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FORSCHUNG/101: Untergrund-Kultur sammeln und kritisch analysieren (highlights Uni Bremen)


highlights Nr. 19/Februar 2008
Informationsmagazin der Universität Bremen

"Untergrund-Kultur sammeln und kritisch analysieren"

Es gibt wahrscheinlich nur wenige Wissenschaftler, die einen derart tiefen Einblick in das Wesen und Wirken osteuropäischer Staaten haben wie Professor Wolfgang Eichwede. Er leitete bis vor kurzem die Forschungsstelle Osteuropa an der Universität - 25 Jahre lang. Ein Gespräch.


FRAGE: Herr Eichwede, wie kommt man eigentlich 1982 - mitten im "Kalten Krieg und abgeschottet durch den "Eisernen Vorhang" - darauf sich so intensiv mit einem so speziellen Thema wie Samizdat zu beschäftigen?

WOLFGANG EICHWEDE: Ich selbst habe mich schon als Schüler für Osteuropa interessiert. Das fing mit dem Volksaufstand 1956 in Ungarn an. Später, nach der Niederschlagung des Prager Frühlings 1968, hatte ich immer Verbindungen zu tschechischen Historikern. Ich fand die politischen Systeme nicht sympathisch, aber dafür um so mehr die Kultur außerhalb der Zensur, die sich in diesen Ländern entwickelte. Durch meine Kontakte fiel ich in diese "klammheimliche" Welt mit all ihrer Ausstrahlung hinein. Das übertrug sich von Prag auf Moskau, noch einmal intensiver, weil ich russisch spreche. Die Entwicklung einer inoffiziellen Kultur in kleinen Zirkeln blieb natürlich auch der Politik im Westen nicht verborgen. 1977 hatten der ehemaligen Bundeskanzler Willy Brandt und der Bremer Bürgermeister Hans Koschnick nach Gesprächen mit osteuropäischen Oppositionellen die Idee, dass die Zeugnisse der "Kultur im Untergrund" einerseits gesammelt, andererseits aber auch einer kritischen Analyse unterzogen werden müssten. Koschnick hat mich als Osteuropa-Historiker damals angerufen, ohne zu wissen, dass er damit mein ureigenstes Interesse traf. 1982 wurde das Institut gegründet zunächst ein ziemliches Politikum. Die osteuropäischen Diktaturen waren "not amused".

FRAGE: Sie und ihre Mitarbeiter haben durch ihre wissenschaftliche Arbeit einen tieferen Einblick in die Zustände in Osteuropa bekommen als die meisten anderen Menschen. Haben Sie die rasanten Entwicklungen Ende der 1980er-Jahre voraussehen können?

WOLFGANG EICHWEDE: Nein. Wir waren selber überrascht. Was vorauszusehen war, war ein galoppierender Glaubwürdigkeitsverlust dieser Systeme. Neben der ökonomischen Selbstblockierung, der Unfähigkeit zum Wettlauf mit der westlichen Wirtschaft, war es der permanente Selbstbetrug, der das Ende herbeigeführt hat. Da haben Menschen Statistiken geschrieben, von denen sie wussten, dass sie falsch waren. Oder in Diskussionen unter Historikern wurden Sachverhalte einfach auf den Kopf gestellt, die Geheimprotokolle des Hitler-Stalin-Paktes beispielsweise wissentlich geleugnet, um später - bei einem Glas Wein - einzuräumen, dass man die historischen Fakten wohl kenne. Die von uns gesammelten Publikationen und künstlerischen Arbeiten haben die Diskrepanz immer mehr verdeutlicht: Es gab ein Doppeldenken, eine Schizophrenie, einen Bi-Kulturalismus, ein Auseinanderklaffen von Reden und Denken. Die offiziellen Normen mussten immer wieder verletzt werden, damit das System überhaupt funktioniert. Auf Dauer geht so was nicht gut.

FRAGE: Die Forschungsstelle schaut auch nach vorn und betreibt Politikberatung. Gegenwärtig scheint nicht klar wohin sich Osteuropa und Russland entwickeln. Was glauben Sie, wohin die Reise geht?

WOLFGANG EICHWEDE: Viele Fragen sind offen. Historiker sind keine Propheten. Dennoch: Das neue Europa, das nicht mehr in Ost und West geteilt ist, hat sich eine Friedensordnung geschaffen, die auf lange Sicht Stabilität und Dynamik verspricht. Für Russland ist die Lage schwieriger. Ein Land, ja ein Kontinent dieser Größenordnung kann sich nicht oder nur zum Schaden seiner selbst in nationaler Überheblichkeit entwickeln. Die Öffnung zur Welt ist Voraussetzung, um in dieser Welt eine große Rolle zu spielen. Auf Europa verwiesen und von Europa profitierend, aber machtpolitisch fixiert auf die USA, hat die russische Politik noch keine kluge Balance gefunden. Wir haben dabei auch nicht geholfen. Ist Russland schwach, ist es zu schwach für uns Europäer; ist es stark, ist es zu stark. Gas und Öl sind keine Garanten für Modernität. Sie mögen ein kurzfristiges Auftrumpfen erlauben, aber haben keine Innovationskraft. Denke ich als Historiker in "langen Wellen", bleibe ich optimistisch, denke ich als politischer Mensch an das Heute und Morgen in Russland, wachsen meine Sorgen.

FRAGE: 25 Jahre Forschungsstelle unter Ihrer Leitung - gibt es da ein herausragendes Ereignis?

WOLFGANG EICHWEDE: 1989 war ein Jahr, das von einem Höhepunkt zum anderen jagte - wir standen im Bann der Ereignisse: in der Sowjetunion zerbrach die Macht der KPdSU, in Polen kam es zur Bildung einer nicht kommunistischen Regierung, in Ungarn wurde der Ministerpräsident der Revolution von 1956 in einem Staatsbegräbnis beigesetzt - er war 1958 hingerichtet und dann verscharrt worden -, in der DDR fiel die Mauer, in Prag wurde der Bürgerrechtler und Schriftsteller Václav Havel zum Präsidenten gewählt. Das östliche Europa schrieb eine neue Geschichte ziviler Revolutionen. Für die Forschungsstelle war dies eine Erfahrung ohne Beispiel. Bürgerrechtsbewegungen, die wir seit Jahren erforschten, setzten sich historisch durch. Akteure, die über Jahrzehnte verfolgt waren und oft unter Hausarrest standen, konnten plötzlich die Forschungsstelle besuchen. Nehmen Sie den tschechischen Historiker Milos Hajek: Widerstandskämpfer im Zweiten Weltkrieg, Reformkommunist im "Prager Frühling", Sprecher der Menschenrechtscharta 77. Er gehörte zu meinen engsten Freunden in Prag. Wir haben uns oft unter konspirativen Bedingungen getroffen. Nun hielt er Seminare vor Bremer Studenten. Die Geschichte spielte auf schöne Weise verrückt.


Professor Wolfgang Eichwede

was until recently the head of the Research Centre for Eastern European Studies at the University - a post he held for 25 years. Very few persons have such a deep insight into the nature of the Eastern European states and how they function. Whilst still at school, Wolfgang Eichwede had already developed a keen interest in Eastern Europe. Later, while working as a historian, his colleagues in Czechoslovakia introduced him to the "clandestine world" of the underground culture there. Since 1982 he and his staff at the Research Centre for Eastern European Studies have been collecting and analysing testimonies to this culture. He established countless contacts to dissidents and civil rights activists in what was then called the "Eastern Block", monitored the streams of "unofficial" culture in a number of countries, and today his expertise is much sought after by policy makers and the media. Notwithstanding, in spite of his connections and background knowledge he was quite surprised by the rapid collapse of the socialist systems, which nobody had predicted. Now Eichwede views the current developments, especially in Russia, with some trepidation. He counts the civil revolts of 1989 as the most important events to have taken place during his career.


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Quelle:
highlights - Informationsmagazin der Universität Bremen
Heft 19 - Februar 2008, S. 12-13
Herausgeber: Rektor der Universität Bremen
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veröffentlicht im Schattenblick zum 13. Juni 2008