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BERICHT/155: Tagung "Europäische Menschenbilder" (TU Dresden)


Dresdner UniversitätsJournal Nr. 6 vom 1. April 2008

Welche Menschenbilder hat Europa?

Tagung an der TUD sucht nach Quellen der europäischen Anthropologie


Die Professur für Religionsphilosophie und Vergleichende Religionswissenschaft an der TU Dresden hat für die Zeit vom 10. bis zum 12. April 2008 zu einer internationalen Tagung zum Thema "Europäische Menschenbilder" eingeladen. Mit der Initiatorin, Frau Prof. Hanna-Barbara Gerl-Falkovitz, hat das UJ über die Inhalte der Konferenz gesprochen.

UJ: Frau Prof Gerl-Falkovitz, das Thema "Europäische Menschenbilder" klingt, als wollten Sie eine sehr grundlegende Fragestellung anschneiden.

Prof. Gerl-Falkovitz: In der Tat. Wir leben politisch und ökonomisch in einem Europa, das sich als Hintergrund für eine gemeinsame Innen- und Rechtspolitik, für eine Angleichung der Rechtsstandards, aber auch Angleichungen der ökonomischen Grundlagen der Länder versteht. Immer wieder wird dabei eine geistige Einheit beschworen, übrigens auch im neuen Grundlagenvertrag. Bekanntlich ist aber die Präambel gefallen, in der der Gottesbezug als geistiger Horizont der Europäer angesprochen wurde.

UJ: Das Votum Frankreichs hat ihn verhindert.

Prof. Gerl-Falkovitz: Das Votum eines laizistischen Staates. Präsident Sarkozy macht heute andere Andeutungen; bei Mitterand war jedoch dahingehend nichts zu haben. Wir greifen ein Thema aus der Diskussion heraus, das bisher nicht breit diskutiert wurde: Auf welches Menschenbild, auf welche Menschenbilder kann man sich beziehen, wenn man eine geistige Einheit Europas thematisiert? Der Plural ist wichtig, weil keine einheitliche Aussage vorzufinden ist. Wir haben anfänglich griechische Quellen und parallel dazu das biblische Judentum mit dem Alten Testament.

UJ: Wie Derrida sagt: "Wir leben im Unterschied des Jüdischen und des Griechischen, der vielleicht die Einheit dessen ist, was wir Geschichte nennen."

Prof. Gerl-Falkovitz: Da haben Sie es - es ist keine monolithische, sondern eine spannungsreiche Kultur. Dann kommt der große Schub des Christentums, das ja von der Wurzel her mit dem Judentum verwandt ist und diese Positionen weiterdenkt. Vom Menschenbild hervorzuheben wäre dort die Betonung der Leiblichkeit bzw. der Fleischwerdung Gottes. Da sind Momente, die - im Unterschied zu den asiatischen Religionen - das Leibliche, die Materialität in ihrer Begrenztheit und Sterblichkeit deutlich machen. Das ist in anderen Religionen weniger betont. Diese Diesseitigkeit - das ist ein europäischer Zug und zugleich eine Aufforderung.

Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit sind 1789 nicht erfunden worden. Gleichheit, Gleichwertigkeit; die sehe ich schon im Galater-Brief von Paulus. Er formuliert zum ersten Mal, dass es keine Differenz in Ethnien, im Geschlecht geben solle: die gemeinsame Menschlichkeit sei das Erstrangige. Das findet man in Galater 3-28: "Ihr seid eins in Christus". Die Differenzen treten dagegen in den Hintergrund.

UJ: Betont die Bibel nicht auch an vielen Stellen die Ungleichheiten, Unterschiede und Rangfolgen zwischen Menschen, Ethnien und Geschlechtern?

Prof. Gerl-Falkovitz: Im ersten Korintherbrief sind natürlich auch Ungleichheiten formuliert. Paulus tadelt darin den liturgischen Brauch der Heiden, den orgiastischen Gottesdienst. Man muss aber unterscheiden zwischen den Briefen: bei Paulus ist klar, dass Differenzen bestehen, aber dass sie zweitrangig sind.

Die Aufklärung nun nimmt die religiös fundierten Positionen und säkularisiert sie. Auf einmal gibt es immer neue Schübe der Menschenbilder! Die säkulare Durchsetzung von Freiheit und Gleichheit - im politischen Raum wird sie nun realisiert. Nebenbei: der Ausdruck "Brüderlichkeit" verrät uns, dass das Frausein hier noch nicht angekommen war. Frauen waren in der Tat trotz aller postulierten Gleichheit rechtsbenachteiligt und wenig berücksichtigt. Das braucht noch einmal einen Schub!

UJ: Die Französinnen dürfen erst ab 1949 wählen, während die deutschen Frauen schon 1919 zur Wahl gingen. Im Konzert der europäischen Positionen ist Deutschland hier eher fortschrittlich...

Prof. Gerl-Falkovitz: Von der Mehrzahl der Menschenbilder aus gesehen, führte die Ausbildung nationaler Eigenheiten vor allem seit der Neuzeit zu Besonderheiten, etwa in der Trennung zwischen Ost und West: wir haben verschiedene politische, religiöse und rechtliche Entwicklungen unter dem europäischen Dach.

Unsere Tagung versucht nun, die Quellen der europäischen Anthropologie freizulegen und die verschiedenen geschichtlichen Schübe bewusst zu machen. Sowohl von der philosophischen und religiösen Seite wie auch von der Rechts- und politischen Kultur her. All das ist miteinander vernetzt und führt zu verschiedenen Ausgestaltungen.

UJ: Sie fragen also eher nach den philosophischen als den politischen Grenzen Europas?

Prof. Gerl-Falkovitz: Im 19. Jahrhundert herrschte ein eurozentrisches Verständnis vor; Kultur sollte überallhin exportiert werden. Das von sich so sehr überzeugte Europa ist aber in der roten und der braunen Ideologie und ihren kriegerischen Folgen zusammengebrochen. Von der Aktualisierung her ist auch die Frage zu stellen: ist es nicht ein Kennzeichen Europas, dass es sich selbst gar nicht richtig definieren kann? Dass es sich selbst aus seinen besten Quellen wieder polyphon erneuern muss: Griechisch-römische Kultur, jüdisch-christliche Kultur, Aufklärung - das ist die heutige Herausforderung.

Das Gespräch führte Martin Morgenstern.


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Quelle:
Dresdner UniversitätsJournal, 19. Jg., Nr. 6 vom 1. April 2008, S. 8
Herausgeber: Der Rektor der Technischen Universität Dresden
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Tel.: 0351/463-328 82, Fax: 0351/463-371 65
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veröffentlicht im Schattenblick zum 16. Mai 2008