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FORSCHUNG/134: "Mein süßes, liebstes Herz" - Briefe zu Lebens- und Liebesgeschichten (idw)


Universität Wien, Veronika Schallhart, 10.11.2010

"Mein süßes, liebstes Herz":
Forschungsprojekt über Briefe zu Lebens- und Liebesgeschichten


Feldpostbriefe zwischen Soldaten und ihren Ehefrauen, Brautbriefe an die Verlobte oder die schriftlichen Zeugnisse einer heimlichen Affäre: Ein Forschungsteam um Christa Hämmerle, Professorin am Institut für Geschichte der Universität Wien, und Ingrid Bauer, Professorin am Fachbereich Geschichte der Universität Salzburg, analysiert in einem FWF-Projekt Paarkorrespondenzen aus der Zeit zwischen 1870 und 1970. Die Wissenschafterinnen untersuchen, auf welche Weise in den Briefen Liebe zum Ausdruck kommt und wie Beziehungen bzw. Geschlechterpositionen ausverhandelt werden. Dabei stehen Frauen- und Männerrollen häufig zur Diskussion, Sexualität wird erstaunlich offen thematisiert.

Die an der Forschungsplattform "Neuverortung der Frauen- und Geschlechtergeschichte im veränderten europäischen Kontext" der Universität Wien beheimatete Sammlung enthält zahlreiche Paarkorrespondenzen aus dem 19. und 20. Jahrhundert. Diese bilden, ergänzt durch Bestände aus anderen österreichischen Archiven, die Grundlage für das in Kooperation mit der Universität Salzburg bis 2012 anberaumte FWF-Projekt "(Über) Liebe schreiben?" unter der Leitung von Christa Hämmerle (Universität Wien) und Ingrid Bauer (Universität Salzburg).


Macht und Liebe im Brief

Mittels qualitativer Inhaltsanalyse und diskursanalytischer Ansätze werden Beziehungen zwischen Frau und Mann durch das Medium Brief beleuchtet. In den Korrespondenzen ausgedrückte Liebeskonzepte und Machtverhältnisse werden ebenso untersucht wie die Spielräume der VerfasserInnen im Spannungsfeld von Liebesdiskursen, gesellschaftlichen Vorgaben und eigenen Erfahrungen. Die Wissenschafterinnen befassen sich auch mit dem Vergleich unterschiedlicher Milieus: Erst kürzlich erhielten sie etwa Briefe eines bäuerlichen Brautpaares aus Vorarlberg aus den 1950er-Jahren, oder die Korrespondenz eines Salzburger Dienstmädchens aus den 1920er-Jahren.


Von der bürgerlichen Frauenbewegung zur sexuellen Revolution

Vergilbtes, in Kurrent beschriebenes Papier markiert den Beginn des analysierten Zeitraums: Die ältesten im Projekt untersuchten Briefe wurden um 1870 verfasst und fallen in die erste Zeit der bürgerlichen Frauenbewegung. Die jüngsten Korrespondenzen entstanden im Kontext der "sexuellen Revolution" - eine Zeitspanne von rund 100 Jahren. "Briefe sind nicht einfach authentische, unmittelbar geschriebene Texte", erklärt Hämmerle die Herausforderungen der Projektarbeit. "Es gab im 19. wie im 20. Jahrhundert eine Menge von Vorgaben, die das Briefeschreiben normierten - sogar das von Liebesbriefen." Der romantische - und in vielen Fällen auch reglementierte - Liebesbrief ist dabei eine Variante des Briefwechsels; Fürsorge und Freundschaft finden aber ebenso Platz.


Der Liebesdiskurs der Moderne

Die Korrespondenzen zeugen von glücklichen und gescheiterten Beziehungen, von Ehen und unkonventionellen Liebesverhältnissen. In der Analyse werden neben den sozialen und politischen Kontexten immer auch die kulturellen Codes der Zeit mitgedacht. "Wichtig ist hier vor allem das Konzept der romantischen Liebe im Liebesdiskurs der Moderne: Mann und Frau gehen ineinander auf und erschaffen sich ihre eigene Welt. Auch wenn die Praxis oft eine andere ist, beeinflusst dieses Ideal, wie Menschen über Liebe schreiben. Gleichzeitig zeigen die Korrespondenzen, dass Geschlechterpositionen aktiv verhandelt werden", so Hämmerle. So schreiben sich Paare in Brautbriefen - dem Schriftverkehr zwischen Verlobten -, wie sie sich die zukünftige Beziehung bzw. ihre Rolle darin vorstellen.


Sexuelle Erlebnisse und Körperlichkeit

Schon bei der Bearbeitung der ersten, teilweise sehr umfassenden "Lieblingsbestände" stießen die Wissenschafterinnen auf Unerwartetes: "Wir sind überrascht darüber, wie offen Sexualität thematisiert wird. Sexuelle Fantasien und Erinnerungen an sexuelle Erlebnisse werden mitunter ausführlich beschrieben", so Hämmerle. Darüber hinaus kommt in vielen Korrespondenzen der - im weiteren Sinne verstandenen - Körperlichkeit eine große Bedeutung zu: Frauen berichten über ihre Menstruation, und auch Krankheiten werden detailliert geschildert.

Weitere Informationen unter:
http://www.univie.ac.at/Geschichte/Neuverortung-Geschlechtergeschichte/cms/index.php?lang=de
- Forschungsplattform "Neuverortung der Frauen- und Geschlechtergeschichte"

Kontaktdaten zum Absender der Pressemitteilung unter:
http://idw-online.de/pages/de/institution84


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Quelle:
Informationsdienst Wissenschaft e. V. - idw - Pressemitteilung
Universität Wien, Veronika Schallhart, 10.11.2010
WWW: http://idw-online.de
E-Mail: service@idw-online.de


veröffentlicht im Schattenblick zum 12. November 2010