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BERICHT/177: Historikertag war für TU Dresden ein Erfolg (TU Dresden)


Dresdner UniversitätsJournal Nr. 16 vom 15. Oktober 2008

Geschichtliche Erkenntnisse in die Gesellschaft einbringen
Historikertag war auch für die TU Dresden ein Erfolg
Interview mit Prof. Winfried Müller

Von Mathias Bäumel


Bis zum 3. Oktober 2008 fand an der TU Dresden der 47. Deutsche Historikertag - der größte geisteswissenschaftliche Kongress Europas - statt. Für einen kurzen Rückblick stellte das UJ dem stellvertretenden Sprecher des Ortskomitees, Prof. Winfried Müller (Professur für sächsische Geschichte der TU Dresden), einige Fragen.


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UJ: Allein schon quantitativ gesehen war der Historikertag ein Erfolg. Welche inhaltlichen Höhepunkte und neue Erkenntnisse aber gab es?

PROF. WINFRIED MÜLLER: Zunächst einmal war es dem Institut für Geschichte wichtig, der Fachöffentlichkeit und natürlich auch den politischen Entscheidungsträgern zu zeigen, dass die Technische Universität Dresden als Wissenschaftsstandort auch für die Geisteswissenschaften von enormer Bedeutung ist. Zugleich war der Historikertag eine hervorragende Gelegenheit, den Studierenden der TU Dresden die Vielfalt und Lebendigkeit des Fachs Geschichte vor Augen zu führen. Jenseits der wissenschaftlichen Detailergebnisse in den Einzelsektionen ist - und das gilt für Studenten und Lehrende gleichermaßen - gerade der dadurch ermöglichte Einblick in unterschiedliche Ansätze der historischen Teildisziplinen im Sinne einer Erweiterung der eigenen methodischen Perspektive das, was als Gewinn eines solchen Kongresses übrigbleiben und die eigene wissenschaftliche Praxis befruchten sollte. Im Sinne einer geografischen Neuperspektivierung war es ferner wichtig, dass wir die Tschechische Republik als Partner für den Historikertag gewinnen konnten - gilt doch nach wie vor, dass sich die deutsche Geschichtswissenschaft dann, wenn sie vergleichend arbeitet, vor allem an Westeuropa orientiert und die Nachbarn im Osten zu wenig berücksichtigt.

UJ: Der Historikertag wurde vom Verband der Historiker und Historikerinnen Deutschlands (VHD) in Zusammenarbeit mit dem Verband der Geschichtslehrer Deutschlands (VGD) ausgerichtet, verfolgte also durchaus das Ziel, dass geschichtliche Erkenntnisse ins reale Leben der Menschen einfließen mögen. Haben Sie den Eindruck, dass der Historikertag im Rahmen seines Fachgebietes dazu beigetragen hat, dass Wissenschaft wieder mehr bei den Entscheidern gehört und beachtet wird?

PROF. WINFRIED MÜLLER: Geschichte ist zwar keine Wissenschaft, deren Ergebnisse sich unmittelbar messen lassen, aber ich denke schon, dass Impulse ausgehen werden. In dieser Hinsicht war es ein ermutigendes Zeichen, dass Bundespräsident Köhler und Ministerpräsident Tillich den Kongress eröffnet haben. Dabei wurde u.a. das Generalthema "Ungleichheiten" aufgegriffen und in Relation zu nach wie vor aktuellen sozialen oder geschlechtsspezifischen Disparitäten in Relation gesetzt. Die Anschlussfähigkeit des Themas für die Politik lag hier auf der Hand. Zugleich machten die Vorträge während des Kongresses aber auch deutlich, dass sich die Diskussion über Entstehung oder Beseitigung von Ungleichheit immer in einem Spannungsfeld von angestrebter Gerechtigkeit und der Gefahr übertriebener Gleichmacherei bewegt. Die historische Analyse des Phänomens "Ungleichheiten" schärft, wie es mein Kollege Martin Jehne ausgedrückt hat, den Blick für das Inventar der historischen Differenzen und erweitert das Spektrum der Varianten und Alternativen.

UJ: Hat der Historikertag neue Erkenntnisse darüber erbracht, in welchen gesellschaftlichen Bereichen - ich denke zum Beispiel an die Politik - und mit welchen Mitteln Geschichtsbewusstsein verbessert werden sollte?

PROF. WINFRIED MÜLLER: Adressiert auch an die Politik wurde mehrfach auf die bestürzende Unkenntnis junger Menschen über die Geschichte der DDR hingewiesen, weil solche Unkenntnis einer Verharmlosung der SED-Herrschaft zuarbeite. So wurde darauf aufmerksam gemacht, dass bei der Erinnerung an die DDR nicht selten gerade die SED-Herrschaft aus dem Blick gerät, wenn etwa - wie mehrfach angesprochen wurde - die Schülerinnen und Schüler wenig bis nichts über Mauerbau und Schießbefehl wissen und ein erheblicher Prozentsatz Willy Brandt und Konrad Adenauer für DDR-Politiker hält. In dieser Hinsicht war eine am 3. Oktober durchgeführte Podiumsdiskussion mit historischen Akteuren der friedlichen Revolution gerade für die vielen jüngeren Besucher ausgesprochen erhellend. Daneben hat natürlich ein alltags- und sozialgeschichtlicher Ansatz parallel dazu zur Erhellung der Alltags- und Lebenswirklichkeit in der DDR beizutragen. Nun wird man nicht sagen können, dass die Geschichtswissenschaft die DDR vernachlässigt, aber es bedarf eben eines Transmissionsriemens, der wissenschaftliche Ergebnisse in die Gesellschaft hineinträgt und zur Bildung von Geschichtsbewusstsein beiträgt. Hier kommt - und deshalb wird ja der Historikertag von VHD und VGD gemeinsam veranstaltet - der Schule eine zentrale Funktion zu. Diese kann allerdings nur erfüllt werden, wenn dem Geschichtsunterricht angemessener Raum gewährt wird. In diesem Zusammenhang wurde es ausdrücklich beklagt, dass in manchen Bundesländern wie etwa Nordrhein-Westfalen der Geschichtsunterricht zurückgefahren wird.

UJ: Welche Impulse hat der Historikertag der Dresdner Geschichtswissenschaft gegeben?

PROF. WINFRIED MÜLLER: Neben dem methodischen und inhaltlichen Ertrag, den ich bereits angedeutet habe, wurden natürlich die nationale und internationale Vernetzung vorangetrieben und die Wahrnehmung Dresdens als geisteswissenschaftlicher Forschungsstandort ganz erheblich geschärft. Ich möchte hier aber nicht nur allein auf die Geschichtswissenschaften abheben. Dass im neuen Hörsaalzentrum der TU Dresden ein Kongress dieser Größenordnung so kompakt und unter hervorragenden Bedingungen durchgeführt werden und jederzeit mit der Unterstützung der TU Dresden rechnen konnte, das fand allgemein größte Anerkennung und wird natürlich auch von den vielen auswärtigen Kongressteilnehmern multipliziert, über die Fachgrenzen hinaus. So gesehen war der Historikertag nicht nur für die Geschichtswissenschaften ein Erfolg, sondern auch für die gesamte TU und den um Studierende aus anderen Bundesländern werbenden Freistaat Sachsen.

UJ: Sollte zum Beispiel die regionale zeitgeschichtliche Forschung verstärkt werden? So gibt es an der TU Dresden seit einer ganzen Reihe von Jahren keine Untersuchungen und Projekte mehr zur Entwicklung der deutsch-tschechischen Gesellschaft im früheren Sudetenland, obwohl doch solche Sichtweisen im "Europa der Regionen" selbstverständlich wären?

PROF. WINFRIED MÜLLER: Ich teile dieses Bedauern insofern, als die Professur für osteuropäische Geschichte an der TU Dresden nicht wiederbesetzt werden konnte. Der Historikertag hat hier nun durchaus neue Anstöße gegeben, wir hatten ja immerhin u.a. eine gemeinsame deutsch-tschechische und eine weitere von tschechischen Kollegen veranstaltete Sektion zur deutsch-tschechischen Nachbarschaft und den damit verbundenen alten und neuen Sichtweisen. Ferner hielt der Vorsitzende des tschechischen Historikerverbands einen öffentlichen Abendvortrag zur Landes- und Regionalgeschichte in der Tschechischen Republik. Diesen Dialog gilt es nun fortzuführen. Solange keine eigene Professur zum Schwerpunkt Ostmitteleuropa vorhanden ist, kommt hierbei den in Dresden ansässigen außeruniversitären historischen Forschungseinrichtungen wie dem Hannah-Arendt-Institut für Totalitarismusforschung und dem Institut für Sächsische Geschichte und Volkskunde besondere Verantwortung zu.

Allerdings haben sich die Verhältnisse doch auch zum Positiven gewandelt: Mit Usti kooperiert das Institut für Geschichte mittlerweile über ein studentisches Forschungsprojekt, im Institut für Sächsische Geschichte und Volkskunde (ISGV) halten wir über unseren tschechischen Mitarbeiter Petr Lozoviuk Kontakt zum Nachbarland; das schlug sich u.a. in einer Tagung in Liberec und in Arbeiten zur sudetendeutschen Volkskunde nieder.


Informationen und Rückblick: www.historikertag.de/Dresden2008/


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Quelle:
Dresdner UniversitätsJournal, 19. Jg., Nr. 16 vom 15.10.2008, S. 6
Herausgeber: Der Rektor der Technischen Universität Dresden
Nöthnitzer Str. 43, 01187 Dresden
Telefon: 0351/463-328 82
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Internet: www.tu-dresden.de


veröffentlicht im Schattenblick zum 5. November 2008