Schattenblick →INFOPOOL →GEISTESWISSENSCHAFTEN → FAKTEN

FORSCHUNG/032: Vorstellungswelt der Antike (JOGU)


JOGU Nr. 200, Mai 2007
Das Magazin der Johannes Gutenberg-Universität Mainz

Wissenschaft & Forschung
Vorstellungswelt der Antike

Von Frank Erdnüss


Wie träumten die alten Griechen?

"Träume sind Schäume" heißt es im Volksmund. Gleichzeitig haben die Menschen aller Zeiten versucht, das im Schlaf Erlebte zu deuten und daraus Rückschlüsse für das eigene Leben zu ziehen. Eine eigenartige Mischung von volkstümlicher Traumdeutung und wissenschaftlicher Beschäftigung mit dem Traum finden wir in der griechisch-römischen Antike und im alten Ägypten, wo es vielfältige Formen der professionellen Traumdeutung gegeben hat. Ein einzigartiges Zeugnis dafür sind die so genannten Oneirokritika, ein fünfbändiges Traumdeutelehrbuch, das jetzt im Rahmen eines HKFZ-Projektes genau analysiert werden soll.


*


Das Projekt von Prof. Dr. Christine Walde ist innerhalb des HKFZ (siehe JOGU 199) im Teilbereich "Konstitutionsbedingungen von Wissensräumen" angesiedelt. Es trägt den Titel "Virtuelle Wissensräume: Nacht, Schlaf, Traum und Traumdeutung in der griechisch-römischen Antike". Walde ist Spezialistin für antike Traumdeutung und hat neben ihrer Habilitationsschrift über Traumdarstellungen in der griechisch-römischen Dichtung schon zahlreiche Publikationen aus diesem Bereich vorgelegt. Dennoch wird ihr Forschungsgebiet noch oft belächelt, denn als wissenschaftlich gilt heute nur die experimentelle Traum- und Schlafforschung. Sie geht von neuro-physiologischen, kognitionswissenschaftlichen und psychoanalytischen Ansätzen aus und konzentriert sich bei der Traumdeutung sehr häufig auf die Vergangenheit. "Das war in der Antike anders", sagt Walde, "damals gab es im griechischen Kulturraum viele Traumdeuter, die mit Hilfe von Träumen die Zukunft vorhersagten oder medizinische Diagnosen gaben und dafür gut bezahlt wurden." Einer der berühmtesten war der Grieche Artemidoros von Daldis, der im 2. Jahrhundert n. Chr. die Oneirokritika, die "Traumklassifizierungen" verfasste. Dabei handelt es sich um das einzige erhaltene Lehrbuch der Traumdeutung aus der griechisch-römischen Antike.

Die griechisch-römische Antike mit ihren vielfältigen Traumdiskursen eignet sich besonders gut zur Traumforschung.

Mit ihrem Mainzer Kollegen, dem Gräzisten Prof. Dr. Jochen Althoff, möchte die Latinistin Walde nun die Oneirokritika genau analysieren und auch neu übersetzen. "Die außerordentliche Wertigkeit des mehrere hundert Seiten umfassenden Werkes wird allein daran deutlich, dass von den zahlreichen antiken Traumbüchern einzig Artemidors Aufzeichnungen überliefert und zum Beispiel auch im arabischsprachigen Kulturraum als Übersetzung verbreitet wurden", sagt Walde. Seine Verdienste wurden auch von Sigmund Freud gewürdigt, der in seiner Traumdeutung (1900) das Gründungsmanifest der Psychoanalyse vorlegte. Freud bezeichnete Artemidor jedoch auch als "unwissenschaftlichen Volkstraumdeuter", ein Trugschluss, wenn man sich in die griechische Antike hinein versetzt; damals war die Traumdeutung eine akzeptierte Praktik im Bereich der Psychohygiene und Lebensbewältigung. "Artemidor wollte die Menschen mit seiner Dienstleistung von Zukunftsängsten befreien", erklärt die Professorin. Die Deutetechnik, mit deren Hilfe die Elemente der Traumbilder in Sprache, das heißt in eine Deutung umgesetzt wurden, war hierbei eine Umkehr entsprechender Praktiken der Mnemotechnik (Gedächtniskunst) in der Rhetorik: Anders als heute durften Redner in der Antike nämlich nicht ablesen; sie mussten frei sprechen und sich dementsprechend viel merken können. Folglich bedienten sie sich einer Technik, mit der sprachliche Aussagen in räumlich vorgestellte Bilder umgesetzt und später wieder in Sprache "rückverwandelt" wurden. Die antiken Traumdeuter versuchten nun umgekehrt aus Traumbildern einen ihnen nicht bekannten Text, die Botschaft des Traumes, zu rekonstruieren.

Im Rahmen des HKFZ-Projektes untersucht Walde jetzt einen wichtigen Aspekt der Oneirokritika: die Rolle des Raumes im Traumerleben und in der Traumdeutung. So diente der Raum bei Artemidor als Deutekategorie: Traumelemente, die im virtuellen Raum des Traumbildes oben situiert sind, wurden als höherwertig bzw. hoch stehend betrachtet (der Kopf bedeutet zum Beispiel die Herrschaft, die Füße Sklaven); Elemente, die weit weg zu sein scheinen, zeigten eine späte Erfüllung des Bildes an. Diese Forschungen stellen für Walde indes nur den Einstieg in ein großes Gesamtprojekt dar. "Mein Fernziel ist ein Handbuch zu Nacht, Schlaf, Traum und Traumdeutung in der Vorstellungswelt der Antike. Es soll als interdisziplinäres Referenzwerk dienen und vor allem eine möglichst lückenlose Sammlung aller einschlägigen Textstellen bieten", führt Walde aus. Obwohl die Sichtung der Quellen bereits abgeschlossen wurde, ist es bis zur Fertigstellung einer solchen Enzyklopädie aber noch ein weiter Weg.


*


Quelle:
JOGU - Magazin der Johannes Gutenberg Universität Mainz,
Nr. 200, Mai 2007, Seite 24
Herausgeber: Der Präsident der Johannes Gutenberg Universität Mainz,
Univ.-Prof. Dr. Jörg Michaelis
Tel.: 0 61 31 / 39-2 23 69, 39-2 05 93; Fax: 0 61 31 / 39-2 41 39
E-Mail: Annette.Spohn@verwaltung.uni-mainz.de

Die Zeitschrift erscheint viermal im Jahr.
Sie wird kostenlos an Studierende und Angehörige
der Johannes Gutenberg-Universität verteilt.


veröffentlicht im Schattenblick zum 19. Juli 2007