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FORSCHUNG/344: Erdbeben, Erdrutsche und Fluten (research*eu)


research*eu Sonderausgabe - September 2008
Magazin des Europäischen Forschungsraums

Erdbeben, Erdrutsche und Fluten


Nur die Lebendigkeit unseres Planeten zu erklären, reicht der Geologie nicht. Nein, sie bemüht sich auch darum, die "Launen der Erde" vorherzusagen und ihnen vorzubeugen. Das europäische Projekt LessLoss, ein Zusammenschluss von etwa 50 Partnern, hat sich mit einem multidisziplinären Ansatz speziell den Erdbeben und Erdrutschen verschrieben.


Nachrichten jagen über den Globus - und mit der "Echtzeit"-Technologie und der unmittelbaren Nachrichtenübertragung noch schneller als je zuvor, im Laufe eines Jahres vergeht kaum eine Woche ohne Bilder und Kommentare zu Naturkatastrophen - Erdbeben, Erdrutschen, Überschwemmungen, Waldbränden -, die sich mal auf diesem, mal auf jenem Kontinent ereignen. Dieser Medienrummel hat auch etwas Positives: Die Öffentlichkeit nimmt die Naturgefahren einschließlich ihrer Auswirkungen viel stärker wahr und erwartet daher von Entscheidungsträgern und Verantwortlichen die Umsetzung von Sicherheitsmaßnahmen. Denn auch wenn die Naturereignisse für gewöhnlich viele Opfer fordern und die Auswirkungen meistens nicht vorhersehbar sind, so sind doch zumindest die Gefahren in jedem Falle abzusehen. Und in gewissem Maße kann ihnen auch vorgebeugt werden.

Wird man eines Tages zuverlässige Erdbebenwarnungen herausgeben können? Jedenfalls nicht beim gegenwärtigen Kenntnisstand. Inzwischen sind mehrere Jahrzehnte vergangen, in denen sich Wissenschaftler vergeblich darum bemüht haben, im Voraus Unregelmäßigkeiten festzustellen, die als Ankündigung von Erdbeben gedeutet werden könnten. Verschiedene Hinweise wurden verfolgt und systematisch untersucht: Veränderungen der Wasserstände und der Radonkonzentrationen im Grundwasser, kaum wahrnehmbare Erhebungen einiger Landabschnitte, unterschiedliche Geschwindigkeiten von Wellen in Bodennähe, elektromagnetische Störungen und sogar das Verhalten von bestimmten Tierarten.


Nicht greifbare Vorläufer

In den 1970er Jahren hat China ein umfangreiches Beobachtungsprogramm dieser Art durchgeführt und bisher Einzigartiges geleistet: 24 Stunden im Voraus wurde ein Erdbeben angekündigt, das sich schließlich am 4. Februar 1975 in der Region Haicheng ereignete und eine Stärke von mehr als 7 auf der Richterskala erreichte. Allerdings hatte dieses Musterbeispiel aus der Schule des Empirismus, das darauf beruhte, verschiedene Anzeichen vorschnell in einen Zusammenhang zu bringen und als Vorläufer für das dann tatsächlich erfolgte Erdbeben anzusehen, keine Zukunft. Viele Einzelheiten blieben unbeachtet, insbesondere solche, die sich mit der Zahl der verschonten Opfer und dem Ausmaß der verhinderten Zerstörungen hätten befassen können. Niemals konnten irgendwelche wissenschaftlich seriösen Erkenntnisse daraus gewonnen werden. Das bewiesen auch das Erdbeben von Tangshan, das China im darauf folgenden Jahr erschütterte und bei dem etwa 600.000 Menschen den Tod fanden - wahrscheinlich das schicksalhafteste Erdbeben aller Zeiten -, und das Erdbeben in Sichuan in diesem Jahr.

Ende der 1980er Jahre entwickelten die drei griechischen Forscher Varotsos, Alexopoulos und Nomikos eine Vorhersagemethode auf der Grundlage eines Aufzeichnungssystems für seismisch-elektrische Signale (SES), die sie nach ihren Initialen (VAN) benannten. Mit der Entschlüsselung dieser Signale konnten sie laut eigenen Angaben in den Jahren 1988 und 1993 Erdstöße mittlerer Stärke in ihrem Land vorhersagen. Allerdings wurden weder die Reproduzierbarkeit oder die Zuverlässigkeit ihrer Messungen noch ihre Ergebnisse jemals wissenschaftlich anerkannt. Jedoch haben die drei Forscher eine politisch-wissenschaftliche Kontroverse entfacht: Welche Bedeutung kann das Suchen nach einer Vorhersagemethode haben, wenn Erdbeben von einer solchen Vielzahl an Unsicherheitsfaktoren begleitet werden? In Anbetracht der aufwändigen Schutzmaßnahmen - wie der Evakuierung der möglicherweise bedrohten Bevölkerung sowie der damit einhergehenden Lähmung des Wirtschaftslebens - ist das Warten auf die anstehende Katastrophe, deren tatsächliches Eintreten dann doch prinzipiell zufallsbedingt ist, völlig nutzlos.


Konzept der Eingrenzung

Angesichts der naturbedingten Zufälligkeit muss eine Politik geschaffen werden, die auf den Schutz der Bevölkerung ausgerichtet ist, sodass diese besser auf ein solches Ereignis vorbereitet ist und die typischen Folgen einer Katastrophe gemildert und auf ein Minimum reduziert werden können. So wurde im Jahr 2004 mit finanzieller Hilfe der Europäischen Union das übergreifende Forschungsprojekt LessLoss auf die Beine gestellt, das sich der Begrenzung der mit Erdbeben und Erdrutschen einhergehenden Risiken - also der Folgenbegrenzung - widmet.

Das Projekt, das Expertenwissen von 46 Partnern (darunter ein Drittel Unternehmen) zusammenführt, stellt gewissermaßen den allgemeinen Stand der Forschung zur Begrenzung dar. Für Michele Calvi, Koordinator des Projekts und Direktor der European School of Advanced Studies in Reduction of Seismic Risk der Universität Pavia (IT), "ist ein multidisziplinärer Ansatz unerlässlich. Wenn wir uns den Erdbeben stellen wollen, müssen Wissenschaftler und Ingenieure, Soziologen und Telekommunikationsexperten, Seismologen, Mathematiker, Stadtplaner und viele andere eng zusammenarbeiten. Nur auf diese Weise ist es möglich, das Risiko auch tatsächlich zu quantifizieren und zu mindern."

"Ein solches Projekt hat den Vorteil, dass die Partner nicht nur in den Dimensionen ihres eigenen begrenzten Fachbereichs denken, sondern ihnen im Kreise eines derartigen Konsortiums die gesamte Erdbebenproblematik vor Augen geführt werden kann", fügt André Plumier von der Universität Lüttich (BE), Teamleiter der Gruppe Minderung der Anfälligkeit von Baustoffen, bekräftigend hinzu. "Zudem ermöglichen diese Begegnungen im Rahmen von Konferenzen die Bildung einer echten Forschergemeinschaft für den Fachbereich."


Standorteffekt

Was Erdbeben und Erdrutsche gemeinsam haben, ist, dass sie häufig durch Bewegungen in der obersten Schicht der Erdkruste verursacht werden. Ein wesentlicher Gedanke hierbei ist die Analyse des Standorteffekts, wobei individuell zu ermitteln ist, wie der Boden an einem bestimmten geografischen Standort im Einzelfall auf Erdstöße reagiert. Man weiß zum Beispiel, dass geologisch feste Formationen (Gestein) die seismischen Bewegungen unverändert weitergeben, während weniger starre ton- oder sandhaltige Sedimentböden eine Verstärkung der Erdstöße zur Folge haben können.

Erdrutsche können sich aber auch unabhängig von Erdbeben ereignen und dabei ähnlich schwere Zerstörungen verursachen. Sie können auch einzeln unter Hinzuziehung geomorphologischer Signale beobachtet werden, die besser vorhersehbar sind, wie beispielsweise winzige Bodenbewegungen unterirdischer Wasserkreisläufe in Mikrorissen. Diese Veränderungen sind eine Reaktion auf Spannungen, die auf das Gewicht der Gesteins- und Sedimentmassen zurückzuführen sind, sowie auf das durch Wasser verursachte Auswaschen - also deutlich weniger komplexe Mechanismen als bei der Plattentektonik. Das derzeit genutzte Hilfsmittel der GPS-Positionierung ist in dieser Hinsicht unerlässlich, Eine weitere Innovation zur Analyse schwacher Erdverlagerungen beruht auf Lidar (Light Detection and Ranging), einem Gerät, mit dessen Hilfe unter Einsatz von Laserlicht topografische und bathymetrische Daten höchst präzise erfasst werden können.


Das digitale Hilfsmittel

Grundsätzlich ist man auf die immer umfangreicheren Kenntnisse zur Plattentektonik, insbesondere an den Plattenrändern, angewiesen. Diese Informationen stützen sich auf ein Netz aus fachübergreifenden Daten, die aus nachträglichen Analysen von Erdstößen und deren Auswirkungen, aber auch aus der Archäo- oder Paläoseismologie gewonnen wurden. Sie ermöglichen eine bessere geografische und physikalische Erfassung einzelner hoch gefährdeter Zonen sowie die Bestimmung von potenziellen Werten der makroseismischen Intensität. So stehen Geoinformationssysteme (GIS) zur Verfügung, die eine immer genauere seismische Karte der Erde repräsentieren.

Diese Systeme werden aus einer stetig wachsenden geologischen Datenbank zur Beschaffenheit und dem Verhalten der oberflächennahen Böden sowie zu den vom Menschen errichteten Infrastrukturen wie Wohn- und Industriegebieten oder Bauwerken gespeist. Bei einem wichtigen Forschungsvorhaben im Rahmen von LessLoss ging es um fortschrittliche Methoden für die numerische 2D- bzw. 3D-Modellierung zur Auswertung von seismischen Bewegungen. Eine Simulation am Becken von Grenoble in den französischen Alpen hat gezeigt, dass die seismischen Wellen, die von den Rändern des tektonischen Spalts ausgehen, auf der Höhe des Beckens eine Bewegung auslösen, die stärker und länger anhaltend ist als am Spalt selbst.


Fortschritte in der Erdbebensicherung

Untersuchungen der klassischen Baustoffe wie Stahlbeton oder Stahl haben in den vergangenen Jahrzehnten zu wesentlichen Fortschritten in der Erdbebensicherung von Gebäuden geführt. In Ländern wie Japan, wo 1995 das Erdbeben von Kobe seine zerstörerische Kraft zeigte, oder auch in Kalifornien zeugt die Stabilität der meisten Gebäude und Bauwerke bei den aktuellsten Erdbeben von diesen Verbesserungen. Ein Forschungsansatz bei LessLoss, mit dem man sich speziell an der ENEA in Italien beschäftigte, konzentrierte sich auf die Entwicklung neuer Systeme zur Energiedissipation, die die einzige Möglichkeit zur Abschwächung der Folgen eines Erdbebens darstellt. Im klassischen Bau werden hierfür horizontal angeordnete Schwingungsisolatoren von geringer Steifheit eingesetzt.

Weitere Vorhaben wollen für andere, anspruchsvollere Gebäude Dämpfer auf Gummilagern, mit Hysterese-Elementen kombinierte Gleitlager oder aber schwingende Reibungssysteme entwickeln. Derzeit wird an einer bedeutsamen Innovation für elektrisch induktive Dämpfer gearbeitet, die mechanische Energie in elektrischen Strom umwandeln, der wiederum durch Wärme zerstreut wird. Eine solche Vorrichtung könnte die Stabilität großer Bauten (Brücken, Überführungen usw.) verstärken. Andere, auf der Verwendung von verstärkten Polymerfasern basierende Verfahren können für große, bereits vorhandene Anlagen eingesetzt werden.

Mit der Forschung zur Erdbebensicherung beschränkt man sich zudem nicht nur darauf, das "Drumherum" zu konzipieren. Man stellt sich auch die Aufgabe, den "Inhalt" der Gebäude, insbesondere gefährdete Einrichtungen, zu schützen,

D. B.


Italien an vorderster Front

Mit mehr als 100.000 Erdbebenopfern im Laufe des vergangenen Jahrhunderts ist Italien das Land mit dem höchsten Erdbebenrisiko in Europa. Es musste ein umfangreiches Überwachungssystem für seine drei aktiven Vulkane (Ätna, Vesuv und Stromboli) entwickeln, da diese für die dicht bevölkerten Gebiete am Fuß dieser Berge ein ständiges Risiko darstellen. In einigen Gebieten sieht man sich bei der Raumplanung und dem Städtebau mit einer weiteren Bedrohung konfrontiert: den Erdrutschen. So kamen zum Beispiel vor zehn Jahren bei der Katastrophe von Sarno 150 Menschen ums Leben. Seitdem hat das umfassende Erhebungsprojekt IFFI (zur Bestandsaufnahme des Erdrutschaufkommens in Italien) gezeigt, dass knapp 6 % des Hoheitsgebiets als instabil gelten und eine reale Gefahr darstellen.

"Abgesehen von den hohen Opferzahlen haben die Erdkatastrophen unermessliche und weitreichende finanzielle und wirtschaftliche Folgen für die Gemeinden, die auf sämtlichen Ebenen des komplexen Mechanismus des gesellschaftlichen Systems angreifbar werden", erklärt Michele Calvi. "Daher müssen Schadensbegrenzung und Reaktion auf Krisensituationen von einem holistischen und übergreifenden Standpunkt aus angegangen werden. LessLoss hat das Expertenwissen sämtlicher Akteure zusammengetragen - der Stadtplaner, Informatiker, Ökonomen, Soziologen, Geologen und Ingenieure, und das war eine großartige Leistung."

info
www.lessloss.org


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Quelle:
research*eu Sonderausgabe - September 2008, Seite 16 - 18
Magazin des Europäischen Forschungsraums
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veröffentlicht im Schattenblick zum 16. Januar 2009