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AGRAR/1442: Kritischer Agrarbericht 2011 - Forderungen für eine neue EU-Agrarpolitik (DER RABE RALF)


DER RABE RALF
Nr. 161 - April/May 2011
Die Berliner Umweltzeitung

Kritischer Agrarbericht 2011 Forderungen für eine neue gemeinsame Agrarpolitik der EU

Von Jörg Parsiegla


Auch in diesem Jahr erschien wieder pünktlich zur Grünen Woche der Kritische Agrarbericht. Seit 1993 gibt das Agrarbündnis - ein Zusammenschluss von derzeit 24 unabhängigen Organisationen aus Landwirtschaft, Natur- und Tierschutz sowie Verbraucher- und Entwicklungspolitik mit insgesamt mehr als einer Million Einzelmitgliedern - mit dieser Arbeit eine Zusammenfassung der agrarpolitischen Debatte des Vorjahres wider und diskutiert Problemlösungen für die Zukunft. Schwerpunkt des diesjährigen Berichts ist "Vielfalt", die aus unterschiedlichen Sichtweisen betrachtet wird. Dabei geht es nicht nur um die Artenvielfalt in der Natur sondern auch um Agrobiodiversität, also die Vielfalt der Nutztiere und Nutzpflanzen in der Landwirtschaft. Sie betrifft weiterhin andere Agrarbereiche wie beispielsweise die Vielfalt landwirtschaftlicher Betriebsformen.


Ziel verfehlt

Insgesamt wird der themenbezogenen internationalen, europäischen und auch nationalen Politik im Internationalen Jahr der biologischen Vielfalt 2010 ein beschämendes Urteil attestiert. Zur Erinnerung: Die Weltgemeinschaft (UN) hatte sich 2002 im Rahmen der Konvention über die Biologische Vielfalt verpflichtet, den weltweiten Verlust von Arten, Lebensräumen und der genetischen Diversität bis 2010 zu senken. Die EU und mit ihr Deutschland war noch rigoroser in ihrer Zielsetzung, sie wollte eine Trendwende einleiten und den Verlust an Biodiversität stoppen. Beide Ziele wurden deutlich verfehlt. Mehr noch, es kam sogar zu einer Beschleunigung des Verlusts an biologischer Vielfalt.

Trotz dieser "katastrophalen Bilanz" spricht der Kritische Agrarbericht von einem "Schicksalsjahr" für die Vielfalt, denn Hoffnung machte im Oktober 2010 die zehnte Vertragsstaatenkonferenz der Konvention zur Biologischen Vielfalt in Nagoya. Dort "mündete das Versagen der bisherigen Politik in neuen, ambitionierten Beschlüssen und der politisch bekundeten Absicht, in den nächsten zehn Jahren doch noch eine Umkehr im ökologischen Abwärtstrend einzuleiten".


Es tut sich etwas, ...

Das zweite große Thema des Kritischen Agrarberichts ist die Ausgestaltung der künftigen gemeinsamen Agrarpolitik der EU (GAP) nach 2013. In einer ganzen Reihe von Beiträgen wird eingeschätzt, dass die anstehende Agrarreform große Chancen zu Veränderungen bietet. Ein wichtiger Grund hierfür - genährt durch die sich häufenden Lebensmittelskandale der letzten Zeit - ist das zunehmende öffentliche Interesse für Landwirtschaftspolitik. Ein sehr bemerkenswerter anderer Grund: Erstmals wurde im Erarbeitungszeitraum einer europaweiten Reform durch die Einrichtung eines internetbasierten Konsultationsverfahrens die Zivilgesellschaft aufgefordert sich einzubringen. Wie nun sehen die Forderungen der Natur- und Umweltschutzverbände aus? Reinhild Benning, die Leiterin des Referats Landwirtschaft beim BUND, gibt hierzu in ihrem Beitrag eine treffende Zusammenfassung aus Sicht der deutschen kritischen Nichtregierungsorganisationen (S. 169 ff.)


... sowohl national

Diese haben sich auf ein Papier der Plattformverbände mit Forderungen zum Umwelt- und Tierschutz sowie zur bäuerlich-ökologischen Landwirtschaft geeinigt. Daneben liegt ein Positionspapier des Forums Umwelt und Entwicklung vor, das hauptsächlich Reformschritte für Entwicklung und Hungerbekämpfung betont. Als übergreifend steht die Forderung, die Gelder der Agrarkommission - mit derzeit jährlich(!) rund 55 Milliarden Euro der mit Abstand größte EU-Teiletat - an Leistungen für öffentliche Güter wie Umwelt und Arbeitsplatzerhalt zu koppeln sowie die Marktregeln so umzugestalten, dass faire Preise für eine nachhaltige Erzeugung weltweit erreicht werden. Dabei sollen die gesetzlichen Standards so angehoben werden, dass umwelt- und entwicklungsschädliche Auswirkungen künftig vermieden werden.

Eine weitere Forderung betrifft die sogenannten Agrarumweltmaßnahmen, das heißt die Kompensationsmaßnahmen, die bisher als Ausgleich für durch Rationalisierung und Industrialisierung der Landwirtschaft entstandene Schäden geleistet wurden. Dr. Friedrich W. Graefe zu Baringdorf, Bundesvorsitzender der Arbeitsgemeinschaft bäuerliche Landwirtschaft e.V. (Abl), bringt die Unsinnigkeit solchen Vorgehens auf den Punkt, wenn er in seinem Beitrag schreibt, dass "der Verlust der biologischen Vielfalt in der Magdeburger Börde nicht durch Naturschutz im Schwarzwald kompensiert werden kann" (S. 22 ff.). Gefragt ist vielmehr eine Förderung, die Anreize für besonders hohe Umweltleistungen setzt. So fordern besonders die Umweltverbände, zehn Prozent der Fläche jedes Betriebes als ökologische Vorrangfläche vor allem für den Schutz der Artenvielfalt zu gewinnen.


...als auch auf europäischer Zivilebene

Seit April 2010 sammelt der Konvent für Landwirtschaft und ländliche Entwicklung Agricultural and Rural Convention (ARC), eine Initiative europäischer Netzwerke und Bündnisse, Vorschläge der europäischen Zivilgesellschaft zur Reform der Agrarpolitik. In einem monatelangen Diskussions- und Abstimmungsverfahren wurde eine gemeinsame Erklärung erarbeitet, die den europäischen Institutionen Mitte November 2010 vorgelegt wurde - zwei Wochen, bevor diese selbst mit ersten generellen Reformvorschlägen, der so genannten "Mitteilung zur Gemeinsamen Agrarpolitik 2020", an die Öffentlichkeit traten. Hannes Lorenzen, Berater des EU-Parlaments und Mitbegründer des Konvents beschreibt in seinem Berichtsartikel die Hintergründe und den Entstehungsprozess der oben genannten Initiative und gibt die zentralen Forderungen der gemeinsamen Erklärung wider (S. 159 ff.).

Die ARC2020 abgekürzte Erklärung fordert eine radikale Neuausrichtung der EU-Politik im Bereich Landwirtschaft und ländlicher Entwicklung. Ganz oben auf der Liste der Forderungen steht "ein Paradigmenwechsel (weg) vom heute vorherrschenden industrialisierten Leitbild und einer zentralisierten Nahrungsmittelwirtschaft (hin) zu einer flächendeckend nachhaltigen Landbewirtschaftung mit ... lokalen Verarbeitungs- und Versorgungsketten, kurzen Wegen ... und mehr Engagement der Agrarpolitik für die öffentliche Gesundheit, die Umwelt und den Tierschutz."

Weiterhin wird eine "wirtschaftliche, soziale und ökologische Renaissance in den ländlichen Räumen Europas" gefordert, die den jeweiligen natürlichen und kulturellen Stärken und Fähigkeiten dieser Räume sowie der Vielfalt der ländlichen Gebiete insgesamt gerecht wird.

Als politische Instrumente zur Durchsetzung dieser Ziele schlägt die Erklärung des Konvents die Einführung zweier getrennter Budgets vor: des europäischen Agrarfonds, der auf die Landwirtschaft mit Bezug auf die Erzeugung von Lebensmitteln gerichtet ist und des ländlichen Fonds, der auf die gesamte ländliche Wirtschaft und die territoriale Entwicklung zielt. Genaue Erläuterungen zu diesen beiden Fonds, die das bisherige Säulenmodell der Agrarfinanzierung ablösen sollen, sowie das gesamte Dokument der Erklärung finden sich als Download unter www.arc2020.eu.


Bundesregierung und Agrarkommission mauern

Das bisherige Echo auf diese Vorschläge fällt eher lau aus. So hat beispielsweise Bundesministerin Aigner (CSU) in diversen Auftritten der letzten Zeit deutlich gemacht, wo für sie die Schwerpunkte der neuen europäischen Agrarpolitik aus deutscher Sicht liegen. Da wird zum Beispiel gebetsmühlenartig die Exportorientierung der deutschen Agrarwirtschaft und insbesondere der Ernährungsindustrie beschworen. Das Geld für deren Förderung soll in Deutschland bleiben, und zwar als pauschale Direktzahlungen. Auch im Papier der Agrarkommission zur Politik nach 2013 findet sich dieses Bekenntnis zur Exportfixierung. Allerdings greift die Kommission einige Forderungen der Plattformverbände wie beispielsweise die verbindliche Kopplung der Direktzahlungen an Umweltleistungen auf und spricht in diesem Zusammenhang von einem "Greening" der neuen Agrarpolitik. Bis zu den Beschlussfassungen 2013 ist es jedoch noch ein weiter Weg - für die Plattformverbände und den Konvent Grund, in ihren Forderungen nicht nachzulassen.


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Quelle:
DER RABE RALF - 22. Jahrgang, Nr. 161 - April/Mai 2011
Herausgeber:
GRÜNE LIGA Berlin e.V. - Netzwerk ökologischer Bewegungen
Prenzlauer Allee 230, 10405 Berlin-Prenzlauer Berg
Redaktion DER RABE RALF:
Tel.: 030/44 33 91-47, Fax: 030/44 33 91-33
E-mail: raberalf@grueneliga.de
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veröffentlicht im Schattenblick zum 5. Mai 2011