Schattenblick →INFOPOOL →EUROPOOL → WISSENSCHAFT

BERICHT/020: Europäische Forschung - "Eine Endlos-Baustelle" (research*eu)


research*eu Nr. 56 - Juni 2008
Magazin des Europäischen Forschungsraums

"Eine Endlos-Baustelle"

Interview mit José Manuel Silva Rodriguez


Im Jahre 2007 haben zahlreiche Ereignisse die Welt der europäischen wissenschaftlichen Forschung in Bewegung gebracht. Mit dem Auftakt des 7. Forschungsrahmenprogramms wurde der Übergang zu effizienteren Verwaltungsinstrumenten eingeläutet, während die Realisierung des Europäischen Forschungsraums mit der Veröffentlichung eines Grünbuchs, das den verschiedenen kundigen Akteuren zur Begutachtung vorgelegt worden war, wieder angekurbelt wurde. José Manuel Silva Rodriguez leitet die Generaldirektion Forschung seit Januar 2006. Für uns zieht er eine erste Bilanz seines Mandats.


Im Jahre 2007 konnten wir die Einführung des 7. Rahmenprogramms verfolgen. Welche Lehren ziehen Sie aus dem ersten Jahr seiner Einführung?

Als ich die Leitung der Generaldirektion Forschung übernahm, stand das 7. Rahmenprogramm (RP7) schon praktisch fest und man hat es mir also sozusagen in die Hände gelegt. Dieses Instrument ist sowohl auf Kontinuität, nämlich durch eine Verstärkung der im Laufe der vorherigen RP eingeführten Maßnahmen, als auch auf Neuerung ausgelegt, etwa mit der Umsetzung u. a. von neuen gemeinsamen Technologieinitiativen (Joint Technology, JTI) oder technologischen Initiativen des Europäischen Forschungsrats (European Research Council, ERC). Alle diese neuen Verwaltungsmechanismen müssen jedoch noch erprobt werden, da im Jahre 2007 lediglich die Aufrufe zur Einreichung von Vorschlägen erfolgt sind. Ich weise Sie in diesem Zusammenhang darauf hin, dass der Vereinfachung der Verfahren und der Sicherstellung einer Transparenzgarantie bei der Umsetzung dieses Rahmenprogramms besondere Beachtung geschenkt wurde.

Hier geht es um die drei Etappen des Werdegangs einer von der Union finanzierten Forschung, von der Auswahl über die Weiterverfolgung bis hin zur Kontrolle. Dabei ist die Auswahl natürlich entscheidend. Wenn die erste Etappe transparent und effizient abläuft, ist die gute Funktionsweise des Systems bereits so gut wie entschieden. Da jedoch nichts perfekt ist, kann es noch weiter verbessert werden.

Bleiben die Kontrolle und die Nachverfolgung, zwei Bereiche, auf die sich unsere ganzen Anstrengungen in den kommenden Jahren konzentrieren werden. Die Kontrolle, namentlich die finanzielle Kontrolle, muss ohne übermäßige Bürokratie effizient sein. Was die Nachverfolgung der Projekte anbelangt, so bleibt noch sehr viel zu tun. Es gilt, diesen grundlegenden Verwaltungsaspekt sowohl in Bezug auf das RP7 als auch auf die künftigen Rahmenprogramme zur Diskussion zu stellen.

In diesem Sinne kann man eine Auslagerung der Nachverfolgung, z. B. im Bereich der Forschungsprogramme, in Betracht ziehen. Oder aber man kann eine "Binomie" zwischen Kontrolle und Nachverfolgung ins Auge fassen. Wenn man davon ausgeht, dass die Auswahl die beste überhaupt ist, kann man sich entweder auf die Kontrolle oder auf die Nachverfolgung konzentrieren. Eines steht fest: Mit der Erhöhung der Finanzierungen wird unser Managementsystem unbedingt verbesserungsbedürftig.

Das RP7 spiegelt sicherlich die Bereitschaft zur Änderung wider, aber der qualitative und quantitative Sprung zwischen dem RP6 und dem RP7 ist bislang noch nicht erfolgt. Zwar gewähren uns die neuen Anwendungsregeln einen viel größeren Spielraum, aber diese neuen Werkzeuge müssen noch praktisch erprobt werden.

Laut Kommissar Potocnik soll Ihre Generaldirektion in eine Art Europäisches Forschungsministerium umgewandelt werden, das sich vorwiegend mit der Erarbeitung von Forschungspolitiken und nicht mit der Verwaltung von Rahmenprogrammen befasst. Was halten Sie davon?

Die Auslagerung der Projektverwaltung ist bereits angelaufen. Die jüngste Einführung der Exekutivagentur des ERC und der Exekutivagentur für Forschung belegen diesen Wunsch nach teilweiser Auslagerung. Die Einführung der gemeinsamen Technologieinitiativen (JTI) ist ebenfalls ein gutes Beispiel für eine geteilte Verwaltung. Durch die Einbindung des Industriesektors, der eine Schlüsselrolle in Bezug auf die Forschungsanwendung spielt (ein Bereich, in dem die Union noch ziemlich schwach ist), festigen die JTI die Position der Europäischen Kommission in der Welt der Forschung.

Die Idee, ein Europäisches Forschungsministerium zu gründen, zielt eindeutig auf die Verstärkung der Rolle unserer Generaldirektion in der wissenschaftlichen Debatte ab. Dies ist entscheidend für die Überwindung der zahlreichen mit der Implementierung des Europäischen Forschungsraums (EFR) zusammenhängenden Hürden. Die Verwaltung der RP stellt einen beachtlichen Arbeitsaufwand dar und die Generaldirektion Forschung widmet ihr sehr viel Zeit. Wir müssen unbedingt einen Teil der Verwaltung der RP, wie z. B. die Routineaufgaben im Zusammenhang mit den Finanzkontrollmechanismen, auslagern, damit wir unsere Anstrengungen auf die Entwicklung von Politiken - einen grundlegenden Bestandteil der Zukunft der Europäischen Forschung - konzentrieren können.

Hat die im August 2007 abgeschlossene Konsultation über die Zukunft des EFR zur Konsolidierung dieser Strategie geführt?

Diese öffentliche Konsultation hat vor allem ermöglicht, die Kommission bei der Wahl ihrer für die Umsetzung des EFR festgelegten Pfeiler zu bestärken. Da die grundlegenden Eigenschaften verschiedener Aspekte, wie der Infrastrukturen, der Laufbahn der Forscher, der Ausbildung, der Mobilität und der internationalen Zusammenarbeit, festgelegt werden konnten, können wir uns nunmehr ein klareres Bild von der Form machen, die der EFR annehmen soll. Also brauchen wir nur noch die Maßnahmen im Hinblick auf seine progressive Umsetzung zu entwickeln und anzuwenden.

Bislang ist der EFR noch eine riesige Baustelle. Die Koordinierung der einzelnen nationalen Forschungspolitiken erweist sich als sehr schwierig. Wenn es uns jedoch gelingen sollte, die Mitgliedstaaten davon zu überzeugen, dass die Kommission die Rolle eines Forschungskatalysators zu übernehmen gedenkt, werden sie dem Konzept spontan beipflichten. Die Mitgliedstaaten der Union müssen klar erkennen können, dass wir da sind, um ihnen zu helfen, und nicht, um die Dinge komplizierter zu machen, als sie ohnehin schon sind. Zahlreiche Forschungen können lediglich unter der Voraussetzung bewerkstelligt werden, dass sie eine europäische Dimension annehmen. Zusammen können wir stärker sein als alle. Zurzeit mangelt es uns jedoch noch an globaler Synergie. Demnach sollte die höchste am Ende des Mandats des Kommissars zu erreichende Zielsetzung darin bestehen, sämtliche Tätigkeiten aller Mitglied-Staaten der Europäischen Gemeinschaft zu koordinieren und diesen Impulse zu geben.

Die Lissabon-Strategie empfiehlt den Mitgliedstaaten, bis zum Jahre 2010 3% ihres Bruttoinlandsprodukts für Forschung und Entwicklung zu verwenden. Dennoch wurden die erforderlichen Investitionen bis jetzt nicht immer freigegeben. Ganz besonders hapert es im Privatsektor, dem nahe gelegt wurde, zwei Drittel dieser Zielsetzung abzudecken. Wie ist diese Zurückhaltung des europäischen Industriesektors wohl zu erklären?

Die Vorbehalte des Industriesektors sind schwerlich innerhalb der Union zu verallgemeinern, da die wissenschaftlichen Forschungsbedingungen wirklich zu sehr von einem Land zum anderen abweichen. Des Weiteren hängt ein effizientes Forschungsumfeld nicht nur vom Ausmaß der Investitionen ab, wie am Beispiel Finnlands ersichtlich ist, sondern auch vom Bildungssystem. Im weiteren Sinne heißt das, dass die Ergebnisse von der Bereitschaft zur Gründung einer Wissensgesellschaft abhängig sind, was wiederum geeignete nationale Politiken, namentlich im Bereich der Universitäten, erfordert.

Darüber hinaus besteht ein bedeutender Unterschied zwischen den älteren Mitgliedstaaten und den Neuzugängen, die der Union eben erst beigetreten sind. Hier müssen die Europäischen Strukturfonds noch eine übergeordnete Rolle spielen, um die Privatanlagen zu katalysieren. Es kann also keine einheitliche Diagnose gestellt werden. Das erklärt, warum der Aufbau einer tatsächlich europäischen Forschungspolitik so viel Zeit und Aufwand abverlangt. Es ist von ausschlaggebender Bedeutung, die Rahmenmechanismen für Forschung und Entwicklung innerhalb der Union genauestens zu durchdenken, da sie die Durchführbarkeit des Systems gewährleisten. Manchmal gelangt man eben nur durch Gründlichkeit zum Ziel.

Das Gespräch wurde von Jean-Pierre Geets und Julie Van Rossom geführt


*


3 % des Bruttoinlandsprodukts bis 2010?

Werden die Mitgliedstaaten der Europäischen Union bis 2010 in der Lage sein, 3% ihres BIP (Bruttoinlandsprodukt) für die wissenschaftliche Forschung einzusetzen? Das ist gar nicht so sicher. Laut Eurostat-Bericht von 2008 zum Stand der technologischen Wissenschaft und der Innovation in Europa hat sich der europäische Durchschnitt zwischen 2004 und 2005 auf 1,84% eingepegelt. Dies bedeutet eine Stagnation, die die Union noch weiter von einem ihrer in der Lissabon-Strategie festgelegten Hauptziele entfernt. In der Tat kann man mit einem im Vergleich zu den Vereinigten Staaten (2,62% des BIP) oder Japan (3,3% des BIP) derart schwachen Aufwand für Forschung und Entwicklung schwerlich behaupten, die wettbewerbsfähigste und dynamischste Wissensgesellschaft der Welt werden zu wollen. Als aufstrebendes Land platziert sich China mit 1,34% zwar unterhalb der europäischen Leistungen, aber dieser Abstand schwindet kontinuierlich: zwischen 2000 und 2005 nahm die Intensität der FuE in China rapide zu, während sie in Europa sank. Dabei ist allerdings zu berücksichtigen, dass der Europäischen Union während dieser Zeitspanne Staaten beigetreten sind, die derzeit weniger Ressourcen für Forschung aufwenden.

Tatsache ist, dass zwischen den einzelnen Mitgliedstaaten offenkundige Unterschiede bestehen. Mit Aufwendungen von 3,8% bzw. 3,45% ihres BIP für FuE-Aktivitäten heben sich Schweden und Finnland ganz klar von den anderen Mitgliedstaaten ab und können sich im Übrigen damit brüsten, dass sie die 3%-Verpflichtung nicht nur bereits erreicht, sondern sogar überschritten haben. Unmittelbar darauf folgen Deutschland (2,51%), Österreich (2,45%) und Dänemark (2,43%), die einzigen Länder, die laut dem besagten Bericht realistischerweise hoffen dürfen, die 3%-Marke fristgerecht zu erreichen. Ganz am Ende des Feldes befinden sich Rumänien (0,46%), Bulgarien (0,48%) und die Slowakei (0,49%). Zypern steht mit 0,42% an letzter Stelle.

Auf europäischer Ebene finanziert vor allem der öffentliche Sektor mit durchschnittlich 55% die FuE-Anstrengungen. Luxemburg, Deutschland und Finnland sind die einzigen Länder, in denen die Industrie bereits zwei Drittel der Investitionen in die Forschung steckt, genau so, wie es die Lissabon-Strategie vorsieht.


*


Quelle:
research*eu Nr. 56 - Juni 2008, Seite 16-17
Magazin des Europäischen Forschungsraums
Copyright: Europäische Gemeinschaften, 2008
Herausgeber: Referat Information und Kommunikation der
GD Forschung der Europäischen Kommission
Chefredakteur: Michel Claessens
Redaktion: ML DG 1201, Boîte postale 2201, L-1022 Luxembourg
Telefon: 0032-2/295 99 71, Fax: 0032-2/295 82 20
E-Mail: research-eu@ec.europa.eu
Internet: http://ec.europa.eu./research/research-eu

research*eu erscheint zehn Mal im Jahr und wird auch
auf Englisch, Französisch und Spanisch herausgegeben.


veröffentlicht im Schattenblick zum 24. Oktober 2008