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FORSCHUNG/118: Notizen zu den editorischen Prinzipien der Getto-Chronik (Spiegel der Forschung - Uni Gießen)


Spiegel der Forschung Nr. 1/Juli 2008 Wissenschaftsmagazin der Justus-Liebig-Universität Gießen

Notizen zu den editorischen Prinzipien der "Chronik des Gettos Lodz/Litzmannstadt"

Von Erwin Leibfried


Der nachstehende Text versucht - ausgehend von einer schlaglichtartigen Beleuchtung der Situation im "Archiv des Judenältesten in Litzmannstadt", in dem die Chronik entstand - die leitenden Prinzipien darzulegen, die von der deutsch-polnischen Forschergruppe zur ersten vollständigen Edition der Chronik in deutscher Sprache zugrunde gelegt wurden.


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Durchgehend bestimmend für die Arbeit der Chronisten und ihrer Mitarbeiter war der Mangel im Getto: Es fehlte an Nahrung, an Brennstoffen zum Heizen, selbst an Schreibutensilien. Hunger war der Normalzustand, im Winter zwangen die eisigen Temperaturen die "Archiv"-Mitarbeiter dazu aufzustehen, umherzugehen oder Armbewegungen zu machen, um nicht vor Kälte starr zu werden. Der ständige Papiermangel ließ die Chronisten manchmal sogar auf Packpapier zurückgreifen. Die Schreibmaschinen waren mehr als reparaturbedürftig, die Farbbänder abgenutzt, einigen fehlten die deutschen Sonderzeichen ("ß", "ä", "ö", "ü"). Die Autoren bzw. Sekretärin nen behalfen sich oft, indem sie die Umlaut-Punkte aufwendig maschinenschriftlich mit dem Satzzeichen-Punkt setzten - Alice de Buton z.B. geht in dem Text "Wie arbeitet der Neueingesiedelte im Getto" auf solche Schwierigkeiten ein.

Die chronikalische Berichterstattung setzt knapp ein Jahr nach der Einrichtung des Gettos mit dem 12. Januar 1941 ein und endet - kurz vor der Liquidierung desselben im August 1944 - mit dem 30. Juli 1944. Von Januar 1941 bis August 1942 wurde die Chronik vorwiegend in polnischer Sprache verfasst. Ab September 1942 sind die Berichte über weite Strecken zweisprachig gehalten: Die meist deutschsprachigen Tageschroniken werden bis zum Jahresende 1942 durch polnische Einzelberichte ergänzt. Von Januar 1943 bis Juli 1944 ist die Chronik nahezu durchgehend deutschsprachig; nur sehr vereinzelt wird sie durch polnische Zusatztexte vermehrt.

Arbeitspause für Kinder: Die Suppe am Mittag war oft die einzige Nahrung

Arbeitspause für Kinder: Die Suppe am Mittag war oft die einzige Nahrung


Die Chronik des Gettos liegt hauptsächlich in maschinenschriftlicher Form vor, nur wenige Seiten sind handschriftlich verfasst (einige handschriftliche Entwürfe haben sich in erhalten in APL, 278/1089). Vielfach wurden die Texte Sekretärinnen diktiert, andere Male direkt von ihren Verfassern auf der Schreibmaschine geschrieben, wobei mehrere Durchschläge angefertigt wurden. Wie viele dieser Durchschläge angefertigt wurden, ist nicht mehr genau ermittelbar. Dobroszycki spricht von "five or six carbon copies" (Dobroszycki 1984, S. xv), Nachman Zonabend von "all its four copies" (Zonabend 1991, S. 14). Trotz der komplizierten Überlieferungsgeschichte sind heute noch annähernd 6000 Blatt der Chronik erhalten.


Das Schicksal der Aufzeichnungen

Nachdem Nachman Zonabend die Dokumente aus dem "Archiv des Judenältesten" im Januar 1945 hatte retten können, führten ihn kluge, erfahrungsgeleitete Überlegungen dazu, die Schriften nicht nur an einem Ort zur Aufbewahrung zu belassen. Während er den Großteil der Archivalien der Jüdischen Historischen Kommission übergab (der Vorgängerinstitution des heutigen Jüdischen Historischen Instituts in Warschau), versuchte er in den Jahren 1945 und 1946 Teile des geborgenen Materials ins Ausland zu schaffen, was aber zunächst misslang. Erst 1947 konnte Zonabend nach Schweden auswandern und die so außer Landes gebrachten Dokumente nach New York in das dortige YIVO-Institut und auch nach Yad Vashem (Israel) weitergeben. Die in Polen verbliebenen Bestände wurden wohl 1968 - als Folge der antisemitischen Unruhen in Polen - von Warschau nach vorerst zur dortigen Kommission für die Verfolgung der Nazi-Verbrechen verlagert, ehe sie im Mai 1969 in das örtliche Staatsarchiv wanderten.

Das im fünften Band der Edition vorgelegte Verzeichnis der Textzeugen ermöglicht eine genaue Vorstellung von der gegenwärtigen Verteilung der Chronik-Originale auf die erwähnten Archive. Der bei weitem umfangreichste Bestand liegt heute im Staatsarchiv Lodz. Hier konnte auch das vollständigste Konvolut zusammengefügt werden, das im Laufe der Zeit offenbar immer wieder durch Durchschläge ergänzt und dabei teilweise umgestellt wurde. Eine Folge dieser nachträglichen Eingriffe ist die mehrfache Paginierung der Textzeugen: Zusätzlich zu der ursprünglich von den Chronisten maschinenschriftlich vollzogenen Nummerierung, die nur Tage oder Monate fortlaufend zählt, weisen die Blätter am rechten oberen Rand bis zu drei unterschiedliche Seitenzählungen auf. Leider ist nicht mehr festzustellen, von wem sie wann angebracht worden sind. Sie wurden daher für die Edition außer Acht gelassen.


Materialität der Textzeugen und Erhaltungszustand

Keines der erhaltenen Konvolute besteht nur aus einer Papiersorte, auffällig stark vertreten ist Durchschlagpapier, auch als originale, erste Seite. Die Papierfarbe ist nicht immer weiß bzw. leicht bräunlich-gelblich, es gibt auch blaues, rosafarbenes, gelbes, grünes Papier. Die Qualität schwankt, auch kriegsbedingt; heute sind viele der über 60 Jahre alten Blätter sehr brüchig oder anderweitig beschädigt. Im Zuge der Editionsarbeiten wurden die Textzeugen in Lodz und in New York ausgiebig in ihrer Materialität beschrieben. Eine vollständige Wiedergabe hätte den Rahmen der fünfbändigen Edition gesprengt, die Beschreibung soll jedoch im Internet (www.holocaustliteratur.de) einsehbar gemacht werden.

Das bereits erwähnte, umfangreiche "Verzeichnis der Textzeugen" erlaubt einen Überblick über den vorhandenen Bestand und die fehlenden oder verloren gegangenen Chroniken. So liegen z.B. vom Februar 1941 nur drei Tage vor, alle anderen Texte, die - wie die Zählung der Tagesberichte belegt - ursprünglich vorhanden waren, sind verschollen. Vom August 1941 fehlen z.B. die Chroniken der Zeiträume 2.-3., 5.-9. und 12.-29. Gründe für diese Lücken müssen in der Überlieferungsgeschichte gesehen werden.


Das Grundprinzip der Edition

Die Erhaltung der Heterogenität der Textzeugen ist das leitende Prinzip der Edition der "Chronik des Gettos Lodz/Litzmannstadt". Die Wiedergabe der deutschsprachigen Texte hält sich (fast) diplomatisch genau an die Vorlage. So kann in einem Absatz oder in einer Zeile die Schreibung "ä" neben "ae" auftauchen. Stillschweigend wurden nur eindeutige Schreibfehler, Buchstaben- oder Zahlendreher ("1924", "Spetember") oder Buchstabenauslassungen korrigiert. Ergänzungen bei materiell bedingten Verlusten, z.B. durch Lochung oder Beschädigungen anderer Art, wurden mit eckigen Klammern kenntlich gemacht. Darüber hinaus gehende Änderungen wurden in den Endnoten verzeichnet. Wenn sich die Herausgeber zu einer Konjektur nicht entschließen konnten, werden die Textstellen in den Endnoten durch den Satz "So in ..." als mit dem Original übereinstimmend gekennzeichnet. Stärkere Eingriffe, etwa im syntaktischen Bereich oder bei der schwankenden Schreibung von Fremdwörtern, waren nicht zu verantworten, da im deutschsprachigen Teil oft nicht entscheidbar ist, ob es sich beispielsweise um prager- oder wienerdeutsche Varianten handelt. Unverkennbar ist die Sprache der deutschschreibenden Chronisten auf lexikalischer, syntaktischer und idiomatischer Ebene stark vom süddeutschen Gebrauch bestimmt. Standardisierungen oder Duden-Normalisierungen wurden daher bewusst nicht durchgeführt. Eine Ausnahme bildet nur die Kommasetzung, die vorsichtig an den heutigen Gebrauch angepasst wurde, um Schwierigkeiten bei der Lektüre zu verhindern.

Bucheinband der Chronik

Ein Grund für die sehr zurückhaltende Handhabung von Normalisierungen bzw. für die ausgiebige Dokumentation vermeintlicher Fehler war auch das Bestreben, die reale Schreibsituation nicht zu verdecken. Man muss hier etwa bedenken, dass manche der Sekretärinnen keine normale Schulbildung genossen hatten, da eine solche von den Nationalsozialisten verhindert worden war. Folglich sind Unsicherheiten in der Rechtschreibung, die etwa auch bei der Schreibung von Fremdwörtern deutlich wird, erklärbar. Hinzu kommt, dass z.B. eine orthographische Normierung von Fremdwörtern erst zu Anfang des 20. Jahrhunderts erfolgte, die meisten der deutschsprachigen Chronisten also - aufgrund ihres Alters - auch einen anderen Schreibusus gewöhnt waren.

Zu den realen Bedingungen, die zu Schreibfehlern oder - beim Schreiben nach Diktat - zu Hörfehlern führten, gehörte weithin auch eine durch Hunger und Kälte geschwächte Aufmerksamkeit.


Editorische Einzelheiten

Die prinzipielle Entscheidung zur Bewahrung der Heterogenität des Textes hatte einige editorische Festlegungen zur Folge, von denen einige hier beispielhaft genannt seien: Die Schreibung der Eigennamen in der Chronik schwankt stark; polnische, jiddische, deutsche Formen werden uneinheitlich verwendet ("Zylberbogen"/"Silberbogen", "Pulawer"/"Pulaver", auch "Posener"/"Posner"), zuweilen im gleichen Absatz. Diese Varianten wurden nicht vereinheitlicht. Viele Namen von Opfern (und einigen Tätern) konnten während der Editionsarbeit ausfindig gemacht, eine Reihe von Einzelschicksalen rekonstruiert werden. Diese Ergebnisse sind zum Teil mit in die Kommentierung eingeflossen. Umfangreichere Informationen über die in der Edition genannten Personen, ihre Lebensdaten und ihre Funktionen im Getto enthält - soweit diese in Erfahrung zu bringen waren - das Personenregister. Namen von NS-Funktionsträgern werden in einer gesonderten Liste aufgeführt. Das Personenregister ist das Ergebnis aufwendiger Recherchen; dennoch ist es nicht durchgehend gelungen, Informationen, die über jene der Getto-Chronik hinausgehen, zu erlangen.

Die Wiedergabe der Ortsnamen orientiert sich ebenfalls an der Chronik, auch Fehlschreibungen werden nicht korrigiert. In den Anmerkungen wird der (korrekte) Ortsname aufgenommen und zusätzlich in Klammern der jeweilige polnische bzw. deutsche Name ergänzt. Werden in den Endnoten Ortsnamen genannt, die nicht im Chronik-Text erwähnt sind, steht - sofern jeweils vorhanden - zuerst der deutsche, dann der polnische Name. Nationalsozialistische Stätten des Terrors und die Vernichtungslager werden in der Kommentierung mit ihren deutschen Namen bezeichnet. Dazu zählt z.B. auch die Unterscheidung zwischen dem Getto bzw. der deutsch besetzten Stadt Litzmannstadt und der Vorkriegstadt bzw. dem heutigen Lodz. Zitate sind von dieser Regelung ausgenommen.

Auch kleinere Unregelmäßigkeiten werden abgebildet, z.B. "Davidstern" und "Dawidstern" in demselben Absatz (auch u.a. "Comitees"/"Kommitees", "Verdunkelung"/"Verdunklung", "Mittagstammkarten"/"Mittagsstammkarten", "Coupon"/"Kupon"). Ebenso übernommen werden variierende Schreibweisen von Mengen- und Preisangaben: "211,000 kg" und "118.00 kg", "100 Mk." und "200 M." Die unterschiedliche Schreibung der Umlaute in einem Absatz wird beibehalten ("Laeden", "gegenwärtig"). Fehlende Punkte nach Abkürzungen ("ca", "Dr") entsprechen durchgehend der Textvorlage; "Nr"/"Nr." wurde dagegen - der deutlichen Tendenz der Texte entsprechend - zu "Nr." vereinheitlicht. In adjektivischen Bildungen wird das Hauptwort häufiger groß geschrieben: "Ungeziefer-frei", "Gettoeigene" - auch dies bleibt bewahrt.

Vermeintlich stilistische Verbesserungen, etwa die Beseitigung von Wiederholungen, besonders auch in den übersetzten Partien, wurden unterlassen (z.B. eine dreimalige Wortwiederholung in einem kurzen Absatz).


Zur Kommentierung

Die Kommentierung der Chroniktexte in den Endnoten ist umfassend ausführlich; ein Schwerpunkt liegt auf historischen Erläuterungen unter Einbeziehung von Quellen, Memoiren und literarischen Texten. Es gibt weiter: eine philologische Beschreibung der Textzeugen, verständnissichernde sprachwissenschaftliche Erläuterungen und Sacherklärungen.


Prof. Dr. Erwin Leibfried
Arbeitsstelle Holocaustliteratur
Institut für Germanistik
Otto-Behaghel-Straße 10 B
35394 Gießen
E-Mail: Erwin.Leibfried@germanistik.uni-giessen.de

Erwin Leibfried, Jahrgang 1942, am Rhein aufgewachsen; Studium der Germanistik, Philosophie und Psychologie. Seit 1973 Professor für Neuere deutsche Literatur in Gießen. Veröffentlichungen u.a. zu Goethe, Schiller, zur Bibel, zu Multatuli, zur Fabel und zur Hermeneutik.


Alle Abbildungen: Copyright Staatsarchiv Lodz
mit freundlicher Genehmigung des Staatsarchivs Lodz
Erstveröffentlicht in: "Chronik des Gettos Lodz/Litzmannstadt",
herausgegeben von der Arbeitsstelle Holocaustliteratur am Institut für Germanistik der Justus-Liebig-Universität Gießen in Zusammenarbeit mit dem Germanistischen Institut der polnischen Partneruniversität Lodz und dem Staatsarchiv Lodz.


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Quelle:
Spiegel der Forschung Nr. 1/Juli 2008, 25. Jahrgang, S. 42 - 45
Wissenschaftsmagazin der Justus-Liebig-Universität Gießen
Herausgeber: Der Präsident der Justus-Liebig-Universität Gießen
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veröffentlicht im Schattenblick zum 03. April 2009