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INTERVIEW/042: Irlands neuer Widerstand - Mitgelitten, eingeschritten ...    Fiona Fitzpatrick & Derek O'Dwyer im Gespräch (SB)


Interview mit Fiona Fitzpatrick & Derek O'Dwyer, Limerick, 28. Mai 2015


Auch wenn die Obdachlosigkeit in Dublin das sichtbarste Zeichen gesellschaftlicher Mißstände in Irland ist, hat die 2008 einsetzende Finanzkrise das Leben der mehr als drei Millionen Menschen auf dem Land härter getroffen als die über eine Million Hauptstadtbewohner. Wegen Sparzwang und Kürzungen staatlicher Ausgaben werden viele kleine Postämter und Polizeiwachen geschlossen. Die Kaufkraft in den Dörfern und Kleinstädten läßt nach. Die Landflucht entvölkert ganze Regionen. Über die aktuelle Situation außerhalb Dublins sprach der Schattenblick am 28. Mai mit der Lehrerin Fiona Fitzpatrick und dem Unternehmensberater Derek O'Dwyer, die beide in der Nähe der Stadt Limerick im Südwesten Irlands leben und arbeiten und seit 2011 zu den aktivsten Mitgliedern der Protestgruppe "Ballyhea Says No" gehören.


Fiona Fitzpatrick & Derek O'Dwyer am Kaffeetisch im Clarion Hotel - Foto: © 2015 by Schattenblick

Fiona Fitzpatrick & Derek O'Dwyer
Foto: © 2015 by Schattenblick

Schattenblick: Frau Fitzpatrick und Herr O'Dwyer, was hat Sie dazu bewogen, sich der Kampagne "Ballyhea Says No" anzuschließen?

Fiona Fitzpatrick: Irgendwann 2011 habe ich von dieser verrückten, von Diarmuid O'Flynn initiierten Protestaktion in Ballyhea gegen die Bankenrettung gehört. Sie schien mir eine vernünftige Reaktion auf die Tatsache zu sein, daß die Regierung in Dublin Steuergelder in Milliardenhöhe zur Begleichung der Verbindlichkeiten der insolventen irischen Banken an deren Anleihegläubiger überwies, während sie im Gegenzug wegen leerer Kassen drastische Kürzungen der staatlichen Ausgaben in den Bereichen Bildung, Gesundheit und Soziales vornahm. Damals hatte wegen der Wirtschaftskrise bereits eine massive Auswanderungswelle junger Menschen aus Irland eingesetzt. Sie löste bei mir als Mutter die Befürchtung aus, wenn sich nichts ändere, könnte ich auch irgendwann einmal am Flughafenterminal stehen und weinend mitansehen müssen, wie meine eigenen drei Kinder das Land für immer verlassen. Also war es wegen meiner Kinder und deren Zukunft, weshalb ich dann angefangen habe, jeden Sonntag in Ballyhea mitzumarschieren.

Ich war und bin der Meinung, daß man etwas machen muß, um die Lebensbedingungen für die Menschen im allgemeinen und für die Zukunftsperspektive der Jugend im besonderen positiv zu verändern. Für viele Leute ist der erste Schritt vom Bürgersteig auf die Straße, von politischer Passivität zum gesellschaftlichen Engagement, der schwerste. Bei mir war es der Mutterinstinkt, der mich anfangs auf die Straße trieb. Seitdem ist es mein soziales Gewissen, das mich weiter antreibt. Je mehr ich über die Auswirkung der Wirtschaftskrise und die menschlichen Schicksale erfahre, die dadurch negativ beeinflußt sind, umso weniger bin ich bereit, die bestehenden Verhältnisse zu akzeptieren. Die Regierungsparteien Fine Gael und Labour wollen uns weismachen, Irland sei wirtschaftlich aus dem Schlimmsten heraus und befinde sich auf dem Weg der Besserung. Dies deckt sich nicht mit der Wirklichkeit, die ich täglich erlebe. Wenn ich mich in meinem Umfeld umschaue, sehe ich nur Verwüstung. Deshalb meine ich, müssen wir diese Kampagne fortsetzen, bis wir unser Ziel, einen Schuldenschnitt für den irischen Staat, erreicht haben.

Derek O'Dwyer: Ich kann das nur bestätigen, was Fiona über die Zerstörung menschlicher Existenzen und Lebensläufe sagt. Bis 2013 arbeitete ich noch in London als Projektleiter bei der BBC. Obwohl ich an den Wochenenden nach Hause kam, habe ich bis dahin eher aus der Distanz die Entwicklung in Irland - die Bankengarantie im September 2008, den Einzug der Troika und den Verlust der irischen Souveränität nach dem Beschluß eines finanziellen "Rettungspakets" im November 2010, die vernichtende Niederlage der Regierungskoalition aus Fianna Fáil und Grünen im Frühjahr 2011 und deren Ersetzung durch die neue Administration aus Fine Gael und Labour et cetera - verfolgt. Irgendwann 2011 bin ich beim Lesen im Internet über Diarmuids Blog "The Chattering Magpie" [1] gestolpert. Dort die Einzelheiten zu lesen, wie der irische Staat praktisch jede Woche riesige Geldbeträge an irgendwelche Anleihegläubiger überwies, um die Schulden der irischen Banken abzutragen, hat mich entsetzt. Also habe ich auch begonnen, mich an dem allsonntäglichen Marsch in Ballyhea zu beteiligen. Gespräche mit den anderen Aktivisten haben mir die Augen geöffnet, in welch ungeheurem Ausmaß der irische Steuerzahler und der irische Staat dazu herangezogen wurden, die kommerziellen Schulden privatwirtschaftlicher Akteure zu bezahlen. Für mich war und ist das bis heute vollkommen ungerecht und deshalb inakzeptabel.

Ich kann mich gut erinnern, wie die Regierung 2012 erfolgreich die Bürger Irlands zur Annahme des Europäischen Fiskalpakts drängte. Im Vorfeld der Volksbefragung im Mai jenes Jahres hieß es, stimmten die irischen Wähler dem Abkommen zu und blockierten es nicht, würde es ein entsprechendes Quid pro quo seitens der europäischen Partner in der Frage der Staatsschulden geben. Der Rat der EU-Finanz- und Wirtschaftsminister (ECOFIN) hätte dem zugestimmt, Berlin auch, suggerierte die irische Regierung im Vorfeld der Abstimmung. Umso ärgerlicher war es danach mitansehen zu müssen, wie dieses Versprechen nicht in Erfüllung ging, sondern statt dessen die Schulden der irischen Privatbanken von der Regierung in Staatsschulden umgewandelt wurden. Gegen diesen Betrug haben im Grunde nur die Menschen in Ballyhea und der benachbarten Kleinstadt Charleville lautstark und öffentlich protestiert.

Wir müssen die Flamme des Protests am Leben erhalten, denn die Schulden, welche der Staat damit übernommen hat, und der Anteil Irlands an der Rettung des europäischen Bankensystems sind beide zu groß, als daß man das durchgehen lassen kann. In den letzten Jahren hat es mich immer wieder geärgert, wenn Leute von einer Rezession in Irland sprachen. Es gab keine Rezession nach herkömmlichen Kriterien, sondern einen von den Banken induzierten Crash, mit dessen Folgen wir als einfache Bürger irgendwie klarzukommen versuchen. Leider haben Politik und Wirtschaftseliten in Irland entschieden, daß die Bürde dieses Crashs überproportional von den Schwächsten der Gesellschaft getragen werden soll.

SB: Halten Sie die laufende Aktion "Ballyhea Says No" für einen Erfolg, und war es einfach die Hartnäckigkeit, jeden Sonntag - komme, was wolle - einen Protestmarsch auf der Landstraße zwischen Cork und Limerick durchzuführen, welche die öffentliche Aufmerksamkeit erregt hat?


Am Clarion Hotel fließt der Shannon, der längste Fluß Irlands, vorbei - Foto: © 2015 by Schattenblick

Das Clarion in Limerick - das Hotel mit den meisten Stockwerken in Irland
Foto: © 2015 by Schattenblick

FF: Erst wenn es einen Schuldenschnitt für Irland gibt, können wir von Erfolg sprechen. Vorher nicht. Dessen ungeachtet haben wir mit der Kampagne zumindest einen Teil der irischen Öffentlichkeit für das Thema der Schuldscheine der Anleihegläubiger und die ungerechte Übernahme privater Bankenschulden durch den einfachen Steuerzahler sensibilisiert. Ich glaube, zunächst konnten die wenigsten damit etwas anfangen, denn die Summen waren und sind so gigantisch. Wir sind herumgereist und haben versucht, die Menschen über die Schuldenproblematik aufzuklären. Erst als die schmerzlichen Kürzungen vorgenommen wurden und die Schwächsten trafen - alleinerziehende Mütter, behinderte Kinder, Leute, die alte Verwandte zu Hause pflegen et cetera -, begannen die Menschen den Zusammenhang zwischen dem Wegfall staatlicher Leistungen und der Schuldentilgung zu verstehen.

Im Wahlkampf um die EU-Wahlen im Frühjahr 2014 spielte die Frage der Staatsverschuldung und der ungerechten Lastenverteilung eine nicht geringe Rolle. Das hing damit zusammen, daß Diarmuid O'Flynn durch seine Kandidatur für den Bezirk Irland Süd die Vertreter der etablierten Parteien mit unangenehmen Fragen bezüglich der Schuldscheine und der Geldvernichtung durch die Irische Zentralbank konfrontieren konnte, darunter mindestens einmal bei einer Debatte im staatlichen Fernsehen. Auch wenn die Mainstream-Medien die "Ballyhea Says No"-Gruppe so gut wie möglich ignorieren, ist es uns gelungen, über die sozialen Medien eine nicht geringe Gegenöffentlichkeit zu erzeugen. Inzwischen sind die Staatsschulden ein wichtiges Thema.

Jedesmal wenn ich an den Protestaktionen gegen die Einführung von Wassergebühren teilnehme - eine Maßnahme, welche quasi das ganze Land seit 2014 in Aufruhr versetzt -, höre ich, wie die Menschen auch auf das Thema der Schuldscheine kommen und die Tatsache beklagen, daß ein erheblicher Teil des staatlichen Steueraufkommens zur Begleichung der Schulden der irischen Großbanken aufgewendet wird und dadurch für andere, sinnvollere Zwecke fehlt. Unter anderem durch unsere Treffen mit Vertretern der EU-Kommission in Brüssel, der EZB in Frankfurt und der Irischen Zentralbank in Dublin haben wir immerhin geholfen, das Thema Schuldenschnitt am Leben zu erhalten. Enttäuschend war jedoch dabei, wie wenig die Mainstream-Medien in Irland über diese ungewöhnlichen Begegnungen berichtet haben. Vielleicht hätten wir das als Kompliment betrachten müssen, wie sehr es uns gelungen war, Medien und Politik in Irland, die das Thema Schuldenschnitt meiden wie der Teufel das Weihwasser, in Verlegenheit zu bringen.

SB: Inwieweit hat die Kampagne "Ballyhea Says No" mit zur Entstehung der Welle an Anti-Austeritätsprotesten, die Irland seit rund 18 Monaten erfaßt, beigetragen?

FF: Ich möchte den Einfluß unserer kleinen Gruppe nicht überbewerten. Bei uns gibt es Menschen aus jeder gesellschaftlichen Schicht und jeden Alters. Im Grunde stellen wir einen Querschnitt der irischen Gesellschaft dar. In den letzten Jahren sind überall in Irland Initiativen entstanden, die gegen den einen oder anderen Aspekt der Austeritätspolitik der Regierung protestieren, sei es die Schließung eines örtlichen Krankenhauses, die Kürzung der Mittel für behinderte Kinder oder ähnliches. Die Medien haben über solche Proteste meines Erachtens unzureichend berichtet und sich statt dessen an der Propagandakampagne der Regierung beteiligt, wonach Irland die schwerste Phase der Krise hinter sich habe und auf dem Weg der wirtschaftlichen Gesundung sei. Ein solches Fazit deckt sich nicht mit dem, was ich in meinem Umfeld erlebe. Persönlich würde ich eher von Verwüstung als von Gesundung sprechen.

DO'D: Es hat schon eine Diskussion um die Diskrepanz zwischen der vermeintlichen Duldsamkeit der Iren und der angeblich weit stärkeren Protestbereitschaft der Menschen in den EU-Südländern Spanien und Griechenland gegeben. Es wurden hierfür verschiedene Ursachen, darunter der postkoloniale Reflex und der Einfluß der katholischen Kirche, postuliert. Ich glaube, daß die meisten Iren die Krise meistern wollten und deshalb zunächst bereit waren, den Gürtel enger zu schnallen. Viele hatten Angst, landesweite Proteste könnten die Krise verschärfen, indem sie ausländische Investoren abschreckten. Deshalb waren die Leute eher bereit, sich an kleinen Protesten zu beteiligen, die sich gegen irgendwelche lokalen Mißstände richten, als zum Beispiel an einem Generalstreik. Niemand wollte, daß die internationalen Konzerne, die hier tätig sind und bei denen viele Menschen arbeiten, ihre Zelte abbrechen und woanders hinziehen. Die Regierung schürte die Ängste vor einer solchen Entwicklung, um die Bevölkerung ruhig zu halten.

Die Einführung der Wassergebühren hat jedoch die Lage stark verändert. Die Menschen haben begriffen, daß es sich hier nicht einfach um eine zusätzliche staatliche Gebühr um mehrere hundert Euro im Jahr oder die übliche Inkompetenz und Korruption bei der Schaffung einer neuen Behörde, in diesem Fall Irish Water, handelt, sondern um die Privatisierung einer der wichtigsten Ressourcen des Landes und die Transformation der Gesellschaft nach neoliberalen Maßgaben. Dadurch sahen die Menschen ihre Zukunft und die ihrer Kinder gefährdet und gingen deshalb zu Hunderttausenden auf die Straße. Unsere Aufgabe bei der Kampagne "Ballyhea Says No" ist es, die Flamme des Protests am Leben zu erhalten und den Finger auf die fortlaufende Ausplünderung der irischen Staatskasse gerichtet zu halten. Wenn man in Irland mit den Leuten über Milliarden redet, da schalten sie gleich ab. Derlei Summen sind viel zu groß und viel zu abstrakt. Man erreicht die Menschen viel mehr, wenn man ihnen erzählt, daß die Zentralbank in Dublin letzte Woche 500 Millionen Euro an die internationalen Gläubiger überwiesen hat und ihnen in einigen Wochen eine ähnlich große Tranche zukommen läßt. Da erregen sich die Gemüter, weil man solche vergleichsweise geringeren Summen in Relation zu den Kürzungen der staatlichen Ausgaben setzen kann.

FF: Eingangs sagte ich, wie schwer es mir fiel, an meiner ersten Demo teilzunehmen, sozusagen den Schritt vom Bürgersteig auf die Straße zu machen. Ich glaube, daß wir in Irland dazu konditioniert worden sind, Protestieren als etwas Illegitimes, fast Kriminelles zu betrachten, nach dem Motto, so etwas machen nur Unruhestifter. Schaut man sich aber die Zusammensetzung der Ballyhea-Gruppe an, da könnte man kein durchschnittlicheres Häuflein an Menschen finden, selbst wenn man es wollte. Weil wir so normal in Anführungszeichen sind, glaube ich schon, daß die "Ballyhea Says No"-Kampagne dazu beigetragen hat, die üblichen Klischees über Protestler und deren Motivation ein Stück weit zu demontieren. Im Vergleich zu 2011, dem Jahr, in dem wir anfingen, glaube ich, daß in Irland inzwischen das Protestieren und die Teilnahme an irgendwelchen Demos insgesamt viel gesellschaftsfähiger geworden ist. Es marschieren nicht mehr nur die jungen Wilden aus der Arbeiterklasse, sondern einfache Rentner sowie Angestellte und Freiberufler der Mittelschicht zum Beispiel.


Fiona Fitzpatrick in Nahaufnahme mit langem braunen Haar und schwarzer Jacke - Foto: © 2015 by Schattenblick

Fiona Fitzpatrick
Foto: © 2015 by Schattenblick

DO'D: Es kommt noch etwas hinzu. Viele von uns im Süden Irlands sind mit Fernsehbildern von den gesellschaftlichen Unruhen und der sogenannten Troubles in den sechs nördlichen Grafschaften aufgewachsen. Aus dem Für und Wider der Bürgerrechtsbewegung in Nordirland hat sich dort Ende der sechziger Jahre ein militärischer Konflikt entwickelt, der drei Jahrzehnte dauerte, den Haß zwischen Katholiken und Protestanten verschärfte und mehr als 3500 Menschen das Leben kostete. Mitansehen zu müssen wie der Eintritt für eine gerechte gesellschaftliche Forderung außer Kontrolle gerät, hat viele Menschen meiner Generation geprägt und ihnen ein gewisses Unbehagen eingeimpft, was Demonstrieren und ziviler Ungehorsam betrifft.

Unsere Erwartungen bezüglich der Unterstützung der hiesigen Medien für unsere Kampagne waren von Anfang an niedrig. In Irland ist die Presse, von wenigen Ausnahmen einmal abgesehen, weitgehend gleichgeschaltet. Der staatliche Rundfunk RTÉ verbreitet stets die Regierungslinie, während sich die meisten privaten Fernseh- und Radiosender sowie weite Teile der Zeitungslandschaft in den Händen weniger Großunternehmen befinden. Publizisten wie Constantin Gurdgiev, ehemaliger Chefredakteur der Zeitschrift Business & Finance und heutiger Gastdozent für Makroökonomie am Trinity College Dublin, welche die Forderung nach einem Schuldenschnitt erheben und sachliche Einwände gegen den Regierungskurs geltend machen, werden von den Medien geschnitten, bekommen ihre Gastkommentare bei den auflagenstarken, überregionalen Zeitungen Irish Times und Irish Independent nicht veröffentlicht oder werden zur Teilnahme an den Gesprächsrunden im RTÉ-Radio und -Fernsehen nicht eingeladen. Gurdgievs Blog, True Economics [2], kann ich nur empfehlen.

SB: Gibt es auch andere Beispiele für die politisch gewollte Eingrenzung der finanz- und wirtschaftspolitischen Debatte in Irland?

DO'D: Man muß sich nur die Machenschaften in Verbindung mit der 2009 geschaffenen irischen Bank namens National Asset Management Agency (NAMA) und der 2013 aus der Ruine der beiden insolventen Finanzinstituten Anglo Irish Bank und Irish Nationwide Building Society entstandenen Irish Banking Resolution Corporation (IBRC) ansehen. In Irland wissen selbst die Hunde auf der Straße, daß hinter den Kulissen die nach dem Platzen der Immobilienblase übrig gebliebenen Vermögenswerte des irischen Bausektors unter Wert und unter der Hand verkauft werden, häufig genug an die früheren Besitzer, die der Staat von ihren faulen Krediten befreit hat. Während es auf Facebook, Twitter, bei Indymedia und einigen Blogs von Hinweisen auf solche Machenschaften nur so wimmelte, mußte man lange Zeit in der Mainstream-Presse nach entsprechenden Berichten mit der Lupe suchen.

Erst, als die beiden linken Abgeordneten Mick Wallace und Catherine Murphy unter Inanspruchnahme ihrer parlamentarischen Immunität begonnen haben, die Hinterzimmerdeals von NAMA und IBRC respektive den Verkauf des Unternehmens Siteserv an den Milliardär Dennis O'Brien und seinen anschließenden Großauftrag zur Installierung von Wasserzählern im Großraum Dublin öffentlich zu kritisieren, nahm die reguläre Presse davon Notiz. Die Abneigung der meisten irischen Journalisten, sich mit solchem Treiben zu befassen, kann man leicht erklären. Dennis O'Brien gehört nicht nur das größte Medienimperium des Landes, sondern er hat in den letzten Jahren in Verbindung mit kritischen Berichten über sich und seine Geschäfte Dutzende von Journalisten und Redaktionen wegen Diffamierung entweder angezeigt oder durch Anwaltsbriefe mit einer Klage gedroht. Da das irische Diffamierungsgesetz den Kläger stark begünstigt, wird es von mächtigen Leuten wie O'Brien, denen ganze Anwaltskanzleien zur Verfügung stehen, angewandt, um die Presse erfolgreich einzuschüchtern.

FF: O'Briens jüngste Unterlassungsklage gegen RTÉ wegen der Berichterstattung über Catherine Murphys Ausführungen im Parlament in Sachen Siteserv und Wasserzähler-Auftrag zeugt von Egomanie und einer anti-demokratischen Haltung. Oligarchen gibt es nicht nur in Rußland und dem ehemaligen Ostblock. Wir haben auch welche in Irland, allen voran O'Brien.

DO'D: Man muß sich vorstellen: Bei der Londoner Financial Times findet man häufiger als bei der liberalen Irish Times kritische, linkstendierende Berichte über die wirtschaftliche Situation in Irland. Weltberühmte ausländische Wirtschaftsexperten wie Joseph Stiglitz, Paul Krugman, William Black und Martin Wolf haben dezidierte Beiträge über die Gründe für den Bankencrash in Irland und dessen verkorkste Bewältigung verfaßt, nur werden ihre Artikel von irischen Publikationen kaum veröffentlicht, weil sie vor allem die inzestuöse Klüngelei zwischen Politik und Wirtschaft auf der grünen Insel anprangern. Das wollen die irischen Eliten nicht an die große Glocke gehängt bekommen. Solche ketzerischen Artikel muß man deshalb im Internet auf den Webseiten der ausländischen Presse lesen.

Diarmuid O'Flynn und ich haben im vergangenen November eine Diskussionsrunde auf David McWilliams' Wirtschaftsforum "Kilkenomics" in Kilkenny moderiert. Es nahmen per Live-Schaltung sowohl Bill Black als auch Bill Gross, der ehemalige Chief Investment Officer bei PIMCO, dem größten Rentenfonds der Welt, daran teil. Gross, dessen Ruf in der Finanzwelt legendär ist, zeigte für die Behauptung der Dubliner Regierung, sie dürfte den Anleihegläubigern der irischen Banken keinen Schuldenschnitt zumuten, weil die internationalen Anleger sonst das Vertrauen in Irland als Investitionsort verlieren könnten, keinerlei Verständnis. Gross, der bei PIMCO jahrelang Finanzanlagen im Wert von mehr als einer Billion Dollar verwaltet hatte, meinte, daß sei Humbug. Irland habe die moralischen Argumente auf seiner Seite und sei dazu mehr als berechtigt, einen Beitrag der Anleihegläubiger zur Bankensanierung einzufordern, statt dem Steuerzahler die ganze Last aufzuzwingen. Säße er in der irischen Regierung, würde er die Anleihegläubiger zum Teufel jagen, erklärte Gross. Die Märkte würden die Entscheidung akzeptieren, meinte er auch. Warum die Entscheidungsträger in Dublin dies dennoch nicht machen, konnte auch er als Finanzfachmann nicht erklären. Für ihn sähe es so aus, als verstünden die politisch Verantwortlichen in Dublin nicht, wie der Anleihe-Markt funktioniere, resümierte er.

SB: Liegt die Erklärung für das sonderbare Verhalten der irischen Regierung nicht darin, daß sie den Schuldenschnitt nicht will, sondern die hohen Kosten der Bankenrettung dazu benutzt, um bestimmte Maßnahmen, die früher politisch indiskutabel gewesen wären, wie drastische Kürzungen der Ausgaben für Bildung, Gesundheit und Soziales, die Übergabe bisheriger staatlicher Aufgaben an die Privatwirtschaft sowie die Veräußerung weiter Teile des Volksvermögens an Privatinteressenten, durchzusetzen?

DO'D: Ich denke, das trifft den Kern der Sache.

FF: Als wir bei "Ballyhea Says No" anfingen, waren wir einfach eine Protestgruppe. Doch je mehr wir uns mit den Hintergründen der Immobilienblase, deren Platzen und der Bankenrettung befaßten, um so mehr entwickelten wir uns zu einer richtigen Kampagne. Wir trafen uns mit wichtigen Leuten in Europa, weil wir dachten, die Verwirklichung unseren Anliegens sei über die europäischen Institutionen zu erreichen. Eine Person in Brüssel, die uns sehr ermutigt hat, war Sharon Bowles, die britische Vorsitzende des Ausschusses für Wirtschaft und Währung am EU-Parlament. Bowles, die nach dem Ende der letzten Legislaturperiode 2014 aus dem EU-Parlament ausscheiden, in den Vorstand des Londoner Stock Exchange wechseln sollte und als künftige Chefin der Bank of England gehandelt wird, sagte uns damals, sie verstehe nicht, wie die ursprüngliche Regierung aus Fianna Fáil und Grünen die gigantischen Schulden der irischen Banken einfach auf den Staat übertragen und warum die neue Administration aus Fine Gael und Labour nichts dagegen unternommen habe. Sie hat für uns unter anderen ein Treffen mit Isztvan Szekely, der zuletzt bei der EU-Kommission den irischen Haushaltsentwurf prüfen und absegnen mußte, organisiert.

Beim Europäischen Rat haben wir einen ranghohen Wirtschaftsberater des damaligen Präsidenten Herman van Rompuy getroffen. Dieser Mann sagte uns, es bestünde die Möglichkeit eines Entgegenkommens der Troika in bezug auf die Schulden, welche der irische Staat bei der Auflösung der Anglo Irish Bank und der Irish Nationwide Building Society übernommen habe; Irland habe bei den EU-Institutionen einen Bonus, denn man wisse dort, was Dublin 2008 und danach alles geleistet habe, um die kontinentweite Bankenkrise unter Kontrolle zu bringen; die Regierung in Dublin müsse nur dem Wunsch nach einem Schuldenschnitt vielleicht etwas mehr Nachdruck verleihen. Bis wir das hörten, hatten wir angenommen, die irische Regierung tue alles, um den Schuldenberg reduziert zu bekommen. Von namhaften Vertretern der EU-Institutionen zu erfahren, daß dies nicht der Fall war, hat uns erschüttert.

Wir trafen uns auch mit den irischen Abgeordneten in EU-Parlament. Sie sagten uns, daß sie in Brüssel und Strasbourg einen Gutteil ihrer Zeit damit verbrachten, die Vertreter anderer Staaten von dem Irrglauben zu befreien, den die Dubliner Regierung in die Welt gesetzt habe und wonach alles bei der Wirtschaft Irlands wieder im Lot sei. Nach einem Treffen mit Patrick Honohan, dem Chef der Irischen Zentralbank, kamen wir in Frankfurt mit zwei Vertretern der EZB zusammen. Sie mußten von mehreren Ideen befreit werden - erstens, daß während der Jahre des keltischen Tigers in Irland "alle gefeiert" hätten, so die berüchtigte Formulierung, mit der 2010 der damalige Finanzminister Brian Lenihan das ganze Volk für die Sünden der irischen Banken- und Bausektoren sowie die Versäumnisse der Regierung in Haft nehmen wollte, und zweitens, daß das Land die Talsohle bereits durchschritten habe und die wirtschaftliche Erholung bereits im vollen Gange sei. Beide Thesen stimmen nicht. An jeder Stelle in Europa stießen wir auf Beamte und Politiker, die über die Lage in Irland falsch informiert worden waren - und zwar von der irischen Regierung!

In Irland haben wir anschließend mit oppositionellen Abgeordneten der linken Technical Group, Sinn Féin und sogar welchen von Fianna Fáil über die Schuldenproblematik gesprochen. Aufgrund dieser Gespräche hat die Opposition im November 2013 dem Parlament einen eigenen Gesetzentwurf zur Abstimmung vorgelegt, die Regierung in Dublin möge bei EU-Kommission und der EZB formell fragen, ob nicht die Schuldscheine in Höhe von 25 Milliarden Euro, mit denen 2010 der irische Staat die Verbindlichkeiten von Anglo Irish und Irish Nationwide übernommen habe, für nichtig erklärt werden könnten. Wie nicht anders zu erwarten war, hat die Regierungsmehrheit aus Fine-Gael- und Labour-Abgeordneten den Entwurf abgeschmettert. Bei der Debatte haben sie sich über das Ansinnen der Opposition lustig gemacht und es als realitätsfern verhöhnt. "Wir werden nicht fragen" - so lautete die klare Botschaft der Regierungskoalition. Auf den Regierungsbänken gibt es zahlreiche Abgeordnete, die glauben, hinter den EU-Kulissen würden Premierminister Kenny und Finanzminister Michael Noonan doch noch auf einen irgendwie gearteten Schuldenschnitt hinarbeiten. Wir haben ihnen immer wieder gesagt, daß das nicht stimmt. In ihren Erklärungen weisen Kenny und Noonan jede Forderung nach einem Schuldenerlaß als kontraproduktiv und überflüssig zurück, während alle in den europäischen Institutionen, mit denen wir gesprochen haben, sagen, daß Dublin absolut nichts in dieser Richtung unternimmt.


Glasfassade des 60 Meter hohen, runden Turms 1 am Riverpoint-Complex - Foto: © 2015 by Schattenblick

Das Riverpoint-Gebäude, die markanteste architektonische Hinterlassenschaft des früheren Baubooms in Limerick
Foto: © 2015 by Schattenblick

DO'D: Es fragen sich viele Leute natürlich, warum sie es nicht tun. Dafür gibt es zwei Antworten, meines Erachtens. Erstens hat die derzeitige Regierungskoalition aus Fine Gael und Labour die Parlamentswahlen im Februar 2011 mit dem Versprechen gewonnen, sie würden auf der EU-Ebene eine für die irische Bevölkerung bessere Regelung der Schuldenproblematik als die Vorgängeradministration aus Fianna Fáil und den Grünen erzielen. Innerhalb weniger Wochen nach dem Amtsantritt wurden sie in Brüssel und Berlin eines Besseren belehrt. Wie die Gespräche dort gelaufen sind, wissen wir nicht. Ich nehme an, den irischen Regierungsvertretern fehlte sowohl der nötige Kampfwille als auch der finanztechnische Sachverstand, um ihre Forderung nach einem Entgegenkommen bei den Staatsschulden durchzusetzen. Zweitens haben wir es hier mit einer Entwicklung zu tun, die seit mehr 30 Jahren unter dem Begriff Neoliberalismus in fast allen Staaten der Welt für eine fortlaufende Ressourcenverteilung von unten nach oben sorgt. Dem kann sich Irland, egal wer hier regiert, schwer entziehen.

Das Einsetzen der Finanz- und Wirtschaftskrise 2008 hat denjenigen Kräften, welche die neoliberale Transformation der Gesellschaft vorantreiben, eine Steilvorlage dafür geboten, ihre Vorstellungen - Privatisierung von Volksvermögen, Zurückdrängung der öffentlichen Hand aus vielen wirtschaftlichen Bereichen u. v. m. - mit noch drastischeren Maßnahmen wie bisher in die Tat umzusetzen. In Irland wie in anderen Staaten gibt es gut vernetzte Politiker und Geschäftsleute, welche die neoliberale Agenda umzusetzen versuchen, weil sie davon profitieren.

Ein gutes Beispiel dafür ist Peter Sutherland, der als enger Berater von Premierminister Kenny gilt, einst irischer Generalstaatsanwalt und später EU-Kommissar war und heute im Vorstand des internationalen Finanzkonzerns Goldman Sachs sitzt. Die Kontakte des ersten WTO-Vorsitzenden reichen von der New Yorker Wall Street bis zur Londoner Börse, von der Europäischen Volkspartei bis zu den Bilderbergern. Leute wie Sutherland sehen in der heutigen Lage keine Krise, sondern im Gegenteil die Chance, ihre politisch-wirtschaftlichen Ziele in fünf Jahren so weit zu realisieren, wofür sie unter früheren Bedingungen vielleicht 25 Jahre gebraucht hätten.

Ich denke, daß das irische Kabinett weitestgehend aus Leuten besteht, die vermutlich nicht den größeren Zusammenhang durchblicken, dafür in ihren derzeitigen Posten gut verdienen und sehr wohl verstehen, mit wem es sich für ihre Karriere, sei es in der Politik oder später in der Wirtschaft, langfristig gutzustellen lohnt. Es gibt auch Ausnahmen, Politiker mit Ehrgeiz und Machtkalkül, die nicht nur kleine, sondern große Rädchen im Getriebe sein wollen.

Beide Politiker-Typen, Streber und Mitläufer, haben haben wir im Frühjahr letzten Jahres beim Wahlkampf Diarmuid O'Flynns um ein Mandat im EU-Parlament für den Bezirk Irland Süd kennengelernt. Die zwei Personen gingen dort für die regierende, nationalkonservative Fine Gael ins Rennen. Ein Gegenkandidat von Diarmuid O'Flynn hieß Simon Harris, der bereits 2011 mit nur 25 Jahren Abgeordneter im irischen Parlament geworden war. Harris hat diesmal keinen Sitz im EU-Parlament gewinnen können, dafür hat ihn Premierminister Kenny zum Trost zum Staatsminister mit Verantwortung für das Office of Public Works (OPW) ernannt. Dort könnte er die Privatisierung wichtiger Teile des Staatsbesitzes, wie zum Beispiel die staatliche Forstverwaltung Coillte, der umfangreiche Wälder und viele sehenswürdige Landstriche gehören, betreiben. Sean Kelly, der andere FG-Kandidat, hat seinen Sitz im EU-Parlament verteidigen können. Kelly ist ein Mann aus dem Volk, der in Kreisen des gälischen Fußballs und Hurling viele Freunde und Bekannte hat. Für Fine Gael ist er wahltechnisch ein wichtiges Zugpferd, aber parteiintern eher ein Mann der zweiten Reihe. Über Macht und Einfluß wie Senkrechtstarter Harris verfügt er nicht. Dafür ist er viel zu nett.

SB: Was die wirtschaftliche Erholung in Irland betrifft, so scheint sie sich weitestgehend auf die Metropole Dublin zu beschränken. Medienberichten zufolge soll die Lage in den kleineren Städten und Dörfern verheerend sein mit hoher Arbeitslosigkeit, Auswanderung und Landflucht. Da Sie beide auf dem Land leben, bitte erzählen Sie uns, wie sich die Krise außerhalb der Hauptstadt bemerkbar gemacht hat.

FF: Beim Wahlkampf 2014 um das EU-Parlament haben wir von "Ballyhea Says No" über mehrere Wochen zehn Grafschaften - so groß ist der Wahlbezirk Irland Süd - bereist, um Werbung für Diarmuid O'Flynns Kandidatur zu machen. Jeden Abend, als ich vom Wahlkampf nach Hause kam, habe ich geweint. So stark nahm mich der verwahrloste Zustand der vielen Gemeinden, die wir besuchten, mit. Ich kann mich erinnern, wie ich mit einer Hausfrau mittleren Alters inmitten eines wunderschönen Dorfes sprach. Sie zeigte auf die ganzen hübschen Häuser drumherum und sagte mir: "Sehen Sie diese Wohnhäuser? In keinem einzigen lebt ein jüngerer Mensch mehr. Sie sind alle weggezogen oder ausgewandert." In einer einst prosperierenden Kleinstadt waren die Hälfte der Geschäfte auf der Hauptstraße geschlossen. Und in einem Laden, der noch offen hatte, sprach ich mit dem Inhaber. Er sagte mir: "Früher ging ich jeden Morgen mit Freude zur Arbeit. Heute hoffe ich einfach den Kopf bis Ende der Woche über Wasser halten zu können."

Die vielen Existenzen, die in Irland auf dem Lande seit Beginn der Krise zerstört worden sind - es ist entsetzlich und zutiefst traurig. Wegen der eingesetzten Auswanderung gibt es viele Dörfer und Gemeinden, die keine gälische Fußball- oder Hurling-Mannschaft mehr aufstellen können. Dabei gelten traditionell die Vereine der Gaelic Athletics Association (GAA) neben der Kirche als das Rückgrat der ländlichen Gemeinden in Irland schlechthin. Vor zwei Wochen war ich mit meinen Töchtern in Cork, der zweitgrößten Stadt Irlands. In fast jedem zweiten Hauseingang der Innenstadt befand sich ein Obdachloser mit einem Pappbecher für Geldspenden. Es war schlimm. Ich dachte, ich sehe nicht richtig. Auch meine Töchter waren entsetzt, denn das sind fast Zustände wie in der dritten Welt. Die Wohnungsnot in Irland ist momentan ein großes Problem, das nicht zuletzt durch das Zurückfahren des sozialen Wohnungsbaus auf Null durch die Regierung verursacht wurde. Kommt es in der staatlichen Wohnungsbaupolitik nicht schnell zu einer Kursänderung, werden die Mieten und Immobilienpreise weiter ansteigen und die Obdachlosigkeit nur noch zunehmen.


Derek O'Dwyer in der Nahaufnahme mit Glatze, Brille und gestreiftem Hemd - Foto: © 2015 by Schattenblick

Derek O'Dwyer
Foto: © 2015 by Schattenblick

DO'D: Ich werde Ihnen einen Einblick geben, wie stark die Perspektivlosigkeit hier in Limerick und Umgebung ist. Wenn Sie aus dem Fenster schauen, können Sie da draußen auf dem Shannon vor dem Hotel ein Schlauchboot auf- und abfahren sehen. Das Boot gehört einer Bürgerinitiative, deren rund 30 Mitglieder es sich zur Aufgabe gemacht haben, 24 Stunden am Tag, sieben Tage die Woche am Flußufer und auf den Brücken des Shannons in Limerick nach Selbstmordkandidaten Ausschau zu halten. Erkennen sie eine suizidgefährdete Person rechtzeitig, können sie sie in der Regel dazu überreden, nicht in den Shannon zu springen. Ist die Person jedoch bereits im Wasser, versucht die Mannschaft im Schlauchboot, sie vor dem Ertrinken bzw. bevor sie wegen der starken Strömung den Fluß hinunter Richtung Atlantik verschwindet zu retten. Die Mitglieder dieser Initiative sind rotationsweise im Dauereinsatz. Man erkennt sie am Flußufer und an den Brücken an ihren gelben Overalls. Es gelingt ihnen leider nicht alle zu retten. Im Schnitt holt die Polizei ein bis zwei Wasserleichen pro Woche in Limerick und Umgebung aus dem Shannon.

FF: Der von unserer Regierung gepriesene Wirtschaftsaufschwung kann deren Familien vermutlich gestohlen bleiben.

SB: Wie schätzen Sie die Chancen, daß das politische Monopol, das die beiden großen nationalkonservativen Parteien Fine Gael und Fianna Fáil praktisch seit Gründung des irischen Staates 1922 ausüben, bei der bevorstehenden Parlamentswahl gebrochen werden kann?

DO'D: Es wird schwer sein, denn in Irland haben wir keine große Mittelinks-Volkspartei wie etwa die Sozialdemokraten in Deutschland. Das irische Äquivalent, die Labour Party, liegt seit Jahrzehnten in der Wählergunst irgendwo zwischen zehn und zwanzig Prozent, aber mehr nicht. Durch ihre Beteiligung an der aktuellen Regierungskoalition und ihre Verantwortung für vier Jahre drastischer Ausgabenkürzungen droht Labour bei der anstehenden Wahl der Verlust der allermeisten ihrer Mandate. Links von Labour gibt es Gruppierungen wie die Socialist Party und die People Before Profit Alliance, welche die Präsenz des Staates in einigen Wirtschaftssektoren wieder ausbauen wollen und sich bei jeder Gelegenheit mit dem Proletariat solidarisch erklären. Mit einem solchen fast revolutionären Programm werden sie niemals eine Regierungsmehrheit erringen. In Irland haben zu viele Menschen von der Niederlassung ausländischer Konzerne profitiert; sie arbeiten in solchen Betrieben und hoffen, daß ihre Kinder nach der Schule oder nach dem Hochschulstudium selbst dort unterkommen werden.

Wenngleich die meisten Menschen keine radikale linke Partei wählen würden, besteht in Irland durchaus der Bedarf nach einer Mitte-Links-Formation, welche die neoliberale Orthodoxie von Fianna Fáil und Fine Gael in Frage stellt und sich für eine gerechtere Gesellschaft mit sozialer Abfederung, qualitative Verbesserung staatlicher Dienste et cetera eintritt. Diese Lücke im Parteienspektrum könnte Sinn Féin, die in den letzten Jahren immer stärker geworden ist und zuletzt in den Umfragen bei rund 20 Prozent liegt, eventuell erfüllen. Ein nicht geringer Teil der Wählerschaft in der Republik Irland hegt gegenüber Sinn Féin jedoch große Skepsis nicht nur wegen ihrer Vergangenheit als politischer Arm der IRA und ihre Verwicklung in den Nordirland- Konflikt. Sie trauen der Partei um Gerry Adams nicht zu, ihr Programm in die Tat umzusetzen und befürchten, daß sie sich als eine zweite Fianna Fáil entpuppen wird, die sich in der Opposition arbeitnehmerfreundlich gibt, jedoch an der Macht im Sinne der Arbeitgeber regiert.

FF: Für mich ist die ganze Links-Rechts-Schematik überholt. Ich beurteile Parteien und Politiker danach, inwieweit ihre Vorschläge und Handlungen die gesellschaftliche Gerechtigkeit fördern oder ihr abträglich sind. Nach diesem Kriterium hat in meiner Lebenszeit keine Regierung die Schwächsten der Gesellschaft - die Alten, die Behinderten, die Kranken - so schlecht behandelt wie die jetzige Koalition aus Fine Gael und Labour. Deshalb muß sie weg.

DO'D: Dem kann ich nur zustimmen. Ich zum Beispiel habe mein ganzes Leben lang bei Wahlen noch niemals für Fianna Fáil gestimmt. Als Amigo-Verein ist sie mir absolut zuwider. Eines muß ich ihr aber zugute halten. Die drei Nothaushalte, die sie 2009 und 2010 in Regierungskoalition mit den Grünen verabschiedet hat, enthielten recht harte Einschnitte bei den staatlichen Ausgaben, waren aber insgesamt sozial ausgewogen. Außerdem legten sie die Grundlage für eine wirtschaftliche Gesundung. Von daher ist die Behauptung der heutigen, von Fine Gael angeführten Koalition, sie habe 2011 von Fianna Fáil eine katastrophale Situation geerbt, die sie mit Mühe und Not bewältigen konnte, eine Schutzbehauptung, mit der sie die beispiellose regressive, asoziale Politik der Kürzungen, Steuererhöhungen und Privatisierungen der vergangenen vier Jahre zu rechtfertigen versucht. Hätten Fine Gael und Labour den Aktionsplan von Fianna Fáil einfach fortgeführt, hätten die Reformvorhaben den unteren Teil der Gesellschaft nicht so schwer getroffen und wäre vielen Familien eine Menge Leid erspart geblieben.

Im Wahlkampf 2011 hat Fine Gael tatsächlich eine Abmilderung der sozialen Einschnitte versprochen, jedoch nach der Machtübernahme genau das Gegenteil gemacht. Michael Noonan wollte als Finanzminister angeblich in Brüssel, Frankfurt und Berlin einen besseren Deal in bezug auf die Staatsschulden als sein Fianna-Fáil-Vorgänger Brian Lenihan herausholen. Doch er kehrte von seinen Treffen mit Wolfgang Schäuble, Mario Dragi et al mit leeren Händen zurück. Dafür hat er in Irland die Mittelschicht geschröpft, die Auswanderungswelle mit dem Hinweis auf individuelle "Abenteuerlust" relativiert und die Arbeitslosen bezichtigt, faule, unmotivierte Säcke zu sein. Das riecht für mich nach Zynismus und Kleingeistigkeit.

Ajaj Chopra, der frühere Chef der IMF-Mission in Irland, der 2010 das Rettungspaket der Troika mit der Regierung in Dublin aushandelte und im Anschluß deren Umsetzung beaufsichtigte, hat inzwischen erklärt, er habe den Eindruck gehabt, die Vertreter der Fine-Gael-Labour-Regierung litten unter dem "Stockholm-Syndrom", denn sie muteten dem irischen Volk mehr Härte zu, als das Rettungspaket eigentlich erfordert. Und warum haben sie das getan? Weil sie an die neoliberale Wirtschaftsideologie glaubten und das Rettungspaket ihnen die Möglichkeit gab, sich als besonders eifrige Schüler dieser Irrlehre hervorzutun. So gesehen sind die negativen Folgen der "Reformen" kein unbedachtes Nebenprodukt auf dem Weg zur wirtschaftlichen Erholung, sondern ein erwünschtes Ergebnis der Zurückdrängung des Staates und der verstärkten Ausrichtung der Gesellschaft und seiner individuellen Mitglieder auf die Erfordernisse des Kapitals und dessen Eigentümer.

SB: Vielen Dank, Fiona Fitzpatrick und Derek O'Dwyer, für das Interview.


Die Lichtergirlande an der Sarsfield-Brücke spiegelt sich auf der Wasseroberfläche des Shannon - Foto: © 2015 by Schattenblick

Limericks Sarsfield Bridge am Shannon bei Nacht
Foto: © 2015 by Schattenblick



Fußnoten:
[1] thechatteringmagpie14.blogspot.de
[2] trueeconomics.blogspot.de

Bisherige Beiträge zur irischen Protestwelle im Schattenblick unter
www.schattenblick.de → INFOPOOL → EUROPOOL → REPORT:

BERICHT/015: Irlands neuer Widerstand - Alte Nöte, junger Kampf (SB)
INTERVIEW/035: Irlands neuer Widerstand - dem Kapitalvampirismus ein Ende bereiten ...    Michael Taft im Gespräch (SB)
INTERVIEW/036: Irlands neuer Widerstand - Widerstand der Zukunft ...    Mick Wallace im Gespräch (SB)
INTERVIEW/037: Irlands neuer Widerstand - Wer sich notbewegt politisch regt ...    Aisling Hedderman im Gespräch (SB)
INTERVIEW/038: Irlands neuer Widerstand - Eigentum und Häuserkampf ...    Joe Conlon im Gespräch (SB)
INTERVIEW/039: Irlands neuer Widerstand - Sand im Getriebe ...    Byron Jenkins im Gespräch (SB)
INTERVIEW/040: Irlands neuer Widerstand - Die Not, die Wut, die Hoffnung...    Pam Flynn & Fiona Healy im Gespräch (SB)
INTERVIEW/041: Irlands neuer Widerstand - Neue Fronten, alte Kämpfe ...    Diarmuid O'Flynn im Gespräch (SB)

22. August 2015


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