er hätte die Ermordung von Jean McConville, einem mutmaßlichen Spitzel der britischen Armee und die Beseitigung ihrer Leiche persönlich angeordnet. Warum sollten sie das machen, da er doch tatkräftig die Beendigung des Bürgerkrieges unterstützte, wodurch die innerirische Grenze unangetastet blieb?

AM: Was die plötzlichen Bemühungen Londons um die Aushändigung der Protokolle betrifft, die sich im Besitz des Boston College befinden, so darf man vom britischen oder irgendeinem anderen Staat keine einheitliche Logik erwarten. Ich denke schon, daß es innerhalb des PSNI und im britischen Staatswesen Leute gibt, welche die Gelegenheit, Adams bloßzustellen, unbedingt ergreifen wollen. Gleichzeitig gibt es auch Leute auf höherer Staatsebene oder in anderen Bereichen, die das Ganze kulanter sehen. Owen Paterson, der Nordirlandminister der liberal-konservativen Regierung David Camerons, ist die Angelegenheit höchst peinlich. Schließlich haben die Briten im Rahmen der Aufarbeitung zur Geschichte der nordirischen "Troubles" selbst vertrauliche Dokumente bezüglich der "Außerdienststellung" der paramilitärischen Waffen nach Ende des Konfliktes mit einem dreißigjährigen Veröffentlichungsverbot in die Obhut des Boston College gegeben. Schließlich ist es eine Vermutung, daß staatliche Stellen Adams ans Leder wollen. Für diese These gibt es keine handfesten Beweise. Nichtsdestotrotz liegt der Mord an Jean McConville, den Polizei und Staatsanwaltschaft anhand der Dokumente beim Boston College angeblich aufklären wollen, mehr als 30 Jahre zurück und bis vor kurzem hatten sie sich dafür kaum interessiert. Vom Polizeiombudsman wissen wir, daß in dieser Sache jahrzehntelang keine Ermittlungen durchgeführt wurden. Also mutet das plötzliche Interesse der Behörden seltsam an und gibt Anlaß zum Nachdenken. Ich weiß, daß Adams für den britischen Staat sehr nützlich war und es noch heute ist. Deshalb glaube ich nicht, daß dort auf höchster Ebene die Entscheidung gefällt worden ist, ihn einzukassieren. Gleichwohl gibt es im Staatsdienst Personen, die ihm Schwierigkeiten bereiten wollen.

SB: Möglicherweise um den aktuellen Höhenflug von Sinn Féin im Süden zu torpedieren? Schließlich hat sie die Zahl ihrer Mandate bei den Wahlen im Februar zum Unterhaus in Dublin verdreifachen können. Gerry Adams, der zuvor seine Sitze im britischen Unterhaus und im nordirischen Regionalparlament aufgegeben hatte, ist dabei die Wahl zum Abgeordneten für die Grafschaft Louth gelungen und tritt nun als Sinn-Féin-Fraktionsvorsitzender im Dáil an.

AM: Das glaube ich eher nicht. Vielmehr gehe ich davon aus, daß der Höhenflug von Sinn Féin im Süden nur von kurzer Dauer sein wird und sie sich dort nicht zu einer Volkspartei wie im Norden entwickeln wird. Sinn Féin hat lediglich vom katastrophalen Wahlergebnis der republikanischen Fianna Fáil profitiert, die lange Zeit an der Regierung war und deshalb für die Wirtschaftskrise und das Platzen der Immobilienblase abgestraft wurde. Wahrscheinlich wird sie sich in den kommenden Jahren nach einer Verjüngungskur erholen und ihren angestammten Platz als Volkspartei Irlands wieder einnehmen. Ich glaube nicht, daß Adams zum Erfolg der Sinn Féin bei der letzten Wahl zum Dáil beigetragen hat. Auch ohne ihn hätte sie ihr bisher bestes Ergebnis eingefahren. Im Gegenteil bin ich davon überzeugt, daß sein Wechsel von Belfast nach Dublin, um dort die Parteiführung zu übernehmen, eher abträglich war. Sinn Féin besitzt im Süden weitaus bessere und für die Wählerschaft dort attraktivere Vertreter als ihn. Bei einem Diskussionsabend in Belfast kurz vor Weihnachten habe ich Eoin O'Broin (linker Sinn-Féin-Vordenker aus Dublin - Anm. d. SB-Red.) erklärt, daß Adams nicht nach Dublin gegangen ist, um die Arbeiterschaft zur Macht zu verhelfen, sondern um die Partei im Süden an die Kandare zu nehmen und die linken Kräfte in Schach zu halten. Wenn wir etwas über Gerry Adams wissen, dann, daß er keine Prinzipien kennt. Um sich an der Macht zu halten, wird er die Partei nach rechts steuern. Ein linkes Regierungsbündnis in Dublin, bestehend aus Vertretern von Sinn Féin, der sozialdemokratischen Labour Party und der neuen United Left Alliance (ULA), ist ein Wunschtraum, der sich niemals erfüllen wird.

SB: Haben Sie vielleicht eine Erklärung dafür, warum Gerry Adams trotz erdrückender Beweise seine Mitgliedschaft in der IRA bis heute abstreitet und sich damit völlig unglaubwürdig macht? Gibt es vielleicht rechtliche Gründe? Könnte er trotz der generellen Amnestie im Zuge des Karfreitagsabkommens noch für irgend etwas - beispielsweise für die Hinrichtung von Jean McConville - juristisch belangt werden? Und stellt Ihrer Ansicht nach die Tatsache, daß er sich niemals zu seiner Rolle als führender IRA-Kommandeur bekannt hat, nicht eine Beleidigung aller anderen Freiwilligen, die Opfer auf sich genommen, das Leben riskiert und manchmal verloren und schreckliche Dinge gemacht haben, dar?

AM: Keiner seiner Ex-Kameraden verlangt von ihm, daß er endlich seine Rolle bei der IRA öffentlich eingesteht. Es würde vollkommen genügen, wenn er auf die Fragen der Journalisten über sein Verhältnis zur IRA antworten würde, daß er keinen Kommentar abgeben wolle. Wir haben das Problem, daß er in der Öffentlichkeit Lügen über seine Verbindung zur IRA erzählt. Damit hat er 1982, 1983 herum angefangen, als er einen Anwaltsbrief an die Irish Times schicken ließ und sich darin bescherte, sie hätte ihn als Stellvertretenden Oberkommandierenden der IRA bezeichnet, obwohl er nur der Vizepräsident von Sinn Féin wäre. Seitdem vergräbt er sich in dieser Lüge und gibt sich mit jeder Wiederholung nur noch mehr der Lächerlichkeit preis.

SB: Aber stecken hinter seinem komischen Verhalten nicht vielleicht juristische Überlegungen hinsichtlich einer eventuellen strafrechtlichen Verfolgung?

AM: Er müßte nur "Kein Kommentar" sagen. Damit wäre er juristisch auf der sicheren Seite.

SB: Falls er doch seine IRA-Mitgliedschaft zugeben würde, hätte das für ihn rechtliche Konsequenzen?

AM: Das läßt sich nicht gänzlich ausschließen, aber ich persönlich glaube nicht, daß eine solche Gefahr für ihn besteht. Er könnte es genauso machen wie Martin McGuinness, der vor einigen Jahren anläßlich seines Auftritts vor der Bloody-Sunday-Untersuchungskommission zugegeben hatte, Ende der sechziger Jahre der IRA beigetreten und, wie er behauptete, 1974 wieder ausgetreten zu sein. Vermutlich schreckt Adams vor diesem Schritt zurück, weil dann nach jahrelanger wiederholter Leugnung seiner IRA-Mitgliedschaft eine Lawine von Fragen auf ihn zurollen würde, unter anderem wegen seiner tatsächlichen Funktion innerhalb der IRA, seiner möglichen Verwicklung in den Fall Jean McConville und anderer sehr unappetitlicher Dinge. Darüber hinaus würde es sein Ansehen als internationaler Staatsmann schaden, zumal er überall auf der Welt, in Amerika und anderswo, als Friedensstifter auftritt. Wenn ich mich richtig entsinne, wird er auf der Website von Bill Clinton als "langjähriger Menschenrechtsaktivist" geführt. (lacht)

SB: (lacht ebenfalls) Im Jahresalbum 2010 der in Dublin erscheinenden Satire- und Skandalzeitschrift "Phoenix" gab es einen längeren Artikel, in dem die Behauptung aufgestellt wurde, die Aktivitäten der republikanischen Dissidenten von der Real IRA, der Continuity IRA et cetera würden maßgeblich vom britischen Inlandsgeheimdienst MI5 gesteuert, der damit seinen Etat und seinen Einfluß im Londoner Regierungsapparat sichern wolle. Für wie glaubwürdig halten Sie diese Behauptung?

AM: Nicht besonders glaubwürdig. Die republikanischen Dissidenten sind nicht mehr oder weniger das Ziel einer geheimdienstlichen Manipulation als die IRA selbst es gewesen ist. Ich glaube nicht, daß der MI5 an einem Wiederaufflammen der Gewalt in Nordirland wirklich interessiert ist. Gleichwohl gibt es Personen in dieser Organisation, die als Doppelagenten der Geheimdienste unterwegs sind. Doch so etwas gab es auch innerhalb der IRA. Ich glaube nicht, daß der britische Staat zwingend erforderlich ist, damit Leute sich gegen ihn erheben.

Damit will ich nicht ausschließen, daß es Personen auf der Operationsebene in der Real IRA und Continuity IRA gibt, die gleichzeitig für den MI5 arbeiten, aber hauptsächlich, um den Staat auf dem laufenden zu halten, und weniger, um gezielte Aktionen zu initiieren. Nach all den Enthüllungen der letzten Jahren über die Zusammenarbeit zwischen MI5, der Force Research Unit (FRU) des britischen Militärgeheimdienstes und den loyalistischen Paramilitärs dürfen sich die Briten keine Fehltritte mehr erlauben, die ihr Ansehen noch weiter beschädigen könnten.

SB: Der Vorfall von Massareene im März 2009, als zwei junge Soldaten am Abend vor ihrer Entsendung nach Afghanistan vor den Toren der Garnison erschossen wurden - die ersten und bisher einzigen Gefallenen, welche die britischen Streitkräfte seit 1998 in Nordirland zu beklagen haben - geben Anlaß zur Spekulation. Erstens war die Vorgehensweise der Angreifer einzigartig und für die IRA und republikanischen Dissidentengruppen untypisch. Die Soldaten wurden nicht mit einem Scharfschützengewehr aus der Entfernung oder einfach aus einem fahrenden Wagen erschossen. Sie wurden zunächst aus einem Wagen heraus angeschossen, woraufhin der Fahrer anhielt, sein Beifahrer ausstieg und die beiden verletzt am Boden liegenden Männer aus nächster Nähe exekutierte, bevor sich die Täter anschließend davon machten. Bis heute sind sie nicht gefaßt worden. Der Angriff fand zu einem Zeitpunkt statt, als der MI5 wegen der Verwicklung seiner Agenten in die Verschleppung und Folterung britischer Moslems durch die CIA am Pranger stand. Nach den Erschießungen von Massareene ebbte der Folterskandal um den MI5 plötzlich ab. Natürlich kann das alles Zufall gewesen sein, dennoch drängt sich der Verdacht auf, der MI5 habe der eigenen Regierung einen Schuß vor den Bug gesetzt und sich so auf eindrucksvolle Weise weitere Ermittlungen verbeten. Wie ist Ihre Meinung dazu?

AM: Je mehr das Ganze in die Verschwörungstheorie abgleitet, um so weniger komme ich da mit.

SB: Ihr Einwand ist berechtigt, dennoch lassen Sie uns über den Omagh-Anschlag vom August 1998 sprechen, der wenige Wochen nach der Ratizifierung des Karfreitagsabkommens durch eine gleichzeitige Volksbefragung beiderseits der irisch-irischen Grenze geschah. Die Explosion einer im Zentrum von Omagh plazierten Autobombe riß 29 Menschen, darunter eine mit Zwillingen schwangere Frau, in den Tod und verletzte Hunderte. Der Massenmord, der nach dem offiziellen Ende der "Troubles" erfolgte, hat nicht nur die republikanischen Dissidenten, die sich dazu bekannten, diskreditiert, sondern zugleich ging der schwerste Terroranschlag des Bürgerkriegs auf das Konto der Republikaner. Bis dahin galt der 17. Mai 1974, als protestantische Paramilitärs, vermutlich mit Unterstützung der britischen Armee, vier Autobomben in Dublin und Monaghan zur Explosion brachten, als der blutigste Tag des Konfliktes. So besaß der Anschlag von Omagh für London einen enormen propagandistischen Nutzen. Inzwischen weiß man, daß die britischen Behörden über den bevorstehenden Angriff im Bilde waren. Die Mobiltelefone derjenigen, die die Bombe über die Grenze nach Omagh transportierten, wurden vom GCHQ, dem britischen Pendant zur National Security Agency (NSA), abgehört.

Zwei Tage vor dem Anschlag hatte der RUC-Informant Kevin Fulton den Bombenbauer in der Nähe von Dundalk bei den letzten Vorbereitungen am Sprengkörper getroffen und daraufhin seinen Führungsoffizier von der bevorstehenden Operation in Kenntnis gesetzt. Bis heute ist niemand wegen dieses Verbrechens strafrechtlich verurteilt worden. Es läuft lediglich eine Zivilklage der Opferfamilien gegen eine Reihe von mutmaßlichen Beteiligten aus republikanischen Kreisen in South Armagh. Seltsam ist aber, daß in diesem Zusammenhang immer von Slab Murphy und seiner Clique die Rede ist, während in den Medien der Name von Joseph Patrick Blair, den Kevin Fulton getroffen haben will und den der DUP-Politiker Jeffrey Donaldson unter Berufung auf seine Immunität als Abgeordneter im britischen Unterhaus als den Bombenbauer von Omagh und einen MI5-Doppelagent identifiziert hat, niemals erwähnt wird. Können Sie sich aus alledem einen Reim machen?

AM: Ich denke, der MI5 war tief in den Omagh-Anschlag verwickelt. Ob sich die Verantwortlichen beim MI5 über das Ausmaß des Todes und der Zerstörung durch die Explosion im voraus im klaren waren, wissen wir nicht. Doch sie sind rücksichtslos genug, um solche Folgen in Kauf zu nehmen. Die Tragödie paßte ihnen ins Konzept. Ob sie mit einer Tragödie in dieser Dimension gerechnet haben, ist unklar. Jedenfalls sind die Beweise für ein Vorabwissen der Behörden meines Erachtens erdrückend. Es wäre nicht das erste Mal. Auch in den Jahren davor haben sie Anschläge, vor denen sie im Vorwege gewarnt worden waren, geschehen lassen. Doch nicht nur das, das RUC Special Branch (die frühere Sicherheitspolizei in Nordirland - Anm. d. SB-Red.) hat über Paddy Murray die Anschläge in North Antrim mitgeplant und abgesegnet. In North Belfast führte sogar ein Todeskommando des Ulster Volunteer Force (UVF) seine Operationen im Auftrag des RUC Special Branch aus. Nichtsdestotrotz glaube ich nicht an eine Verwicklung des MI5 in den Überfall auf die beiden Soldaten vor der Garnison Massareene. Die republikanischen Dissidenten sind gefährlich und motiviert genug. Sie sind nicht zwingend auf britische Hilfe angewiesen, um Anschläge durchführen zu können, wie das tödliche Bombenattentat auf den Polizisten Ronan Kerr vor einigen Monaten gezeigt hat.

SB: Sie haben in ihrem Buch Sinn Féins Führung und Anhängern vorgeworfen, daß sie sich in der Art, wie sie in den katholischen Arbeitervierteln Nordirlands Posten und Aufträge verteilen sowie Kritiker massiv unterdrücken, wie eine "grüne Mafia" verhalten. Können Sie das etwas näher erklären?

MA: Anfang der neunziger Jahre hatte die IRA aufgehört, eine Volksbefreiungsarmee zu sein, und war zur Geldbeschaffungsmaschine Sinn Féins geworden. Meines Erachtens hätte für Sinn Féin aus dem Verzicht der IRA auf militärische Operationen die Pflicht resultieren müssen, sich wie eine ganz normale politische Partei zu verhalten. Dies ist aber nicht passiert. Politische Gegner im katholischen Lager wurden von Sinn Féin-Anhängern eingeschüchtert und die Schutzgelderpressung bei Geschäftsinhabern lief nach wie vor. Die ganze Attitüde der IRA-Leute, nach dem Motto, "Wissen Sie, wer ich bin?", führte schließlich zu der brutalen Ermordung von Robert McCartney im Januar 2005 auf offener Straße nach einem belanglosen Streit zwischen ihm und einer Gruppe Republikaner in einer Belfaster Kneipe. Nicht von ungefähr hat dieser Mord und die Art, wie die IRA am Tatort alle forensischen Spuren verwischte, zahlreiche Augenzeugen des Streits zum Schweigen brachte und Sinn Féin-Anhänger McCartneys Lebensgefährtin und seine Schwester als Handlanger der britischen Staatsmacht diffamierten, nur weil sie Gerechtigkeit forderten, eine Welle der Empörung ausgelöst, die zu Recht dem Ansehen der Partei in ganz Irland schwer schadete.

SB: 2007 kam es in South Armagh zu einem ähnlich schockierenden Vorfall, als der 19jährige Paul Quinn von einigen Männern zu Tode geprügelt wurde. Wissen Sie vielleicht, worum es dabei ging?

AM: Soweit ich weiß, hat sich Paul Quinn einfach mit den falschen Leuten angelegt - IRA-Mitgliedern in South Armagh, die der Meinung sind, jeder müsse vor ihnen kuschen, wenn sie irgendwo auftreten. Aus ihrer Sicht hat der Junge ihnen nicht den notwendigen Respekt entgegengebracht. Ich glaube, Paul Quinn wußte nicht, mit wem er zu tun hatte und wie brutal diese Leute sind.

SB: Sie haben ihn in einen Heuschober gelockt und dann zu zwölft mit Eisenstangen und mit Nägeln gespickten Knüppeln zu Tode geprügelt. Sie sollen mit Overalls, Plastikhandschuhen und Gesichtsmasken verkleidet gewesen sein und anschließend den ganzen Tatort mit irgendeiner Chemikalie besprüht haben, um alle Spuren zu beseitigen. Nach Angaben des obduzierenden Artzes haben sie ihrem Opfer jeden einzelnen Knochen gebrochen.

AM: Ich weiß. Die Bestialität verschlägt einem die Sprache. Sie hätten ihn einfach mit einem Schlag auf den Hinterkopf töten und es wie einen Unfall aussehen lassen können. Aber nein, das Ganze sollte für alle anderen Menschen in der Gemeinde wie eine Machtdemonstration wirken, nach dem Motto: "So ergeht es dem Nächsten, der aufmuckt". Der örtliche Sinn-Féin-Abgeordnete Conor Murphy hat die Quinn-Familie im Regen stehen lassen und sich dabei nicht gerade mit Ruhm bekleckert.

SB: Vielen Dank Anthony McIntyre für dieses Gespräch.

Millmount Fort, das historische Wahrzeichen der Stadt Drogheda, unter dem Amergin Glúingeal, Anführer der Milesier, die der historischen Überlieferung zufolge Irland in grauer Vorzeit erobert und dabei die Magierrasse der Tuatha Dé Danann bezwungen haben sollen, angeblich begraben liegt - Foto: © 2011 by Schattenblick

Millmount Fort, das historische Wahrzeichen der Stadt Drogheda,
unter dem Amergin Glúingeal, Anführer der Milesier, die der
historischen Überlieferung zufolge Irland in grauer Vorzeit erobert
und dabei die Magierrasse der Tuatha Dé Danann bezwungen haben sollen,
angeblich begraben liegt
Foto: © 2011 by Schattenblick

30. Juli 2011