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FORSCHUNG/334: Strom - Das europäische Netz neu knüpfen (research*eu)


research*eu Sonderausgabe - März 2008
Magazin des Europäischen Forschungsraums

Das europäische Netz neu knüpfen

Von Matthieu Lethé


Seit einigen Jahren versucht die europäische Forschung, eine enorme Aufgabe zu bewältigen: Es geht darum, unsere bisweilen 50 Jahre alten Stromnetze zu modernisieren und neue Kraftwerke zu integrieren, die von den Launen der Sonne oder des Windes abhängig sind.


Die Stromverteilung erfolgt heute im Allgemeinen zentralisiert und vertikal. Unternehmen produzieren Strom in wenigen, leistungsstarken Kraftwerken und speisen ihn dann in ein Verteilernetz ein. Am Ende der Leitung empfängt der Verbraucher passiv den Strom, den er je nach Bedarf nutzt. Ein unidirektionales Schema, in dem der Verbraucher als letztes Glied in der Kette keinen Einfluss mehr hat, nachdem er einmal eine bestimmte Wahl getroffen hat, beispielsweise für den Anbieter. Zudem wurde dieses Modell für den Betrieb im großen Maßstab, d. h. auf regionaler oder sogar nationaler Ebene, konzipiert.

Aber die Dinge scheinen sich weiterzuentwickeln. Die Europäische Union versucht, durch die Unterstützung von Forschungsvorhaben diesem System eine neue Richtung zu geben. Und der Zeitpunkt ist jetzt gekommen, um gewisse Konstellationen zu ändern. Die derzeitigen Verteilernetze wurden vor rund 50 Jahren gebaut und sind heute veraltet. Sie müssen in den kommenden Jahren nach und nach ersetzt werden. Es ist also wünschenswert, dass dies so effizient wie möglich geschieht und dabei auch die heutigen Erfordernisse berücksichtigt werden.


Das Paradoxon der erneuerbaren Energien

Als Antwort auf den Klimawandel werden seit einigen Jahren erneuerbare Energien entwickelt, die jedoch bei der Integration in die Verteilernetze eine Reihe von Schwierigkeiten verursachen. "Es handelt sich dabei um ein Problem, das schon vor der industriellen Revolution im 19. Jahrhundert existierte, als man seine Bedürfnisse nur mithilfe der Natur erfüllte", erläutert Jacques Deuse, technischer Direktor des integrierten Forschungsprojekts für Verteilernetze EU-DEEP (EUropean Distributed Energy Partnership). "Mit den erneuerbaren Energien wird man wieder abhängig von der Natur. Besonders Wind und Sonne sind nicht immer verfügbar, wenn der Verbraucher dies wünscht. In unseren Breitengraden braucht man zum Beispiel im Winter viel Strom, aber im Winter scheint die Sonne am wenigsten..."

Außerdem lässt sich Strom nur unzureichend speichern. Die Produktion muss sich also so gut wie möglich nach dem Verbrauch richten. Deshalb ist die Integration von Strom, der so variabel und unvorhersehbar ist wie die erneuerbaren Energiequellen Sonne und Wind, eine große Herausforderung für die Regler des Verteilernetzes. Bei starkem Wind liefern Windräder zum Beispiel zu viel Strom, wenn die Nachfrage nicht groß genug ist. Aber man kann deshalb nicht die traditionellen Kohle- oder Gaskraftwerke abschalten, denn diese können nicht schnell genug wieder hochgefahren werden, wenn der Wind plötzlich nachlässt. Man betreibt sie also mit der geringstmöglichen Leistung, stets bereit zum Hochfahren. Jedoch stoßen Kraftwerke, die fossile Energieträger verbrennen, bei dieser Verfahrensweise im Allgemeinen viel mehr Treibhausgase pro Leistungseinheit aus, als wenn sie mit voller Kapazität betrieben werden. Die Stromerzeugung würde also paradoxerweise umweltschädlicher, gäbe man Windrädern den Vorrang.

Somit ist ein neues Konzept für die Verteilernetze eine unausweichliche Notwendigkeit. Aber wie? Daran arbeiten die Plattform SmartGrids sowie das Forschungsprojekt EU-DEEP. Sie werden zum Großteil von der Europäischen Union finanziert und führen Dutzende von Wissenschaftlern aus Forschungszentren, Universitäten sowie privaten und öffentlichen Unternehmen zusammen.


SmartGrids auf lange Sicht

Zwei Hauptideen liegen der Gestaltung von zukünftigen neuen Verteilernetzen zugrunde. Die erste betrifft die bessere Verknüpfung der vorhandenen Verteilernetze, damit ein weitgreifendes europäisches Netz entsteht. Im Grunde gilt Folgendes: Je größer das Netz, desto größer die Wahrscheinlichkeit, dass der Ausgleich zwischen Erzeugung und Verbrauch gelingt. Wenn also zum Beispiel die Brise zum Drehen der Windräder in Dänemark ausbleibt, könnte der Strombedarf durch die Sonnenkraftwerke in Spanien gedeckt werden.

Die andere Idee besteht darin, einen bidirektionalen Fluss zu ermöglichen. Eine Unzahl kleiner lokaler Netze, die aus individuellen Windrädern gespeist werden, oder die Fotovoltaikanlagen auf den Hausdächern könnten langfristig mit dem internationalen Netz verbunden werden. Wenn diese Mininetze nicht genug Strom für den lokalen Verbrauch erzeugen, wird der Mangel aus dem Hauptnetz behoben. Im entgegengesetzten Fall können sie ihren Überschuss an das Hauptnetz verkaufen. In diesem Schema fließt der Strom in beide Richtungen, der Verbraucher ist hier in gewissem Umfang also auch Erzeuger.

Die Forscher von SmartGrids heben bei diesem von ihnen entworfenen System mehrere Vorteile hervor. Die erneuerbaren Energien können ebenso leicht in Mininetze wie in das Hauptnetz integriert werden, ohne dass Unterbrechungen oder eine geringe Spannung ein Problem darstellen würden. Dies hätte eine Verringerung der CO2-Emissionen in die Atmosphäre zur Folge. Darüber hinaus wären die Kosten für den Verbraucher niedriger, weil er seinen eigenen Strom teilweise oder ganz selbst produziert, und wenn er einen Überschuss erzeugt, kann er diesen sogar verkaufen.


EU-DEEP auf kurze Sicht

Eine solche Infrastruktur kann natürlich nicht von heute auf morgen geschaffen werden, es ist noch ein weiter Weg, bis man in großem Umfang davon profitieren kann. Sie erfordert äußerst leistungsfähige Kommunikationssysteme und eine hoch entwickelte Logistik. Diese Vision ist somit nur langfristig von Bedeutung.

"Das Projekt EU-DEEP ist dagegen tief in unserer Epoche verankert", erklärt Jacques Deuse. "Es soll nicht alles zerstört und dann etwas Neues aufgebaut werden. Wir wollen die vorhandenen Kompetenzen und Infrastrukturen verbessern, um den Anforderungen von heute, morgen und übermorgen gerecht zu werden. In diesem Rahmen schlagen wir ein neues Konzept für die Verteilernetze vor, bei dem verteilt erzeugter Strom flexibel in das Netz eingespeist werden kann. Bei diesem System werden Verbraucher und Erzeuger unterschiedlich behandelt. Der Kunde wird von einem Stromerzeuger versorgt, jedoch kann er über diesen Anbieter oder eine andere Einrichtung auch seine eigene lokale Produktion verkaufen. Das Verteilernetz muss unbedingt für den gesamten Kontinent konzipiert werden, damit so gut wie möglich auf das Problem der Unterbrechungen bei den erneuerbaren Energiequellen reagiert werden kann."


Speicherung im großen Maßstab

Bis die neuen Verteilernetze im großen Maßstab eingerichtet sind, muss das Problem der Unterbrechungen bei den meisten erneuerbaren Energien gelöst werden.

Eine Lösung bestünde darin, den in Zeiten geringen Verbrauchs erzeugten Stromüberschuss während der Spitzenzeiten wieder in das Netz einzuspeisen. Der wunde Punkt dabei ist, dass Strom sich nur sehr schwer in großen Mengen speichern lässt. Es gibt allerdings schon seit Jahrzehnten riesige Elektrizitätsspeicher: Pumpspeicherwerke. Diese Pumpspeicherkraftwerke bestehen aus zwei aufeinanderfolgenden Sperren, zwischen denen ein erhebliches Gefälle besteht. In Europa befindet sich die größte dieser Einrichtungen in den französischen Alpen, an der Talsperre Grand-Maison. Während der Spitzenverbrauchszeiten, wenn die konventionellen Kraftwerke oder jene, die mit erneuerbaren Energien betrieben werden, die Nachfrage nicht befriedigen können, wird das hinter der oberen Talsperre zurückgehaltene Wasser zur unteren Talsperre freigelassen und dabei Strom erzeugt, wie bei einer klassischen Talsperre. Wenn hingegen im Vergleich zur Nachfrage zuviel Strom erzeugt wird, verwendet man den Überschuss, um Hochleistungspumpen anzutreiben, die das Wasser wieder in das obere Becken pumpen.

Die Pumpspeicherkraftwerke bieten den Vorteil eines ausgezeichneten Wirkungsgrades: Bei diesem Kreislauf geht nur ein Fünftel der Energie verloren. Der Nachteil ist, dass sie sehr viel Platz und ein natürlich vorhandenes Bergrelief benötigen.


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Quelle:
research*eu Nr. Sonderausgabe - März 2008, Seite 18-19
Magazin des Europäischen Forschungsraums
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veröffentlicht im Schattenblick zum 29. August 2008