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BERICHT/031: Ethnologen von heute (eu*research)


research*eu - Nr. 61, Juli 2009
Magazin des Europäischen Forschungsraums

Ethnologen von heute


Forschung und Museumskunde in Einklang bringen. Auf internationale Konferenzen und Multidisziplinarität setzen. Die Anthropologie für andere Geisteswissenschaften öffnen. All das wurde im Zentrum für Kunst aus Afrika, Asien, Ozeanien und Amerika am Quai Branly unweit des Eiffelturms erreicht. Führung mit Anne-Christine Taylor, Leiterin des Forschungs- und Bildungszentrums.


Am 28. November 2008 feierte der Ethnologe Claude Lévi-Strauss seinen 100. Geburtstag. Aus diesem Anlass ehrte das Musée du Quai Branly in Paris diesen einflussreichen Denker des 20. Jahrhunderts, der seine Disziplin als "die Differenzierung der Wissenschaft des Beobachteten" verstand. Der amerikanische Anthropologe Erik Wolf sah in dieser Disziplin "die wissenschaftlichste aller Geisteswissenschaften und die menschlichste aller Naturwissenschaften".

Und genau mit dieser Anthropologie im weitesten Sinne, die es ermöglicht, über die ästhetischen Emotionen hinaus den Kontext und die Bedeutung von auf ihre Art symbol- und traditionsträchtigen Gegenständen zu vertiefen, beschäftigt sich den Wünschen der Museumsgründer zufolge ein Forschungs- und Bildungszentrum, das von der Ethnologin Anne-Christine Taylor geleitet wird. "Es handelt sich hierbei um eine flexible Struktur, welche die oftmals nicht sehr effizienten institutionellen Situationen vermeiden will. Das Zentrum beschäftigt kein Forscherteam in Vollzeit, sondern nimmt jeweils für einen begrenzten Zeitraum individuelle oder kollektive Projekte auf."(1) In Zusammenarbeit mit dem französischen Centre National de la Recherche Scientifique (CNRS) hat das Museum eine internationale Forschungsgruppe mit der Bezeichnung "Anthropologie und Kunstgeschichte" (Anthropologie et histoire des arts) gegründet, an der sich etwa 15 wissenschaftliche Institutionen (aus Deutschland, Frankreich, dem Vereinigten Königreich, Brasilien, Mexiko und den Vereinigten Staaten) beteiligen. "Aufgabe dieses Netzwerkes ist das Streben nach interdisziplinärer Zusammenarbeit, wobei das Spektrum der Anthropologie erweitert und Interaktionen sowie Treffen zwischen den verschiedenen Fachbereichen der Geisteswissenschaften initiiert werden."

Die internationale Forschungsgruppe tritt in erster Linie als Projektmittler auf. "Ein Forscher legt uns einen Vorschlag vor. Er möchte Kollegen aus anderen Ländern an seinem Projekt beteiligen bzw. diesen oder jenen Wissenschaftler treffen, um mit ihm über sein Projekt zu diskutieren. Und genau hierbei können wir ihm helfen. Gleichzeitig unterstützt das Zentrum vielversprechende Talente, indem es einjährige Stipendien für eine Doktorarbeit oder ein Postdoktorat vergibt."


Von der primitiven zur modernen Kunst

Die Rolle der internationalen Forschungsgruppe zeigt sich in einem großen multidisziplinären Programm internationaler Kolloquien und Seminare, die den Gedanken- und Methodenaustausch anregen. Die behandelten Themen reichen von Kosmologie über Umfragen auf Blogs Jugendlicher sozial schwacher Herkunft oder Vergleiche zwischen rituellen Tänzen und Auftritten moderner Künstler bis hin zu Untersuchungen von Bestattungspraktiken. "Durch die Betrachtung verschiedener Epochen und den Vergleich der Kulturen ist es möglich, einer Frage, die unterschwellig und unzusammmenhängend im Trend liegt, mehr Aufmerksamkeit zu verschaffen und sie besser zu formulieren. Viele Forscher sind sich beispielsweise bewusst, dass die Kunst unserer Epoche für Anthropologen viele Fragen offenhält, aber sie erfassen den Kontext nicht oder es ist ihnen nicht möglich, diesen Intuitionen Gestalt zu geben. In diesem Sinne können ihnen unsere Aktionen helfen. Unsere Stärke liegt darin, Kunstrichtungen, Konzeptionen der Kunst sowie Ästhetiken aus der ganzen Welt miteinander zu vergleichen, um über ihre Eigenheiten und ihre Gemeinsamkeiten nachzudenken. Daher legen wir als Museum der primitiven Künste so großen Wert auf Projekte, die auch Platz für den Westen und insbesondere Europa lassen. Denn diese Forschungsarbeiten verschaffen uns eine analytische Sicht über die Beziehungen zwischen unserer Kultur und denen der anderen."

Worin besteht der Sinn dieses Konzepts? Für Geistes- und Sozialwissenschaften ist Kunst (in ihrer Grundbedeutung von "ars") heute ein zentrales Anliegen bei der Bildung und Bekundung kollektiver Identitäten. Die Praktiken, die in diese Kategorie fallen könnten, werden zu spezifischen Identitätsemblemen - was sich beispielsweise bei den neuen Ritualen (Kleidung, Gesichtsbemalung, Gesänge, kollektive Bewegungen usw.) bei Fußballfans zeigt.

"Die Forscher untersuchen den Sinn von Gegenständen, wobei sie sieh auf den Prozess der Kunstwerdung konzentrieren, das heißt darauf, wie eine Praxis oder ein Werk eine ästhetische Bedeutung erlangt und eine emotionelle und kognitive Aufgabe übernimmt. Ihr Interesse gilt dabei den Mediationsmechanismen, den Formen zielgerichteter Fernaktionen auf andere. Kunst besteht nicht mehr einfach nur aus Zeichensystemen, sondern aus Beziehungssystemen, das heißt Mitteln, um auf andere einzuwirken."


Die Überlieferung muss leben

Viele dieser Arbeiten erweitern auf diese Weise das Feld der Anthropologie, die ihre Quellen in der Analyse der "ersten" Gesellschaften findet. Was wird aber aus ihnen und wo lassen sich noch "unverfälschte" Situationen untersuchen? In welcher Weise spiegelt ein sozialer Kontext des 21. Jahrhunderts noch eine Tradition wider, ohne diese zu sehr zu beeinflussen?

Für Anne-Christine Taylor ist es einfach Augenwischerei, wenn man behauptet, eine Kultur wäre zu einem bestimmten Augenblick in ihrer Geschichte völlig authentisch. Alle Gesellschaften stehen ständig in Wechselwirkung miteinander." Richtig ist, dass sich das Kräfteverhältnis deutlich verschoben hat, denn die sogenannte Globalisierung hat die Gesamtkonstellation verändert. Zahlreiche Gesellschaften führen ihre Traditionen weiter fort, auch wenn es den Anschein hat, dass sie sich an das moderne Leben angepasst haben. Sie überliefern bestimmte Bräuche, die überhaupt nichts mit der westlichen Welt zu tun haben. Sie können beispielsweise einen Teil ihrer Identität in Ausdrucksformen investieren, die sich ändern."

Genauso sieht es bei den Bevölkerungsgruppen im Huicho-Gebiet in Mexiko aus. Diese von vielen komplexen Ritualen geprägten Bevölkerungen sind seit Jahrhunderten dem "Fremden" ausgesetzt - sie wurden in das spanische Imperium integriert, kamen dann mit der mexikanischen Gesellschaft und schließlich mit Touristen in Berührung. Die Herstellung bestimmter Artefakte war schon immer ein wesentlicher Bestandteil ihres Lebens und heute erfinden sie neue Ausdrucksformen gemalte Bilder - die langsam auch von westlichen Sammlern geschätzt werden, in denen die lokalen Bevölkerungen aber in gewisser Weise die Fortsetzung einer traditionellen Beziehung zur Welt sehen.

"Daher mangelt es den Ethnologen nicht an Arbeit. Alles verändert sich. Die Gesellschaften, der Gegenstand der ethnologischen Studien sowie sie selbst. Wir erleben folglich weder das Ende der Anthropologie noch das Ende der Vielfalt, je stärker die Globalisierung voranschreitet, desto stärker wird die Produktion von Unterschieden angeregt. Das gilt jedoch nur unter der Bedingung, dass die Bevölkerungen zumindest ihren Lebensraum und die Möglichkeit behalten, die Werte weiterzugeben, die ihnen wichtig sind, wozu insbesondere ihre Sprache zählt. Wenn auch einige Reservate wie Gefängnisse sind, in denen die Menschen seelisch und körperlich sterben, können andere, von denen es zweifellos weniger gibt, zum Ausgangspunkt einer Renaissance werden. Die Ethnologen interessieren sich nicht ausschließlich für die Völker, die man früher 'Wilde' genannt hätte. Sie arbeiten auch an den Fragen der modernen Zeit, ganz gleich ob es sich dabei um wissenschaftliche Laboratorien oder Jugendbanden handelt. Ihr Interesse gilt den Lebensäußerungen in der Gesellschaft, die sie miteinander vergleichen."

C.R.


(1) Alle Zitate stammen von Anne-Christine Taylor.


Das Gebäude und sein Inhalt

Das im Jahr 2006 eröffnete Musée du Qual Branly wurde vom Architekten Jean Nouvel entworfen und beherbergt Gegenstände aus nichtabendländischen Zivilisationen wie Afrika, Asien, Ozeanien und Amerika. Der Großteil dieses Fundus befand sich zuvor im ehemaligen Musée de l'Homme in Paris. Im Zentrum des überaus modernen Gebäudes - dessen zur Seine gewandte Seite aus einer ungewöhnlichen Pflanzenwand besteht - werden 3500 Gegenstände (von den ungefähr 300.000 im Besitz des Museums) auf einer Plattform ausgestellt, sodass der Besucher die großen Zivilisationen durchqueren kann. In einem weitläufigen Multimedia-Zwischengeschoss werden Themen mithilfe einer breiten Palette frei zugänglicher Programme und Videoinstallationen erklärt. Über das Internet kann man den gesamten Fundus ansehen und sich einen Eindruck von den zahlreichen besonders vielfältigen Aktivitäten im Musée du Qual Branly machen.
www.quaibranly.fr


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Bildunterschrift der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildung der Originalpublikation:

Ein von Claude Lévi-Strauss aufgenommenes Foto eines jungen Caduveo-Mädchens in Festkleidung in seinem Buch "Traurige Tropen" wie folgt beschrieben: "die Frauen verwenden zwei Stile; die sich ebenfalls an Dekoration und Abstraktion inspirieren. Der eine ist eckig und geometrisch und der andere besteht aus krummlinigen, ungebundenen Formen. (...) Der krummlinige Stil wird eher für Gesichtsbemalungen und der geometrische Stil für den Körper verwendet; es sei denn, jede Körperregion wird durch eine zusätzliche Unterteilung mit einem Muster versehen, das sich aus einer Kombination der beiden ergibt ... Jedes Motiv kann als Negativ oder als Positiv betrachtet werden."


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Quelle:
research*eu - Nr. 61, Juli 2009, Seite 24 - 25
Magazin des Europäischen Forschungsraums
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veröffentlicht im Schattenblick zum 3. Dezember 2009