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INTERVIEW/054: Irland - alte Feindschaft, neue Sehnsucht ...    Eamonn Mallie im Gespräch (SB)



Interview mit dem Publizisten Eamonn Mallie am 3. Januar 2019 in Belfast

Am 29. März soll das Vereinigte Königreich von Großbritannien und Nordirland aus der Europäischen Union ausscheiden. Wie danach das Verhältnis zwischen der fünftgrößten Wirtschaftsnation der Welt und der EU aussehen soll, weiß aktuell niemand. Am 15. Januar hat die britische Premierministerin Theresa May bei der Abstimmung im Londoner Unterhaus über ihren mit Brüssel ausgehandelten Brexit-Deal eine krachende Niederlage erlitten. 432 Abgeordnete votierten dagegen und lediglich 202 dafür. Es war das schlechteste Ergebnis für einen Gesetzesentwurf der Regierung jemals in der britischen Parlamentsgeschichte.

Der Führer der oppositionellen Sozialdemokraten, Jeremy Corbyn, weigert sich, sich am Krisensgespräch mit May zu beteiligen, solange die konservative Parteichefin nicht den ungeordneten EU-Austritt, den sogenannten No-Deal-Brexit, von vornherein ausschließt. Während die Labour Party den Verbleib in der Zollunion favorisiert und sich ein zweites Referendum vorstellen könnte, geben bei Mays Conservatives die englisch-nationalistischen EU-Gegner den Ton an, die ein Handelsabkommen à la Kanada anstreben und, sollte dies scheitern, zur Not bereit sind, den No-Deal-Brexit in Kauf zu nehmen.

Vor allem in Irland, das von einem ungeordneten EU-Austritt des großen Nachbarlandes am schwersten betroffen wäre, regt sich gegen die Machenschaften der rechten Tories heftiger Widerstand. Die Regierung in Dublin hat die restlichen EU-26 auf die Linie, es dürfe keine harte Grenze zwischen Nordirland und der Republik im Süden geben, einschwören können. In Nordirland, wo im Sommer 2016 56 Prozent der Bürger für den Verbleib in der EU votierten, sorgte die informelle Allianz zwischen der protestantischen Democratic Unionist Party (DUP) und den harten Brexiteers in England für große Verärgerung. Nicht wenige Menschen dort sehen in der Wiedervereinigung Irlands den einzigen Ausweg aus der Krise.

Über die Brexit-Problematik sprach der Schattenblick am 3. Januar im Belfaster Café Harlem mit Eamonn Mallie, dem angesehensten Politanalysten Nordirlands. Der 1950 geborene Mallie blickt auf eine lange und ereignisreiche Karriere als Journalist zurück. Er hat drei Jahrzehnte lang über die nordirischen Troubles berichtet und dabei Interviews mit den wichtigsten Hauptbeteiligten wie Margaret Thatcher, John Major, Tony Blair, Charles Haughey, Albert Reynolds, Bertie Ahern, Ian Paisley, David Trimble, Peter Robinson, John Hume, Peter Robinson, Martin McGuinness, Gerry Adams und sogar Bobby Sands geführt. Als im vergangenen Februar 2018 ein möglicher Deal zwischen Sinn Féin und der DUP über die Wiederaufnahme der gemeinsamen Regierungsarbeit in der Koalition in Belfast scheiterte, war es Mallie, der auf seiner Website den vertraulichen Vertragsentwurf veröffentlichte und das Veto des protestantischen Oranier-Ordens für den Rückzug der DUP verantwortlich machte (An der Vereinbarung störte die Oranier vor allem die Zusage der DUP-Unterhändler, doch noch der Forderung Sinn Féins nach einer Aufwertung der gälischen Sprache nachzukommen).


Foster und May beim Besuch der berühmten Töpferei Beleek Pottery - Foto: © 2018 by Northern Ireland Office, freigegeben nach Creative Commons Attribution 2.0 Generic

Arlene Foster empfängt Theresa May bei einem Besuch in Fermanagh im Juli 2018
Foto: © 2018 by Northern Ireland Office, freigegeben nach Creative Commons Attribution 2.0 Generic

Schattenblick: Seit einiger Zeit wird die Democratic Unionist Party bezichtigt bzw. verdächtigt, entgegen anderslautender Erklärungen mit den EU-Gegnern bei den in London regierenden Tories in Richtung No-Deal-Brexit zu arbeiten, um das Karfreitagsabkommen von 1998 zu unterminieren und eine harte Grenze zwischen Nordirland und der Republik Irland herbeizuführen. Für wie stichhaltig halten Sie diesen Vorwurf bzw. Verdacht?

Eamonn Mallie: Ich weiß, daß diese These von Leuten außerhalb der DUP vertreten wird, halte aber persönlich nicht allzuviel davon. Ich denke, es handelt sich eher um eine Propagandalinie, welche die politischen Gegner der DUP verbreiten, um letzterer zu schaden. Die DUP hat sich in der Brexit-Debatte von Anfang an gegen eine harte Grenze auf der Insel Irland ausgesprochen. Die DUP-Führung um Parteipräsidentin Arlene Foster, welche Schwächen und Macken die einzelnen Persönlichkeiten auch haben mögen, sind sich sehr wohl um die Realität der Grenze und die gewaltigen Probleme, die jedes Hemmnis des seit 20 Jahren absolut freien und ungehinderten Personen- und Warenverkehrs zwischen den beiden Teilen Irlands verursachen würde, bewußt. Von daher bin ich nicht überzeugt, daß die DUP eine harte Grenze gezielt anstrebt.

Diese Feststellung muß ich gleichwohl relativieren. Seit die DUP infolge des Saint Andrew's Agreement 2006 in die Provinzregierung als größere Koalitionspartnerin von Sinn Féin eingetreten ist, hat sie wirklich alles unternommen, um die grenzübergreifenden, allirischen Institutionen, die im Rahmen des Karfreitagsabkommens geschaffen worden waren, zu leeren Hüllen verkommen zu lassen. Wenngleich es sich um relative harmlose Behörden zum Beispiel zur Förderung des Tourismus und der Binnenschiffahrt handelte, betrachtet die DUP diese Behörden als zaghafte Manifestationen einer eventuellen Wiedervereinigung und hat sich dermaßen heftig dagegen zur Wehr gesetzt, daß eine Einigung über das jeweilige Arbeitsprogramm jener Ämter zu einer Sache der Unmöglichkeit geworden ist.

Auch wenn ich die These, die DUP strebe die Wiedereinführung einer harten Grenze zwischen Nordirland und der Republik gezielt an, nicht glaube, so läßt sich dennoch konstatieren, daß Brexit die Unionisten in eine extrem mißliche politische Lage gebracht hat. Die Union mit Großbritannien hat für die DUP eine solch existentielle Bedeutung, daß sie die Beziehungen zwischen Nordirland und der Republik als zweitrangig betrachtet und somit durch ihr Handeln die Nationalisten und die Unternehmen in Norden gegen sie aufbringt und die Regierung in Dublin verprellt. Die DUP-Führung hat sich emotional von der Bindung zu Großbritannien und deren vermeintliche Gefährdung durch Brexit zu sehr verleiten lassen und die handfesten wirtschaftlichen Interessen Nordirlands an guten Beziehungen zum Süden aus dem Blick verloren. Damit hat sie allen Menschen in Irland einen Bärendienst erwiesen.

SB: Die Pro-Brexit-Haltung der DUP hat zwar deren Wählerbasis stark mobilisiert, jedoch gleichzeitig weite Teile der nordirischen Gesellschaft, nicht nur alle Nationalisten, sondern viele gemäßigte Unionisten vor den Kopf gestoßen. Inwieweit ist sich die DUP-Führung bewußt, daß ihr energischer Eintritt für den Brexit die verschiedenen Trends - wirtschaftlich, demografisch et cetera - Richtung Wiedervereinigung Irlands verstärkt? Vor kurzem hat es entsprechende Warnrufe des ehemaligen DUP-Parteivorsitzenden und nordirischen Premierministers Peter Robinson gegeben, welche dessen ehemalige Kollegen als hysterisch und quasi verräterisch abgetan haben.

EM: Als jemand, der in der IRA-Hochburg South Armagh geboren und aufgewachsen ist und dort in jungen Jahren die Auswirkung einer militärisch abgesicherten Grenze erleben mußte, beobachte ich nun seit Jahren sehr aufmerksam die Einstellung der nationalistischen und unionistischen Mittelschicht in der Frage der Wahl zwischen Verbleib Nordirlands im Vereinigten Königreich und der Vereinigung mit der Republik Irland. Bei beiden Gruppen verschiebt sich die Haltung immer mehr in Richtung eines vereinigten Irlands.

Während der drei Jahrzehnte der Troubles haben sich die Angehörigen der katholischen Mittelschicht in Nordirland - Ärzte, Lehrer, Anwälte, Firmeninhaber usw. - völlig aus der Politik herausgehalten, denn sie wollten nicht als IRA-Anhänger gebrandmarkt werden. Auch wenn sie vielleicht heimlich den bewaffneten Kampf der IRA gegen den britischen Staat und die loyalistischen Paramilitärs gutgeheißen haben und ihnen der tödliche Hungerstreik von Bobby Sands und seinen neun Kameraden Respekt abverlangt hat, nach außen hin verhielten sie sich apolitisch. Doch seit der Unterzeichnung des Karfreitagsabkommens 1998 melden sich solche Leute immer mehr in der Öffentlichkeit zu Wort.

In der ersten Phase nach dem Ende des Bürgerkrieges bildeten die republikanische Sinn Féin und die gemäßigt-nationalistische Social Democratic Labour Party (SDLP) zusammen mit der Ulster Unionist Party (UUP) eine Provinzregierung. Die Zusammenarbeit verlief weitgehend produktiv. Bei Wahlen in 2004 hat die DUP, die stets gegen das Karfreitagsabkommen gewesen ist, die UUP als stärkste politische Kraft abgelöst und wurde zwei Jahre später vom britischen Premierminister Tony Blair quasi in die Koalition mit Sinn Féin, SDLP und UUP hineingezwungen. Zur Überraschung aller Beobachter wurden die früheren Erzfeinde, der DUP-Gründer Ian Paisley und der Sinn-Féin-Vizepräsident und ehemalige IRA-Kommandeur Martin McGuinness, zu Freunden. Das joviale, herzhafte Miteinander der beiden Männer brachte ihnen den Spitznamen "The Chuckle Brothers" ein. Es kam zu einer goldenen Ära der Zusammenarbeit über den politisch-konfessionellen Graben hinweg in Nordirland. Tatsächlich jedoch wurde bereits 2008 der alternde Paisley wegen des allzu guten Verhältnisses zu McGuinness als DUP-Chef gestürzt und durch seinen langjährigen Stellvertreter Peter Robinson ersetzt.


Eamonn Mallie im Porträt - Foto: © 2019 by Schattenblick

Eamonn Mallie
Foto: © 2019 by Schattenblick

Robinson gelang es, sieben Jahre lang die konstruktive Zusammenarbeit mit Sinn Féin fortzusetzen, stürzte letztendlich über einen Immobilienskandal sowie über sein entgegenkommendes Verhalten dem Koalitionspartner gegenüber. Robinson hatte dem Drängen von Sinn Féin nachgegeben und mit McGuinness für den Umbau des Maze-Gefängnisses, südlich von Belfast, wo sich einst die Hungerstreiks der IRA zugetragen hatten, zu einer Gedenkstätte gestimmt. Obwohl dort die Geschichte der Troubles sowohl aus katholischer als auch aus protestantischer Sicht aufgearbeitet werden sollten, war der Plan für die Mehrheit der DUP-Mitglieder inakzeptabel. Sie befürchteten völlig ohne Grund, daß die Einrichtung zum IRA-Wallfahrtsort würde, und zwangen Robinson, seine bereits gemachte Zusage zurückzunehmen, was dessen Glaubwürdigkeit als Premierminister nachhaltig beschädigt hat. Kurz darauf erfolgte der Rücktritt von allen politischen Ämtern.

Arlene Foster folgte 2015 als DUP-Chefin und übernahm auch Robinsons Posten als Premierminister. Da sie eine junge Mutter und einstiges Mitglied der gemäßigteren UUP war, hofften die meisten katholischen Nationalisten, sie würde einen liberalen Kurs fahren und mit Sinn Féin gut zusammenarbeiten. Jene Hoffnungen haben sich in den letzten drei Jahren vollkommen zerschlagen. Foster hat sich als reaktionäre Hardlinerin in sozialen Fragen - Abtreibung, Ehe für alle - entpuppt und sich nicht die geringste Mühe gemacht, auf Sinn Féin und die katholische Gemeinde in Nordirland geschweige denn auf die Regierung in Dublin zuzugehen. Unter ihrer Führung haben führende DUP-Politiker wie Sammy Wilson und Gregory Campbell eine beleidigende Äußerung nach der anderen über Sinn Féin und die Dubliner Regierung von sich gegeben.

Ein Prinzip des Karfreitagsabkommens war und ist die sogenannte parity of esteem, der gleichwertig respektvolle Umgang der Kulturen - sowohl der pro-britischen, protestantischen Unionisten als auch der katholischen Nationalisten - untereinander. Lange Zeit waren letztere in dieser Hinsicht in Nordirland zu kurz gekommen. Schließlich waren die Troubles 1968 wegen der politischen und gesellschaftlichen Ungleichbehandlung der katholischen Minderheit ausgebrochen. Also haben die Nationalisten ab 1998 erwartet, daß ihr friedliches Streben nach der Wiedervereinigung Nordirlands mit dem Süden, ihr Interesse am Erhalt der irischen Sprache und ihre Sportarten wie gälisches Fußball und Hurling vom Staat respektiert bzw. unterstützt würden. Dagegen sträubt sich die DUP bis heute. Anfang 2017 hat McGuinness den Rückzug Sinn Féins aus der Koalition mit der DUP nicht zuletzt wegen deren Weigerung verkündet, die 2006 im Saint-Andrews-Abkommen gemachte Zusage, ein Gesetz zur Aufwertung der gälischen Sprache im öffentlichen Raum durch das Regionalparlament zu bringen, einzulösen. Bei den darauffolgenden Wahlen zum Provinzparlament im Frühjahr 2017 hat Foster Ungeheures mit der Aussage geleistet, die DUP dürfe Sinn Féin in der Frage der gälischen Sprache nicht entgegenkommen, denn wenn man Krokodile füttere, verlangten sie nur noch mehr. Für die katholischen Nationalisten Nordirlands war das eine unverzeihliche Beleidigung.

Das Gesetz zur Aufwertung der gälischen Sprache war für die katholischen Nationalisten im Sinne der Gleichberechtigung von großer symbolischer Bedeutung. Es sollte die Nutzung des Gälischen im öffentlichen Raum erleichtern und ihre Sichtbarkeit - Stichwort Straßenschilder - erhöhen. Die DUP hat jedoch den Gesetzesentwurf zum Trojanischen Pferd aufgebauscht und mit völlig unhaltbaren Behauptungen, etwa alle Staatsbeamten würden gezwungen werden, Gälisch zu lernen und zu nutzen, Angstmacherei betrieben, um die eigene Wählerschaft hinter sich zu mobilisieren und die alte Wagenburg-Mentalitäten von besonders Großbritannien wohlgesonnenen Teilen der protestantischen Bevölkerung zu stimulieren.

Fosters Angriff auf Sinn Féin mit dem Krokodil-Vergleich war für alle Menschen in Nordirland, die etwas für Riverdance, gälische Sportarten, die irische Sprache und den Traum einer Beendigung der Teilung Irlands übrig haben, ein Stich ins Herz. Die Beleidigung hat viele Nationalisten zum Schluß kommen lassen, daß ein Zusammenleben auf Augenhöhe mit den extrem pro-britischen Protestanten in Nordirland nicht möglich sei und daß man lieber früher als später die Vereinigung mit der Republik herbeiführen sollte. Dieses einzige Wort Krokodil hat zusammen mit der ganzen Brexit-Krise die politische Zielsetzung der katholisch-nationalistischen Mittelschicht in Nordirland völlig verändert - weg von einem allmählichen Sich-Abfinden mit dem Verbleib im Vereinigten Königreich und hin zur frühstmöglichen Wiedervereinigung Irlands. Die meisten Katholiken, die ich kenne, ob Wähler von Sinn Féin oder der SDLP, wollen von einer Neuauflage der nordirischen Koalitionsregierung unter Beteiligung der DUP nichts mehr wissen. Für diese Menschen sind die durch das Karfreitagsabkommen geschaffenen Institutionen - nordirisches Parlament und Provinzregierung in Belfast - längst Geschichte. Mit Arlene Foster und der DUP wollen sie absolut nichts mehr zu tun haben.


McGuinness, Paisley und Salmond am Schreibtisch mit Feder in der Hand lächeln für die Kameras - Foto: © 2008 by Scottish Government, freigegeben nach Creative Commons Attribution 2.0 Generic

Martin McGuinness, Ian Paisley & der damalige schottische Premierminister Alex Salmond unterzeichnen Abkommen zwischen Belfast und Edinburgh im Jahr 2008
Foto: © 2008 by Scottish Government, freigegeben nach Creative Commons Attribution 2.0 Generic

Die Mentalität der katholischen Mittelschicht in Nordirland hat sich also radikal verändert. Die SDLP, die Partei des Friedensnobelpreisträgers John Hume, hat in den letzten beiden Jahrzehnten gegenüber Sinn Féin massiv an Boden verloren und ist nur noch ein Schatten ihrer selbst. Hume hat in den neunziger Jahren Sinn Féin den Weg aus der "terroristischen" Wildnis geebnet und den politischen Arm der IRA an den Verhandlungstisch mit Dublin und London geholt, dafür hat die Partei von Gerry Adams und Martin McGuinness der SDLP fast ihre komplette Wählerschaft gestohlen. Um sich irgendwie wieder aufzupäppeln, spielt die SDLP mit der Idee einer Vereinigung mit Fianna Fáil, traditionell die stärkste politische Kraft in der Republik, die sich im Dubliner Parlament aktuell in der Opposition befindet.

Persönlich halte ich den Vorstoß für mißraten. Die SDLP kommt meines Erachtens niemals wieder auf die Beine. Fianna Fáil täte sich kein Gefallen, sich um eine Wiederbelebung der nicht mehr zu rettenden SDLP zu bemühen. Die Vereinigung beider Parteien würde ohnehin zur Spaltung der SDLP führen, denn dort befinden sich noch einige waschechte Sozialdemokraten, denen Fianna Fáil und deren Verwicklung in diversen Korruptionsskandalen im Süden zuwider sind. Dessen ungeachtet bleibt das generelle Fazit das gleiche: Nordirlands Nationalisten richten ihren Blick zunehmend nach Dublin und nicht mehr nach Belfast oder London. Angesichts der Unwägbarkeiten um Brexit sehen sie ihr wirtschaftliches Heil in der Vereinigung mit der Republik. Alles, was die Nord-Süd-Verbindungen über die innerirische Grenze hinweg gefährden könnte, ist für sie vollkommen inakzeptabel. Schließlich pendeln Zehntausende Nordiren jeden Tag über die Grenze, um in der Republik zu arbeiten.

Vor der Abstimmung über den EU-Austritt habe ich eine Fernsehsendung für die BBC über die möglichen Brexit-Folgen in Irland mit besonderem Bezug auf die Grenzproblematik gemacht. Den interessantesten Interviewpartner, den ich vor die Kamera bekommen konnte, war Martin Naughton, der Eigentümer und Geschäftsführer von Glen Dimplex, dem weltweit größten Hersteller von Elektroheizungen und Haushaltskleingeräten. Er hat die Firma 1973 in Newry gegründet und ist heute der reichste Mann Irlands. Glen Dimplex hat Produktionsstätten in Nordirland, der Republik Irland, Großbritannien, Norwegen, Nordamerika und China. Naughton kennt sich daher mit den Regularien des europäischen Binnenmarkts und des Im- und Exports dort bestens aus.

Obwohl kein Freund von Regeln und Vorschriften, ist er EU-Befürworter und Brexit-Gegner. Und warum? Mir hat er gesagt, die Konzerne dürften sich nicht selbst überlassen werden, denn sie richten sich ausschließlich nach dem Gewinn. Folglich sei eine Instanz erforderlich, die für allgemein gültige Standards in den Bereichen wie Gesundheit, Umwelt, Arbeitsmarkt, Produktsicherheit und Hygiene sorge. Aus seiner Sicht erfüllt die EU diese Aufgabe, und zwar europaweit, was bei aller Lästigkeit der Kontrollen den Handel letztendlich fördert. Seiner Meinung nach hat die durch den EU-Beitritt 1973 erfolgte Anpassung an die deutschen Standards die irischen Unternehmen stärker und leistungsfähiger gemacht - auch im Handel mit den Märkten außerhalb Europas.

Nordirlands Bauern verspüren große Angst vor dem Brexit. Viele von ihnen befürchten, durch Handelshemmnisse und den Wegfall von EU-Agrarsubventionen in den Konkurs getrieben zu werden. Zahlreiche landwirtschaftliche Betriebe in Nordirland exportieren entweder in die Republik oder arbeiten mit den Lebensmittelkonzernen dort. Nicht wenige nordirische Milchbauern zum Beispiel arbeiten fast ausschließlich für Diageo, dem Hersteller von Bailys Sahnelikör. Was machen sie, wenn plötzlich an der inneririschen Grenze Zolltarife bezahlt und Formulare ausgefüllt werden sollen?

Ich sehe Parallelen zwischen der heutigen Lage in Nordirland und derjenigen Mitte bis Ende der sechziger Jahre. Damals hat die Forderung der katholischen Nationalisten nach Gleichberechtigung den protestantisch dominierten Duodezenstaat der Unionisten ins Wanken gebracht. Seit drei Jahren sorgt der drohende Austritt des Vereinigten Königreichs aus der EU, die informelle Allianz der größten unionistischen Partei mit den harten Brexiteers in Großbritannien sowie die Weigerung der DUP, die gälische Sprache aufzuwerten, für die endgültige Entfremdung weiter Teile der nordirischen Bevölkerung von Nordirland in seiner heutigen Form. Wurde vor fünfzig Jahren erstmals Nordirland in seiner Existenz als "protestantischer Staat für ein protestantisches Volk", um die Worte seines Gründers James Craig zu gebrauchen, in Frage gestellt, so kristallisiert sich heute die Beendigung der Teilung Irlands als Antwort immer mehr heraus.

SB: Hat also die No-Surrender-Mentalität der DUP das protestantische Lager gespalten und die gemäßigten Unionisten ihre bisher ablehnende Haltung gegenüber einem vereinigten Irland neu überdenken lassen?

EM: In gewisser Weise ja. Es ist vor allem aber das Brexit-Phänomen, das politisch und wirtschaftlich die tektonischen Platten in Bewegung gesetzt hat und dessen Auswirkungen auf das Verhältnis zwischen dem Vereinigten Königreich und Irland gravierend sind. Nach der Teilung der Insel 1922 nahm die protestantische Mittel- und Oberschicht im Norden die Republik Irland im Süden lange Zeit kaum wahr. Dublin besuchte man zweimal im Jahr: im Frühjahr wegen der Heimspiele der irischen Rugby-Nationalmannschaft gegen England, Schottland, Wales, Frankreich und Italien und im Sommer wegen der Horse Show, dem berühmten Reitturnier im RDS in Ballsbridge. Das war's.

Seit dem Ende der Troubles und dem Abbau der Grenzanlagen hat sich die Perspektive im Norden grundlegend verändert. Viele nordirische Unternehmen haben die Republik als Markt entdeckt und sind auch Kooperationen mit südirischen Partnern eingegangen. Doch nun droht Brexit die mühsame Arbeit zahlreicher Projekte der letzten zwanzig Jahre zunichte zu machen. Das sehen die nordirischen Konzernchefs und Firmeninhaber nicht ein. Das lassen sie sich nicht gefallen. Deswegen laufen sie gegen die Brexit-Position der DUP Sturm und müssen erleben, wie sie von Volkstribunen wie Sammy Wilson als Helfershelfer Dublins und Verräter am nordirischen Staat beschimpft werden. Die protestantischen Besserverdiener in Nordirland überdenken ihre bisherige Haltung und kommen zunehmend zum Schluß, daß ihr Schicksal und das ihrer Kinder nicht mehr im Vereinigten Königreich, sondern in einem wiedervereinigten Irland besser aufgehoben ist. Das neue Irland ist derzeit das Hauptgesprächsthema an jedem Wochenende bei den Dinner-Parties der gutsituierten Bürger Nordirlands. Das kann ich Ihnen aus eigener Erfahrung versichern. Es gibt sogar Hinweise, daß sich führende Ministerialbeamte in Dublin und London angesichts des Trends Richtung Wiedervereinigung Irlands bereits konkrete Überlegungen machen, wie der Prozeß am glimpflichsten über die Bühne gebracht werden kann.

Die Gefahren sind natürlich enorm. Bei den minderbemittelten Protestanten in Nordirland, aus deren Reihen die loyalistischen Paramilitärs ihre Mitglieder rekrutieren, herrscht Panikstimmung, eine Angst vor dem Ausverkauf durch London und vor der Integrierung in einem vereinigten Irland, in dem sie noch weniger als heute - und das will etwas heißen - zu melden hätten. Von daher wäre meines Erachtens eine baldige Abstimmung über die Beibehaltung oder Abschaffung der inneririschen Grenze, eine "border poll", wie sie im Karfreitagsabkommen ausdrücklich vorgesehen ist, kontraproduktiv, denn da würden die Loyalisten mit Sicherheit zu den Waffen greifen, und die Gewaltspirale der Troubles käme wieder in Gang. Also bedarf das neue Irland eines langen und vorsichtigen Anlaufs mit umfassender Vorbereitung. Gerade der Brexit zeigt, welches Chaos man durch fehlende Planung eines großen politischen Projekts anrichten kann. Die Fehler Londons an dieser Stelle sollten eine Lehre für die Verantwortlichen in Dublin sein. Schließlich dürfte die Republik kein Nordirland übernehmen wollen, in dem protestantische Paramilitärs Teile von Belfast und anderen Städten in militärische Sperrgebiete verwandelt haben.

In den letzten Monaten haben mehrere namhafte Vertreter der protestantischen Gemeinde durch provokante Äußerungen die Debatte um die konstitutionelle Position Nordirlands und die mögliche Vereinigung mit der Republik angeschoben. Dazu gehören der international anerkannte Gynäkologieprofessor Jim Dornan, der auch Vater des Hollywood-Schauspielers Jamie Dornan ist, der Chirurg Terry Irwin sowie der frühere Vorsitzende der presbyterianischen Kirche in Nordirland, Harold Good, der in den Nuller-Jahren als offizieller Zeuge der Beseitigung der paramilitärischen Waffenarsenale einen wichtigen Beitrag zum nordirischen Friedensprozeß geleistet hat. Alle drei erklärten, sie könnten es sich gut vorstellen bzw. hätten nichts dagegen, in einem vereinigten Irland zu leben. Vor wenigen Wochen hat im BBC-Fernsehen Sir Kenneth Bloomfield, der ehemalige Dienstleiter der nordirischen Beamtenschaft, der 1988 selbst knapp einem Bombenanschlag der IRA entkam und später eine Kommission über Wege der Wiedergutmachung der Opfer terroristischer Gewalt leitete, erklärt, die demographischen und sonstigen Trends zeigten nur noch in eine Richtung, Nordirlands Protestanten sollten sich allmählich mit dem Gedanken an die Wiedervereinigung Irlands anfreunden. Dabei gehörte Bloomfield bis vor kurzem zu den absoluten Hardlinern, was das Festhalten an der Union mit Großbritannien betrifft.

SB: Mit Blick auf einen möglichen No-Deal-Brexit und der Verhängung einer harten Grenze in Irland wird häufig auf die Gefahr eines Wiederaufflammens paramilitärischer Gewalt hingewiesen. Wie groß ist jene Gefahr tatsächlich, und ist die Wiederaufnahme von Grenzkontrollen für das britische Militär überhaupt eine realistische Option? Letztes Jahr hat Bertie Ahern, der 1998 als Premierminister für die Republik Irland das Karfreitagsabkommen unterzeichnet hatte, massenhaften zivilen Ungehorsam seitens der Nationalisten auf beiden Seiten der Grenze prognostiziert.


Sinn-Féin-Aktivisten halten gelbschwarze Plakate mit der Parole 'No Border, No Barrier' hoch - Foto: © 2017 by Sinn Féin, freigegeben nach Creative Commons Attribution 2.0 Generic

Protestaktion von Sinn Féin im März 2017 vor dem nordirischen Parlamentsgebäude Schloß Stormont gegen eine harte Grenze infolge von Brexit
Foto: © 2017 by Sinn Féin, freigegeben nach Creative Commons Attribution 2.0 Generic

EM: Bertie hat recht. Die Gefahr einer Gewaltexplosion ist echt und sollte nicht unterschätzt werden. Gerade in den Gegenden entlang der Grenze zur Republik gibt es niemanden, der bereit ist, die Wiedereinführung von Straßenkontrollen, geschweige denn die Wiedererrichtung von Armeestützpunkten und der erneuten Stationierung britischer Soldaten hinzunehmen. Eine solche Unternehmung hätte vor Ort keine gesellschaftliche Unterstützung und wäre zum Scheitern verurteilt. Ich weiß, wovon ich rede, denn ich bin in der einstigen IRA-Hochburg South Armagh unweit der Grenze geboren und aufgewachsen. Ich bin sozusagen im Schmugglerkorb auf die Welt gekommen. Traditionell nennt man die Grenzregion nicht umsonst "Banditenland".

Beiderseits der Grenze gibt es ganze Clans, die ihre Existenzgrundlage dadurch erwirtschaften, daß sie für sich Gewinne aus irgendwelchen Unterschieden in der Handhabung der Handelsvorschriften der EU, Nordirlands, der Republik und Großbritanniens bzw. zwischen den Tageswerten von Euro und Pfund Sterling herausschlagen. Vor diesem Hintergrund kann ich Ihnen versichern, daß es, sobald versucht wird, Kameras oder sonstige Technologien an der Grenze zu errichten, auch Tote geben wird. Aus Rücksicht auf den Volkswillen hat sich während der Troubles der einstige Justizminister der Republik Irland, Alan Dukes, der Forderung Margaret Thatchers nach Beobachtungsposten auf der südlichen Seite nachhaltig widersetzt. Dukes wußte, ein solches Unterfangen würde tote Polizisten bedeuten, was er weder menschlich noch politisch zu vertreten bereit war.

Es liegt mir absolut fern, die Wiederauferstehung der IRA herbeizureden. Aber genauso wie die voreilige Abhaltung eines Referendums über den Verbleib Nordirlands im Vereinigten Königreich die loyalistischen Paramilitärs auf den Plan riefe, so würden irgendwelche Installationen an der Grenze zur Republik unweigerlich Gegenmaßnahmen irischer Republikaner auslösen. Ex-Premierminister Ahern spricht von zivilem Ungehorsam quasi als Massensport. Ich kann mir aber auch gewalttätige Aktionen gegen Personen - seien es Polizisten, Soldaten oder Mitarbeiter privater Unternehmen -, die an der Errichtung einer Grenzanlage beteiligt wären, gut vorstellen, die leicht tödlich enden könnten. So etwas muß auf alle Fälle vermieden werden.

SB: Wie gut oder schlecht hat Ihrer Meinung nach die Regierung in Dublin die Karten ausgespielt, die ihr durch das Votum der Briten für den EU-Austritt und die daraus folgende Brexit-Krise im Vereinigten Königreich zuteil wurden?

EM: Bei den katholischen Nationalisten und den gemäßigten Unionisten herrscht allgemein die Ansicht vor, daß Premierminister Leo Varadkar und Außenminister Simon Coveney in den vergangenen ein, zwei Jahren Heldenhaftes geleistet haben. Selbst Michelle O'Neill, die Vorsitzende Sinn Féins in Nordirland, sah sich widerwillens zur Unterstützung von Theresa Mays Brexit-Deal gezwungen, und zwar deshalb, weil es Varadkar und Coveney bei den Beratungen mit den anderen EU-Regierungen gelungen war, darin den sogenannten Backstop in bezug auf die innerirische Grenze fest zu verankern. Dublin hat sich bislang im Grenzstreit gegenüber London durchgesetzt. Obwohl die May-Regierung zum Überleben auf die Stimmen der zehn DUP-Unterhausabgeordneten angewiesen ist, mußte sie sich in der Vereinbarung mit Brüssel der Forderung Dublins nach einer Garantie für die Beibehaltung einer unsichtbaren Grenze auf der Insel Irland beugen. Ein solcher Kniefall Londons gegenüber Dublin wäre vor nicht allzu langer Zeit unvorstellbar gewesen.

Die allmähliche Umorientierung der gutsituierten Unionisten weg von London und hin zu Dublin hat der Liberalisierung der Republik Irland, die sich in den letzten Jahren durch die Einführung der Ehe für alle und die Aufhebung des Abtreibungsverbots verdeutlichte, einen enormen Schub gegeben. Hinzu kommen andere Aspekte wie der Sport. Mein Sohn ist 35 Jahre alt. Er ist im Methodist College in Belfast zur Schule gegangen und hat im letzten Jahr dort mit der Rugby-Mannschaft den Ulster Schools Senior Cup geholt. Alle seine Freunde gingen zu ähnlichen Schulen wie Campbell College und der Royal Belfast Academical Institution, sind also große Fans von Ulster Rugby und der irischen Nationalmannschaft. Erinnern Sie sich an den historischen Sieg Irlands gegen die neuseeländischen All Blacks in November in Dublin? Der alles entscheidende Versuch wurde von dem jungen Ulster-Flügelspieler Jacob Stockdale erzielt. Laut meinem Sohn ist Stockdale für die nordirische Jugend von heute nicht nur als Ulster-, sondern vor allem als Irlandspieler Superstar und Vorbild schlechthin. Da tut sich also etwas. Grün ist nicht mehr ausschließlich die Farbe der Katholiken und der Nationalisten. Der große Erfolg nicht nur der Nationalmannschaft, sondern auch der vier Provinzen auf der europäischen Profivereinsebene im Rugby hat vielen, vor allem jungen Menschen im Norden die Vorteile eines vereinten Irlands vor Augen geführt. Ich weiß, daß solche kulturellen Veränderungen schwer meßbar und eher subtil sind, dennoch sind sie real und wirkmächtig.


Eamonn Mallie posiert stehend vor der Theke - Foto: © 2019 by Schattenblick

Eamonn Mallie im Café Harlem
Foto: © 2019 by Schattenblick

SB: Brian O'Driscoll, der ehemalige Kapitän der Nationalmannschaft aus Dublin, der weltweit als bester irischer Rugbyspieler aller Zeiten gilt, wohnte am vergangenen 12. Juli einem Umzug des Oranierordens im nordirischen Loughgall bei und wurde bei der Gelegenheit eingeladen, die berühmte Lambeg-Großtrommel zu spielen - was er lächelnd auch tat. Eine solche Handreichung über den konfessionellen Graben hinweg - von Orange nach Grün und zurück - hat eine ungeheure symbolische Wirkung. Die Begegnung hat deshalb in Irland und Großbritannien Schlagzeilen gemacht.

EM: Genau das meine ich. Im unionistischen Lager gewöhnen sich die jungen, bessergebildeten und wohlhabenderen Menschen immer mehr an die Vorstellung eines vereinigten Irlands, während die DUP und ihre Anhänger das alte Nein mit immer größerer Lautstärke verkünden. Die DUP mag sich noch in der Position der Mehrheitsbeschafferin für die konservative Minderheitsregierung in London sonnen, aber ihr droht ein böses Erwachen. Viele konservative Unterhausabgeordnete und Mitglieder des House of Lords sind erbost darüber, wie die DUP die ohnehin extrem schwierigen Brexit-Verhandlungen mit der EU erschweren, Premierministerin May in der Backstop-Frage öffentlich bezichtigen, Nordirland an Brüssel verkauft zu haben, und ihr alle möglichen Beschimpfungen an den Kopf werfen. Ein Vertrauter bei den Tories hat mir vor kurzem erklärt, daß die Konservativen die Demütigungen Mays durch die DUP weder vergessen noch verzeihen werden, sondern bei nächstbester Gelegenheit Arlene Foster, Nigel Dodds, Sammy Wilson und Konsorten heimzahlen werden.

SB: Die Verfechter eines harten Brexits bei den britischen Konservativen verfügen weder im Parlament noch innerhalb der eigenen Fraktion im Unterhaus über eine Mehrheit. Haben Sie vielleicht eine Erklärung, warum sie trotzdem weiterhin die tonangebende Kraft in der Brexit-Debatte sind?

EM: Manche Phänomene sind schwer erklärbar und nur als Teil einer größeren geschichtlichen Entwicklung zu begreifen. Man muß das Brexit-Votum genauso wie die Wahl von Donald Trump zum US-Präsidenten oder die Proteste der Gelbwesten in Frankreich als Ausdruck einer Stimmung gegen die herrschenden politischen Eliten verstehen, sei es in London, Brüssel oder Washington. Denen wird angelastet, sich nur noch um die Reichen und die Großkonzerne zu kümmern und die einfachen Menschen im Stich gelassen zu haben. Die Bürgerrechtsproteste in Nordirland Ende der sechziger Jahre waren kein isoliertes, regionales Phänomen, sondern genauso Teil eines generellen Aufbegehrens wie der Kampf der Schwarzen um ein Ende der Rassentrennung in den USA, die weltweiten Demonstrationen gegen den Vietnamkrieg, die Kampagne der Frauen um gesellschaftliche Gleichstellung, der Generalstreik der Studenten und der Arbeiter in Frankreich 1968 et cetera. Ähnlich wie die Tea Party in den USA hat Nigel Farage mit seiner United Kingdom Independence Party (UKIP) die Unzufriedenheit vieler britischer Wähler mobilisiert und fast im Alleingang eine Mehrheit für den EU-Austritt zustande gebracht. Doch Leute wie er oder Jacob Rees-Mogg von der EU-skeptischen European Research Group bei den Tories können nur das Bestehende kaputtmachen. Sie wissen lediglich, wogegen sie sind, wofür aber, davon haben sie keine Ahnung. In der britischen Politik wimmelt es von Kleingeistern. Darunter leidet das Land. Staatsmänner und -frauen von Format fehlen. Boris Johnson hat bei seinem zweijährigen Zwischenspiel als Mays Außenminister mit seinen dummen Sprüchen nur noch eine Witzfigur abgegeben.

Wenn ich sehe, welches ungeheure und ungenutzte Potential in den Menschen in den armen protestantischen Arbeitervierteln wie Ostbelfast steckt, dann kann ich die rückwärtsgewandte Politik der DUP nur noch beklagen. Brexit und der Deal, den Theresa May mit der EU ausgehandelt hat, bieten Nordirland die Rolle einer Sonderwirtschaftszone zwischen Großbritannien und der EU. Ein solcher Status brächte ungeheure Vorteile. Die Region könnte sich zum zweiten Singapur, zum Investitionsmagneten Europas mit vielen ausländischen Firmenansiedlungen entwickeln. Das würde die seit Jahrzehnten dahinsiechende, von britischen Staatssubventionen über Wasser gehaltene Wirtschaft Nordirlands beleben und für einen drastischen Rückgang der Arbeitslosigkeit sorgen. In Belfast, das nur 170 Kilometer von Dublin entfernt liegt, sind die Grundstückspreise nur ein Drittel so hoch wie in der irischen Hauptstadt. Doch die DUP sperrt sich gegen einen solchen Sonderstatus, guckt dem geschenkten Gaul ins Maul und wendet sich gleich wieder davon ab, weil das Angebot der EU mit der eigenen Vorstellung von der "kostbaren Union" mit Großbritannien nicht vereinbar ist. Kein Wunder, daß sich das nordirische Bürgertum nicht mehr von der DUP vertreten fühlt. Gerade in den letzten Wochen haben sich die nordirischen Arbeitgeber- und Bauernverbände - beide einst Bastionen unionistischer Macht - für die Annahme von Mays Brexit-Deal ausgesprochen und die Weigerungshaltung der DUP als kurzsichtig und dumm kritisiert.

SB: Was meinen Sie, wie die Brexit-Krise ausgehen wird, und wird sie am Ende doch noch zur Wiedervereinigung Irlands und zum Unabhängigwerden Schottlands führen?

EM: Meine Quellen bei der konservativen Partei sagen mir, daß Theresa Mays Werben in den letzten Wochen für ihren Brexit-Deal mit der EU einige Parlamentsabgeordnete zur Revidierung ihrer ablehnenden Haltung bewegt hat. Es sind aber zu wenig. Für ihren Deal gibt es weder bei der Tory-Fraktion noch im Unterhaus eine Mehrheit. Es stehen also vier Optionen zur Debatte. Die erste: Das britische Parlament nimmt den Deal Theresa Mays bei der Abstimmung am 15. Januar an, was ziemlich unwahrscheinlich ist. Die zweite: Er findet keine Mehrheit und wird zurückgewiesen. Die dritte: Es kommt zum zweiten Referendum. Die Vierte: Neuwahlen zum Parlament finden statt in der Hoffnung, daraus ergebe sich eine neue stabile und handlungsfähige Regierung. Unabhängig davon, wie das Ergebnis der Abstimmung über den May-Deal ausfällt, bin ich überzeugt, daß das Austrittsdatum vom 29. März aufgeschoben wird, weil die Frist für die ganzen Vorbereitungen auf die Post-Brexit-Ära zu knapp geworden ist. Die gewonnene Zeit werden London und Brüssel nutzen, um irgendeine Kompromißlösung auszuhandeln, die eine Mehrheit im britischen Parlament finden kann.

SB: Also wird es nicht zum ungeordneten EU-Austritt kommen?

EM: Nein. Die Folgen wären absolut katastrophal. Das Risiko eines No-Deals will niemand bis auf die ganz harten Brexiteers eingehen. Die großen Banken und die großen Industrieunternehmen auf beiden Seiten des Ärmelkanals haben an einer solchen Entwicklung keinerlei Interesse und werden sie zu verhindern wissen. Ich gehe aber davon aus, daß die konservative Partei Großbritanniens von der Brexit-Krise schwere Schäden davontragen wird. Möglicherweise kommt es zur Spaltung zwischen den chauvinistischen Little Englanders und den Liberalen. Dies dürfte die Tendenzen in Schottland und Irland Richtung Unabhängigkeit respektive Wiedervereinigung eher verstärken, keinesfalls schwächen.

SB: Recht vielen Dank, Eamonn Mallie, für das Gespräch.


Art-Deco-Außenfassade des Café Harlem - Foto: © 2019 by Schattenblick

Café Harlem an der Bedford Street in der Belfaster Innenstadt
Foto: © 2019 by Schattenblick


20. Januar 2019


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