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BERICHT/176: Was das Bruchstück einer Trinkschale verrät (uni.kurier-magazin - Erlangen)


uni.kurier.magazin - 109/September 2008
Wissenschaftsmagazin der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg

Eine unbedeutende Scherbe
Was das Bruchstück einer Trinkschale über das alte Athen verrät

Von Martin Boss


Seit 1909 befindet sich die wenig auffällige Scherbe eines antiken griechischen Gefäßes im Bestand der Antikensammlung [1]. Erworben von Kunsthändler Ludwig Pollak zusammen mit einer Sammlung der unterschiedlichsten Objekte [2] vom Bronzespiegel bis zum kleinen Marmoraltar, wurde der vereinbarte Kaufpreis von 690 Mark erst 1919 entrichtet - also zehn Jahre später. Es ist unklar, ob diese Verzögerung allein dem 1. Weltkrieg zuzuschreiben ist oder ob der damalige Lehrstuhlinhaber Ludwig Curtius [3] (1908 bis 1919) vor seinem Weggang aus Erlangen schlicht noch einige alte Rechnungen zu begleichen hatte.

Die Scherbe misst gerade einmal knapp 5 x 6 cm, ist auf allen Seiten gebrochen, und die originale Oberfläche ist nicht unbeschädigt: An den Bruchkanten ist sie allseitig bestoßen und berieben und auf der konkaven Innenseite ist der Farbüberzug an vielen Stellen abgeblättert. Über die weiteren Fundumstände ist nichts bekannt, und sogar ihr Fundort, vielleicht Cortona in Italien, ist unsicher und nur durch Hörensagen überliefert. Entsprechend fand sie bislang höchstens als Handstück in Seminaren und Übungen gelegentliche Beachtung. Sie wurde noch nie öffentlich ausgestellt, und ihre einzige Erwähnung in der wissenschaftlichen Literatur beschränkt sich auf ganze drei Zeilen in der ersten Vorlage des Bestandes der Antikensammlung im Jahr 1948 [4] und auf einen anderthalbzeiligen Eintrag im grundlegenden Listenwerk zu dieser Art der Keramik [5] aus dem Jahr 1963.

Weshalb also soll man sich mit einem solchen Bruchstück abgeben; weshalb es überhaupt bewahren?


Verwandtschaft mit Münchner Kleinod

Zunächst einmal wurde schon immer gesehen, dass die Scherbe Teil einer einstmals prachtvoll bemalten Trinkschale gewesen ist: Auf der konvexen Außenseite ist noch der Rest eines Zierbands aus aneinandergereihten Palmetten erhalten, ehemals nur die Standlinie, auf der ein vielfiguriger Fries die Außenseite der Schale umzog. Davon ist heute nurmehr der vorderste Rest eines Fußes auszumachen. Zierornamente und Figuren sind aus einem sattschwarzen glänzenden Überzug ausgespart - ihr rötlicher Farbton ist der eigentliche Tongrund des Gefäßes.

Diese Art der Bemalung wird in der Klassischen Archäologie "attisch rotfigurig" genannt und wurde so nur in Athen in Werkstätten gefertigt, die in der Zeit ab 530/520 v. Chr. über das fünfte vorchristliche Jahrhundert hinweg tätig waren. Bei sorgfältiger Ausleuchtung der Scherbe im Streiflicht und mit den Mitteln moderner digitaler Fotografie kann heute sichtbar gemacht werden, wie alle Umrisse sorgfältig mit einer plastisch erhabenen, feinen Relieflinie von der umgebenden schwarzen Glanztonschicht getrennt sind. Nur während der Frühzeit der rotfigurigen Vasenmalerei in Athen hatten die Handwerker diese Angewohnheit, sodass die Trinkschale wohl in der Zeit kurz vor oder um 500 v. Chr. gefertigt worden sein muss.

Die Innenseite einer solchen attisch rotfigurigen Trinkschale sollte im äußeren Teil des Schalenbeckens gänzlich mit schwarzem Glanzton überzogen sein und kann in der Mitte als rundes Innenbild eine weitere figürliche Darstellung tragen. Die Erlanger Scherbe zeigt jetzt zwar das schwarze Segment eines solchen Innenbildes, aber das äußere Schalenrund ist mit einer heute wenig ansehnlichen korallenroten Farbschicht bedeckt, die offenbar auch wesentlich schlechter am Tongrund der Scherbe haftet als der Glanzton.

Dieses "intentional red" ist bei attischen Trinkschalen eine große Seltenheit; vollständig erhaltene Exemplare dieser Art bilden heute die Prunkstücke großer Museen wie der Antikensammlung in München [6]. Dort steht eine Schale, die die Inschrift trägt: "Kachrylion hat es (als Töpfer) gemacht, Euphronios hat es bemalt". Euphronios gilt in der Wissenschaft als einer der Pioniere der attischen rotfigurigen Malweise, der ab 510 v. Chr. als einer der erfolgreichsten Vasenmaler Athens tätig war. Aus der Namensnennung auf der Münchener Schale spricht durchaus auch handwerklicher Stolz, denn das Signieren von Tonwaren ist eher selten.

Das Innenbild in München zeigt einen jungen Mann, der in eleganter Aufmachung mit thrakischem Reitermantel, Sonnenhut und Stiefeln auf einem stattlichen Pferd daherreitet; auf dem Bildgrund steht in kleinen purpurroten Buchstaben die Beischrift "Leagros ist schön". Die Streiflichtaufnahme von der Innenseite der Erlanger Scherbe kann den Teil einer wohl gleichlautenden Inschrift in ehemals ebenfalls kleinen purpurrot gemalten Buchstaben und mit demselben Duktus sichtbar machen: "Leagr ...". Die Buchstabenform gibt eine Schrift aus dem Umbruch von der archaischen zur klassischen Zeit in Athen wieder, die sich von dem Altgriechischen, wie es heute gelehrt und geschrieben wird und das die 800 Jahre jüngeren Buchstaben der Spätantike verwendet, unterscheidet: Das Lambda gleicht unserem lateinischen Großbuchstaben L, während das Gamma dem heute üblichen griechischen Großbuchstaben Lambda (Λ) gleicht.

Spätestens jetzt ist die Erlanger Scherbe trotz ihrer Kleinheit ein kulturgeschichtliches Kleinod, denn es gibt neben der vollständig erhaltenen Schale in München weltweit nur noch ein ebenfalls winziges Bruchstück in der Ermitage St. Petersburg [7], ebenfalls mit dem Rest eines schwarzen Innenbildes in korallenrotem Grund und ebenfalls mit dem Inschriftenrest: "Leagr ...". Dort ist der Fuß einer männlichen Figur im langen Bürgermantel der Athener zu erkennen.


Die Fußspitze der Athene

Aber was war ehemals das Innenbild der Scherbe in Erlangen? Innen gegen die Schalenmitte schließt sich an die Buchstabenreste jenseits des Gamma eine merkwürdige Struktur an, die man beim ersten Betrachten für eine Scharte oder sonst eine Beschädigung halten könnte. Die Streiflichtaufnahme zeigt im Inneren tatsächlich eine Verletzung der Oberfläche, aber innerhalb einer schmalen tongrundigen Spitze; offenbar hatte sich in der Vergangenheit wohl jemand über genau diese Stelle gewundert und bei der Überprüfung mit unsachgemäßen Mitteln - wie mit einem Fingernagel - diese Scharte hinterlassen. Trotzdem kann es keinen Zweifel geben; dieses Stück ist der Rest einer Bemalung, denn auf beiden Seiten wird der ausgesparte Tongrund durch eine erhabene Relieflinie von der Glanztonabdeckung getrennt. Mehr noch: Der Relieflinie folgt beidseits zunächst jeweils ein dickerer Pinselstrich und erst danach der Rest der schwarzen Abdeckung.

Sinn dieser dickeren Umrandung war, ein irrtümliches Übermalen - oder besser Hineinmalen in die Binnenfläche einer Figur - zu verhindern. Es ist aber das gegenteilige Malheur geschehen: Da der Vasenmaler die Deckkraft des Glanztons nicht genau abschätzen konnte, dessen Schwärze und Glanz ja erst im Brand entsteht, hat sich zwischen Abdeckung und Umriss eine nur zehntelmillimeter schmale Zone mit unvollkommener Sättigung ergeben. All dies ist ein eindeutiger Hinweis darauf, dass diese schmale Spitze mit Absicht aufgemalt ist.

Das Innenbild in München zeigt den jugendlichen Reiter mit dem Reise- oder Sonnenhut, dem Petasos, einem Sombrero - oder besser, dem niederen Reisehut des Don Camillo - nicht unähnlich und damals in Athen der letzte Schrei. Geht man davon aus, dass alle drei Inschriften, die der Schale in München, des Bruchstückes in St. Petersburg und der Scherbe in Erlangen im Bildfeld gleichlaufend angeordnet sind, dann ergibt sich für Erlangen, dass dieser Rest einer Bemalung in etwa der Krempe des Sonnenhutes in München entspricht.

Sollte die berühmte Trinkschale in München ein Erlanger Gegenstück finden? Wäre dann auch dieses Meisterwerk der attischen Töpferkunst kein Einzelstück, sondern Teil einer größeren Serie handwerklicher Fertigung? Euphronios hat die Außenseite der Schale in München mit einem umlaufenden Figurenfries bemalt und darauf eine der Taten des Herakles wiedergegeben: Herakles raubt die Rinder des dreileibigen Riesen Geryoneus. Das schafft Herakles natürlich nur mit dem Beistand der Göttin Athena. Und so wie Herakles zu den bevorzugten Sagengestalten des Vasenmalers Euphronios gehört hat, so oft ist dabei immer auch eine Athena mit im Bild. Sie ist unverwechselbar: kraftvoll ausschreitend wie ein Krieger, auch mit Helm, Speer und Schild bewaffnet, aber mit dem weit ausschwingendenden knöchellangen Gewand einer Frau. Die Scherbe in Erlangen zeigt nun vor und oberhalb der Fußspitze den zwischen den ausgreifenden Beinen kreisförmig schwingenden Gewandsaum mit gemusterter Borte; es ist also wohl die Spitze des zurückgesetzten Fußes der Göttin Athena, der sich auf der Scherbe als Rest erhalten hat.


Leagros der Schöne

Natürlich glich die Trinkschale, zu der die Scherbe in Erlangen gehörte, nicht der Trinkschale in München wie ein Ei dem anderen: So stehen einmal die Palmetten des Zierbandes aufrecht und das andere mal liegen sie in die Waagerechte gedreht; es muss auch nicht genau derselbe Mythos beide Male wiedergegeben sein, aber eine Variation aus demselben Schatz an Geschichten und Bildern. Maßgenaue und inhaltsgleiche Kopien sind auch bei den Handwerkern Athens nicht zu erwarten, sondern Folgen sich ähnelnder Stücke mit fortwährenden Abwandlungen in Form und Inhalt. Dabei stehen inhaltliche Vorlieben des Malers im Mittelpunkt und kehren wieder wie die Inschrift: "Leagros ist schön".

Wer aber war dieser schöne Leagros? Nicht nur der Vasenmaler Euphronios fand Leagros schön, das tat auch eine Reihe seiner Kollegen [8]. Auf den Vasen wurde zudem eine ganze Reihe weiterer Personen ausdrücklich als schön beschrieben, wie Panaitios [9], der heute Namensgeber für eine ganze Gruppe von Gefäßen mit gleichlautender Inschrift ist. Es wird sich wohl um junge Athener Bürger aus gutem Hause - "eupatrides", "von guten Vorvätern" ist der antike Begriff dafür - gehandelt haben, die sich auf irgendeine Weise, so zum Beispiel als Sieger im Sportwettkampf bei einem der großen Kultfestspiele einen Namen gemacht hatten. Sehr häufig werden diese Inschriften in den heutzutage ach so beliebten "sex and gender studies" mit jenem gelegentlich homoerotischen Verhältnis zwischen Erastes (dem Liebhaber) und Eromenos (dem Geliebten) in Verbindung gebracht, das in Athen gerade unter angesehenen Familien innerhalb gewisser gesellschaftlicher Spielregeln verbreitet und sowohl gefördert als auch gefordert war. Aber für eine solche Deutung sind die potentiellen Liebhaber allein unter den Vasenmalern in Athen schlicht zu zahlreich. Es ginge auch zu weit, wenn man die Schrift als Beschriftung der bildlichen Darstellung deuten würde, denn manchmal stehen sie umittelbar bei oder zwischen eindeutigen Sagenbildern mit Göttern und den Helden der Vorzeit.


Leuchtpunkte aus der Vergangenheit

Bei geduldiger und genauer Betrachtung beginnen auch - oder gerade - unauffällige Bruchstücke, Trümmer und Scherben eine Fülle von Einsichten in das Leben der Menschen zur Zeit ihrer Entstehung und Benützung zu gewähren; sie sind dann nicht mehr nur Fragmente, sondern als Hinterlassenschaften unserer eigenen kulturellen Vergangenheit in ihrem Wesen einzigartige und unverwechselbare kleine Leuchtpunkte einer fernen Vorzeit und als solche von unschätzbarem Wert. Dabei ist es weniger die tatsächliche optische Vergrößerung wie unter einem Mikroskop, die den Zugang gewährt, der Schlüssel liegt im Blick des Betrachters selbst - die alten Griechen hätten dieses Vorgehen wohl "Skepsis" - das genaue Hinsehen - genannt.


Dr. Martin Boss ist Akademischer Oberrat am Institut für Klassische Archäologie und Kustos der Antikensammlung der Universität Erlangen-Nürnberg.

Anmerkungen

[1] Inventarnummer I 543b.

[2] I 528 bis 534d.

[3] M. Boss, Die Antikensammlung der Friedrich-Alexander-Universität, in: Stadtmuseum Erlangen (Hrsg.): Die Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg 1743-1993 (1993) 597ff. Ders,
www.aeria.phil.uni-erlangen.de/geschichte_html/geschichte.html.

[4] W. Grünhagen, Antike Originalarbeiten (1948) 52.

[5] ARV 931 Nr. 40. ARV2 1592 Nr. 32.

[6] München, Staatliche Antikensammlungen am Königsplatz Inv. Nr. 8704 (J 337). Euphronios der Maler, Ausstellung Berlin 1991 (1991) 199ff Nr. 41. ARV2 16f Nr. 17, 1619. Para 322. Beazley, Addenda2 153.

[7] St. Petersburg (Leningrad), Staatliche Ermitage, Nr. 01.18181. Euphronios der Maler, Ausstellung Berlin 1991 (1991) 211 Nr. 45. ARV2 17 Nr. 20

[8] ARV2 1591ff. Dort sind allein in der attisch rotfigurigen Vasenmalerei 51 namentliche Nennungen des schönen Leagros von mindestens neun verschiedenen Handwerkern aufgeführt, darunter auch durch Euthymides, den zweiten bedeutenden Pionier dieser Malweise.

[9] ARV2 1609f.


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Quelle:
uni.kurier.magazin Nr. 109/September 2008, S. 20-22
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veröffentlicht im Schattenblick zum 1. November 2008