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BERICHT/035: 2008 wird das Jahr der Mathematik (verbundjournal)


verbundjournal - Dezember 2007
Das Magazin des Forschungsverbundes Berlin e.V.

"Eine einmalige Chance für die deutsche Mathematik"

Jürgen Sprekels, Direktor des Weierstraß-Instituts und Vorstandssprecher des Forschungsverbundes, über das anstehende Jahr der Mathematik


FRAGE: Herr Prof. Sprekels, 2008 wird das Jahr der Mathematik. Was versprechen Sie sich davon?

JÜRGEN SPREKELS: Ich hoffe, wir können den Menschen klar machen, wie wichtig unsere Disziplin für die Gesellschaft ist.

FRAGE: Sie und ihre Kollegen wollen also zeigen, wo überall Mathematik drin steckt?

JÜRGEN SPREKELS: Das wird Teil der Veranstaltungen sein, aber ich finde diesen Ansatz eigentlich zu defensiv. Wenn ich Ihnen sage, dass Ihr Handy voller Mathematik steckt, dann interessiert Sie das vermutlich nicht sehr.

FRAGE: Naja, Hauptsache, es funktioniert...

JÜRGEN SPREKELS: Sehen Sie! Genau das ist das Problem. Deshalb gehe ich über den Ansatz hinaus und sage: Ohne Mathematik könnten Sie heutzutage überhaupt nicht telefonieren, weder mobil noch vom Festnetz aus. Sie könnten nicht im Internet recherchieren, keine DVDs ansehen und keine Musik aus dem MP3-Player hören.

FRAGE: Sie meinen, Mathematik ist so eine Art Treibstoff, um auf der Datenautobahn unterwegs zu sein?

JÜRGEN SPREKELS: Noch viel mehr. Es gibt nahezu keinen industriellen Prozess, schon gar nicht im Hochtechnologiebereich, wo nicht Mathematik im Spiel ist. Sei es beim Härten von Stahl, bei der Konstruktion von Autos, der Herstellung von Mikrochips oder bei der Optimierung von Segeljachten für den America's Cup. Ohne Mathematik würden weite Teile unserer Wirtschaft schlicht nicht funktionieren.

FRAGE: Und das soll im Jahr der Mathematik deutlich werden?

JÜRGEN SPREKELS: Ja, und die Mathematik muss ihr Horror-Image loswerden.

FRAGE: Woran liegt es Ihrer Ansicht, dass viele Schüler Mathematik nicht mögen?

JÜRGEN SPREKELS: Ich denke, das fängt schon bei den Eltern an. Ich rede jetzt gar nicht von bildungsfernen Schichten, sondern von Menschen, die sich selbst als gebildet bezeichnen. Was in weiten Kreisen der Gesellschaft als Bildung gilt, findet im Feuilleton statt oder in Kulturveranstaltungen. Für mich ist das eine Halbbildung.

FRAGE: Bloß weil Mathe fehlt?

JÜRGEN SPREKELS: Nicht nur die. Ich meine damit eine sträfliche Vernachlässigung von Natur- und Ingenieurwissenschaften sowie von Technik im Allgemeinen. Es gilt doch als schick zu sagen "von Mathe und Technik habe ich keine Ahnung".

FRAGE: Und die Kinder?

JÜRGEN SPREKELS: Na, wo soll das Interesse denn herkommen? Mathe ist nicht "in". Das Desinteresse an Technik und Naturwissenschaften ist für mich nicht ein Problem der Wissenschaft, sondern eines der Gesellschaft.

FRAGE: Da haben Sie im kommenden Jahr ja einiges zu tun. Denken Sie, dass Sie überhaupt etwas ändern können?

JÜRGEN SPREKELS: Wir müssen! Das Jahr der Mathematik ist eine einmalige Chance, die die deutsche Mathematik bekommt. Wir werden sie nutzen. Mathematik muss auf allen Ebenen der Gesellschaft stattfinden und wahrnehmbar werden.

FRAGE: Was bedeutet das für Sie und Ihr Institut konkret?

JÜRGEN SPREKELS: Wir werden uns am Wissenschaftssommer in Leipzig beteiligen, wir wollen auf der "MS Wissenschaft" ein Exponat präsentieren, und viele meiner Kollegen hier aus dem Institut sind auch über das DFG-Forschungszentrum MATHEON oder die Deutsche Mathematiker-Vereinigung DMV in Aktionen eingebunden.

FRAGE: Was wollen Sie auf dem Schiff vorstellen?

JÜRGEN SPREKELS: Wir haben ein Exponat, das sehr schön die Rolle von Form-Gedächtnis-Legierungen zeigt. Es handelt sich um das Modell eines Flugzeug-Tragflügels, der auf Knopfdruck die Form ändert. Dahinter steckt natürlich anspruchsvolle Mathematik. Während des Fluges soll bei konstantem Auftrieb der Widerstands-Beiwert in Echtzeit minimiert werden. Aber noch ist das Exponat lediglich auf der Vorschlagsliste für das Ausstellungsschiff.

FRAGE: Ist der neue Ausbildungsberuf, der jetzt eben am WIAS gestartet ist und den wir im Heft weiter hinten vorstellen, auch Teil Ihrer Bemühungen, Mathematik im kommenden Jahr publik zu machen?

JÜRGEN SPREKELS: Nein, das mit dem mathematisch-technischen Softwareentwickler MATSE reicht viel weiter zurück. Wir hatten schon seit Jahren überlegt, wie sich das Institut an der beruflichen Ausbildung beteiligen könnte. Immer wieder haben wir Konzepte geprüft, aber erst jetzt wurde es mit dem MATSE realisierbar. Die praktische Berufsausbildung sehen wir als eine gesellschaftliche Verpflichtung an, der unser Institut nachkommen will.

FRAGE: Was den Nachwuchs betrifft, haben Sie bislang vor allem die Unis mit neuen Kräften versorgt.

JÜRGEN SPREKELS: Ja, seit Institutsgründung hat es 34 Berufungen von WIAS-Mitarbeitern auf Professuren im In- und Ausland gegeben, darunter seit 2003 allein 3 Frauen. Das ist für uns ein Ausweis der Qualität des Institutes - und es zeigt, dass die Universitäten auch im Bereich der Rekrutierung exzellenten Nachwuchses von den außeruniversitären Instituten profitieren.

FRAGE: Wo verorten Sie die Angewandte Mathematik aus Deutschland im internationalen Vergleich?

JÜRGEN SPREKELS: Da gehören wir zur Weltspitze. Es ist nur schade, dass die Europäische Union dieses Potenzial nicht erkennt und nutzt.

FRAGE: Aber in Deutschland sieht und fördert man diese Stärken, oder?

JÜRGEN SPREKELS: Ja, über das DFG-Forschungszentrum MATHEON in Berlin kooperieren die drei großen Unis sowie das Konrad-Zuse-Zentrum und das WIAS ausgezeichnet. Dazu kommt noch die Berlin Mathematical School. Und wir sollten - gerade zum Jahr der Mathematik 2008 - das Bundesforschungsministerium nicht vergessen! Die BMBF-Förderprogramme für die Mathematik sind eine reine Erfolgsstory, bei der mit relativ geringem Mitteleinsatz viel bewirkt wurde. Es wäre wirklich wünschenswert, dass diese Unterstützung ausgebaut würde.

FRAGE: Ganz neu ist ein Sonderforschungsbereich an der TU, an dem Sie und das ZIB als mathematische Institute beteiligt sind.

JÜRGEN SPREKELS: Das wird ein sehr spannender Sonderforschungsbereich, bei dem ja auch das FBH aus dem Forschungsverbund eine wichtige Rolle spielen wird.

FRAGE: Nochmals zurück zum Jahr der Mathematik: Solche Wissenschaftsjahre sorgen stets für eine große Medienaufmerksamkeit. Was sind Ihre bisherigen Erfahrungen mit Medien?

JÜRGEN SPREKELS: Eigentlich habe ich ganz gute Erfahrungen mit Journalisten.

FRAGE: Aber?

JÜRGEN SPREKELS: Eines stört mich doch. Immer wieder passiert es mir, dass Journalisten beim Thema Mathematik nur auf philosophische Aspekte eingehen. Oder auf Pythagoras und Pi. Das ist schlicht Unsinn. Am WIAS haben wir ganz konkrete Anwendungsprobleme. Und die lösen wir.

Die Fragen stellte Josef Zens

Bildunterschriften der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildungen der Originalpublikation:

Einblicke in die Anatomie des Gehirn: Die "diffusionsgewichtete Magnetresonanztomographie", ein bildgebendes Verfahren in der Medizin, macht Faserstrukturen im Gehirn sichtbar. Mathematiker helfen bei der Auswertung der Daten und können daraus auch Modelle dieser Strukturen erzeugen. Im Prinzip geht es darum, die Bewegungen von Wassermolekülen auf allerkleinstem Raum zu verfolgen und daraus auf die Strukturen zu schließen, in den sich die Wassermoleküle befinden. Die Abbildung visualisiert den Verlauf von Fasersträngen innerhalb der so genannten weißen Substanz des Gehirns.
Autoren: Jörg Polzehl, Karsten Tabelow (WIAS), Daten: Henning U. Voß, Cornell University


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Quelle:
verbundjournal, Dezember 20067 S. 3-4
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"Verbundjournal" erscheint vierteljährlich
und ist kostenlos.


veröffentlicht im Schattenblick zum 5. Februar 2008