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FORSCHUNG/152: Das historische und kulturelle Gedächtnis im antiken Rom (RUBIN)


RUBIN - Wissenschaftsmagazin, Frühjahr 2013
Ruhr-Universität Bochum

MEMORIA ROMANA Das historische und kulturelle Gedächtnis im antiken Rom

von Karl Galinsky



Erinnerungen sind nicht in Stein gemeißelt, sie verändern sich im Lauf der Zeit - und zwar nicht nur persönliche Erinnerungen an Erlebnisse aus unserer Vergangenheit, sondern auch das kollektive Gedächtnis einer Kultur wandelt sich. Wie sich Erinnerungen im antiken Rom gewandelt haben, untersucht Prof. Dr. Karl Galinsky mit seinen Kollegen. Dabei bringt er verschiedene Forschungsansätze zusammen, unter anderem aus der Gesellschaftswissenschaft und der Neurowissenschaft.


Wir alle wissen, dass sowohl in unserem Leben als auch in der Geschichte nicht nur Fakten und Ereignisse eine Rolle spielen, sondern auch, was wir aus ihnen machen und wie wir uns an sie erinnern. Erinnerungen tragen dazu bei, wie wir uns selbst wahrnehmen. Wie funktioniert dieser Prozess - für Individuen, für Gruppen sowie für Nationen und Kulturen? Diese Frage haben Forscher verschiedener Disziplinen in den vergangenen dreißig Jahren intensiv diskutiert, in den Geistes- und Gesellschaftswissenschaften und auch in der Neurowissenschaft und Neuropsychologie - die Folge war ein regelrechter "Gedächtnis-Boom".

Im Projekt "Memoria Romana" erforschen wir das historische und kulturelle Gedächtnis des antiken Roms, finanziert durch die Mittel des Max Planck-Forschungspreises für Geisteswissenschaften (Info 1).


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Max Planck-Preis

Der Max Planck-Forschungspreis für Geisteswissenschaften wird alle vier Jahre an zwei Forscher vergeben, von denen einer in Deutschland, der andere im Ausland arbeitet. Das Thema ist vorgegeben, und jede deutsche Universität kann einen Wissenschaftler pro Kategorie vorschlagen. Dr. Wolfgang Polleichtner machte mich auf den Preis aufmerksam; ich war sein Doktorvater an der Universität von Texas in Austin gewesen, und er ging anschließend als Wissenschaftlicher Assistent nach Bochum zu Professor Reinhold Glei (Klassische Philologie). Die beiden bugsierten die Bewerbung durch die verschiedenen Komitees an der RUB und schrieben große Teile des Antrags, der letztlich den Preis erhielt.
Das Preisgeld war beträchtlich, 750 Euro. Den Löwenanteil stellte ich für Promotionsstipendien und die Finanzierung junger internationaler Postdocs bereit. Zusätzlich finanzierten wir durch das Projekt internationale Konferenzen und Workshops sowie vier Forschungsfreisemester, in denen ich von meiner Lehrverpflichtung in Austin freigestellt war. Vier Jahre lang, von 2009 bis 2012, verbrachte ich meine Zeit abwechselnd in Austin und Bochum, um das Projekt Memoria Romana, Standort RUB aufzubauen.
Weitere Informationen:
www.utexas.edu/research/memoria und www.mpg.de/mpForschungspreis


Im Jahr 2009 lautete das vorgegebene Thema für den Preis "Gedächtnisgeschichte". In Deutschland haben Jan und Aleida Assman für diesen Forschungszweig wichtige Vorarbeit geleistet; Aleida Assman war sogar die deutsche Ko-Empfängerin des Max Planck-Preises. Das antike Ägypten (Das Buch von Ägyptologe Jan Assman über Moses ist ein Klassiker) und die Moderne standen im Fokus der Disziplin. Dass sich der Blick auf die Moderne richtete, lag hauptsächlich am Holocaust. Die betroffene Generation stirbt langsam aus - wie können wir ihre Erinnerungen bewahren? Auch Pierre Noras siebenbändiges Werk über lieux de mémoire, übersetzt "Erinnerungsorte" (1984-92), leistete einen wichtigen Beitrag. Noras These ist, dass das kollektive Gedächtnis einer sozialen Gruppe, zum Beispiel der französischen Nation, an bestimmten Orten sichtbar wird, die nicht unbedingt geografisch sein müssen; die französische Flagge ist ein gutes Beispiel. Der Begriff der lieux de mémoire ist heute geläufig und ein Symbol für l'identité française zu einer Zeit, die durch massive Einwanderung geprägt ist. Aktuelle Entwicklungen können also eindeutig Erinnerungen formen.

Aber es gibt auch noch viele andere kulturelle Zeitalter zu erforschen, in meinem Fall das antike Rom. Rom ist ein Paradigma für eine Gedächtniskultur. Erinnerungen sind allgegenwärtig: in Geschichte und Geschichtsschreibung, Kunst, Monumenten (das Wort "Monument" leitet sich von dem lateinischen Begriff "memoria" (dt. "Erinnerung") ab), in der Religion, im rhetorischen Training mit so genannten Mnemotechniken (eine Art Gedächtnistraining) sowie in der Literatur, um nur einige Beispiele zu nennen. Warum ist das so? Die römische Kultur konnte sich nicht nur auf Schriftstücke verlassen. Schreibmaterialien waren unhandlich (Inschriften in Stein), teuer (Papyrus) oder nicht dauerhaft (Wachstafeln). Die Fähigkeit zu lesen und zu schreiben besaßen im Römischen Reich schätzungsweise nur 15 Prozent der Stadtbevölkerung; dabei sprechen wir noch nicht einmal von der Fähigkeit, lange Texte zu lesen. Und auch dort, wo Schreiben üblich war, behielt die Gedächtniskultur Bestand; die Römer definierten Geschichte und Geschichtsschreibung explizit als ihre Art, Erinnerungen zu bewahren.

Daraus ergeben sich faszinierende Fragen. Über wessen Erinnerungen sprechen wir? Ich nutze mit Absicht den Plural: Erinnerungen. Ein Missverständnis in puncto Gedächtnis entsteht durch die Titel wegweisender Werke wie "La mémoire collective" von Maurice Halbwachs (1950, nach seinem Tod veröffentlicht) oder Abwandlungen wie "Das kollektive (oder kulturelle) Gedächtnis". Sie haben zu dem Verständnis geführt, dass es sich beim Gedächtnis um eine gleichförmige und stabile Entität handelt, die wie ein Archiv weitergegeben werden kann. Aber wie so oft sieht die Realität anders aus. Halbwachs hatte recht damit, das Offensichtliche hervorzuheben: Erinnerungen sind nicht nur die Angelegenheit einzelner Individuen, sondern die Angelegenheit von Gruppen. Aber natürlich gibt es verschiedene Gruppen mit verschiedenen und oft konkurrierenden Erinnerungen. Wer kontrolliert diesen Prozess? Wenn wir über Kulturen wie Rom sprechen, war es hauptsächlich die Elite. Nur sie besaß die Möglichkeit, Monumente zu errichten oder die Fähigkeit zu schreiben. Gegenüber denjenigen, die nicht zur Elite gehörten, war sie allerdings stark in der Unterzahl. Zu den Erinnerungen letzterer haben wir kaum Zugang, denn sie sind nicht dokumentiert; ein Nachteil, der kennzeichnend für die Untersuchung der griechisch-römischen Antike ist.

Ein weiterer wichtiger Aspekt ist, dass das historische/kulturelle/soziale Gedächtnis nicht vergleichbar mit der Festplatte eines Computers ist. Es befindet sich permanent in einem Zustand zwischen Konstruktion und Rekonstruktion - wie autobiografische Erinnerungen, die sich aus persönlichen Erlebnissen speisen. Jedes Mal, wenn wir zum Beispiel an die Feier unseres 18. Geburtstags denken, müssen wir die vielen Einzelteile dieses Tages zusammenbasteln. Unbewusst fügen wir hier und dort neue Details hinzu, die wir zum Beispiel aus späteren Unterhaltungen über die Feier kennen, und lassen dafür andere Einzelheiten aus. Jedes Mal also, wenn wir die Feier in unserem Kopf durchspielen, verändern wir unsere Erinnerung daran. Manchmal erzeugen Menschen auch völlig falsche Erinnerungen, in einigen bekannten psychologischen Experimenten lag die Rate bei 25 Prozent. Ein weiteres Phänomen ist die Quellenamnesie: Menschen bauen unbewusst fiktive Details in ihre realen Erinnerungen ein, zum Beispiel etwas, das sie in einem Film gesehen oder in einem Buch gelesen haben. Ronald Reagan ist ein berühmtes Beispiel dafür (Info 2).


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Ein berühmter Fall von Quellenamnesie

In seinem Buch Searching for Memory beschreibt der renommierte Gedächtnisforscher Daniel L. Schachter einen berühmten Fall von Quellenamnesie: "Im Präsidentschaftswahlkampf von 1980 erzählte Ronald Reagan immer wieder die Geschichte eines Kampfpiloten aus dem Zweiten Weltkrieg, der seiner Crew den Befehl gab, mit dem Fallschirm von Bord zu springen, nachdem sein Flugzeug durch feindlichen Beschuss schwer beschädigt worden war. Einer seiner Männer war so schwer verwundet, dass er das Flugzeug nicht verlassen konnte. Reagan konnte seine Tränen kaum zurückhalten, als er die heroische Antwort des Piloten wiedergab: 'Macht nichts. Wir bringen es zusammen runter.' ... Diese Geschichte war fast die exakte Kopie einer Szene aus dem Film A Wing and a Prayer aus dem Jahr 1944. Reagan hatte die Fakten beibehalten, aber ihre Quelle vergessen."


Es hat mich unheimlich inspiriert, mich an der RUB mit Experten wie Denise Manahan-Vaughan und Onur Güntürkün auszutauschen. Sie machten mich auf interessante Daten zu falschen Erinnerungen und Quellenamnesie aus der Neurowissenschaft und Neuropsychologie aufmerksam. Interessanterweise konnten wir für Phänomene aus der Hirnforschung Analogien in Roms Geschichte finden, vor allem in der frühen Geschichte - es gab Erinnerungen, ihnen entgegengesetzte Erinnerungen und nicht zuletzt Vergesslichkeit und den Versuch zu vergessen. Erinnern ist ein ständiger Prozess; eine Schicht legt sich über die andere. Aus gutem Grund nutzte Freud die Metapher des Palimpsests - ein Stück Papyrus, auf dem über die Jahre hinweg zwei oder sogar mehr Textschichten übereinander aufgetragen wurden - für Rom und auch für die Schichten der menschlichen Psyche (Abb. 2).

Mit "Memoria Romana" wollten wir vor allem jüngere Forscher aus den vielen Richtungen der Gedächtnisforschung zusammenbringen. Unser Ziel war es, Perspektiven, Methoden und Impulse aus der aktuellen Forschung zur Gedächtnisgeschichte auf ein breites Spektrum von Phänomenen im antiken Rom anzuwenden. Das Projekt förderte 31 internationale Stipendiaten, darunter 14 Doktoranden, aus Kanada, den USA, Kolumbien, Deutschland, Frankreich, Großbritannien, Italien, der Schweiz und der Türkei. Sie arbeiteten in ihren Heimatländern, aber trafen sich bei Konferenzen und Workshops in Bochum, Austin und Rom. Die Breite ihrer Arbeiten und die daraus entstandenen Publikationen sind beeindruckend. Es freut mich sehr, hier einige Beispiele nennen zu können. Klar ist: Ihre Ergebnisse gehen über Binsenweisheiten hinaus, die in der Erforschung der Gedächtnisgeschichte durchaus häufig zu finden sind, zum Beispiel, dass Rom genauso viele oder sogar noch mehr Gedächtnisschichten wie archäologische Schichten hat, dass die Vergangenheit bis in die Gegenwart reicht usw.

Wie man die Kognitionswissenschaft auf die Erforschung von römischen Monumenten anwenden kann, zeigt die plastische Verzierung des Konstantinbogens - eine der bekanntesten Sehenswürdigkeiten in Rom aus dem vierten Jahrhundert (Abb. 3). Es gibt zwei Arten von Verzierungen: Rundfenster und kleine Segmente, die eigentlich von früheren Bauwerken stammen und von diesen entfernt wurden, und ein durchgängiges Fries, das extra für den Bogen hergestellt wurde und Szenen aus der Zeit Konstantins zeigt (Abb. 3 oben). Diese Szenen sind in eine Geschichte eingebettet, die nicht statisch ist, sondern voranschreitet. Es gibt also zwei Schichten: eine aus der Zeit Konstantins, eine weitere aus früheren Zeiten. Die älteren Verzierungen stellen frühere römische Kaiser dar, zum Beispiel die "guten" Kaiser Trajan und Hadrian, deren Erinnerung Konstantin ins Gedächtnis rufen und mit denen er in Verbindung gebracht werden wollte. Für dieses Nebeneinander einer älteren und einer jüngeren Vergangenheit findet sich eine Analogie im menschlichen autobiografischen Gedächtnis. Schon in der Antike wusste man, dass Erinnerungen aus Kindheit und Erwachsenenalter eine unterschiedliche Qualität besitzen. Kognitionswissenschaftler haben dieses Phänomen genauer untersucht: Kindheitserinnerungen sind oft stärker und enthalten mehr visuelle Details. Häufig sind sie jedoch auch wie einzelne Schnappschüsse, die nicht in eine große Geschichte eingewoben sind. Das unterscheidet sie deutlich von Erinnerungen an kürzlich geschehene Ereignisse, die Teil eines großen Ganzen sind und sich leicht zu einer kontinuierlichen Geschichte verknüpfen lassen - selbst wenn diese Geschichte (wie zuvor erwähnt) durch den Prozess der Erinnerung immer wieder neu geschrieben wird. Wendet man diese Analogie auf den Konstantinbogen an, dann entspricht die fortlaufende Geschichte im Fries den Erinnerungen aus dem Erwachsenenalter, die Rundfenster und Segmente aus früheren Zeiten ähneln hingegen den Kindheitserinnerungen.

Es ist bemerkenswert, dass die geschichtliche Darstellung auf dem Konstantinbogen sich auf diese Art und Weise zerlegen lässt: Die verbundene, lineare Erzählung der Ereignisse aus der jüngeren Vergangenheit steht im Gegensatz zu den fragmentierten, einzelnen Objekten mit Bildern aus dem frühen Stadtleben. Waren sich die Erbauer dessen bewusst? Bestimmt nicht, würde ich sagen; jedenfalls nicht so, wie wir es heute aufgrund unseres Wissens sein können. Ihr Ziel war es, zwei Arten des Gedenkens zu produzieren. Wenn wir ihr Werk aus unserer heutigen Perspektive sehen, erkennen wir eine zusätzliche Dimension und verstehen noch besser, welche Wirkung das Bauwerk auf die heutigen Betrachter hat.

Wie schon gesagt, sollten Monumente damals Träger von Erinnerungen sein. Wie der römische Gott Janus deuten sie in zwei Richtungen: Sie wollen Erinnerungen an die Vergangenheit bewahren, aber sie wollen auch das Gedächtnis der Zukunft formen - damit unterscheiden sie sich nicht von heutigen Denkmälern. Auf unserer Konferenz der "American Academy" in Rom 2011 hob Daniel Libeskind, der den Schlussvortrag hielt, genau diesen Punkt hervor. Ein Paradigma im antiken Rom ist die Bauaktivität der römischen Herrscher, die die höchste Ehre des Reiches feierte - den Triumph. Mit der Beute ihrer Eroberungsfeldzüge ließen sie Tempel errichten, und zwar so, dass künftige Triumph-Prozessionen an ihnen vorbeikommen mussten. Doch nicht alle Bauwerke zeugten gezwungenermaßen von einem realen Ereignis: Der Bogen des Kaisers Septimius Severus (drittes Jahrhundert) im Römischen Forum wurde von einer Statue in einem Triumphwagen geziert, und Reliefs zeigten seinen Festzug. Allerdings erwähnt keine historische Quelle diesen Triumph. Handelt es sich dabei nicht um Quellenamnesie, sondern um den Versuch, zukünftigen Betrachtern zu suggerieren, dass es diesen Triumph gegeben hat? Ein faszinierendes Beispiel mit vielen offenen Fragen. Der Versuch, Erinnerungen zu formen, ist auf jeden Fall offensichtlich im antiken Rom und passt zu dem, was der englische Historiker Eric Hobsbawm "Erfindung von Traditionen" ("invention of tradition") nannte.

Nicht nur Rom war voll von solchen Erfindungen, das Phänomen trat auch in anderen Teilen des Reichs auf. Die Römer waren militärische, aber keine kulturellen Imperialisten. Die "Romanisierung" des Reichs erzeugte eine beachtliche Reihe von Anpassungen. Es gab nicht nur ein kulturelles Gedächtnis, sondern viele. Zahlreiche davon sind Hybridformen, so wie die Architektur im römischen Mittelmeerraum. Aber an einigen Orten wurden ursprüngliche Traditionen und Erinnerungen wiederbelebt - und manchmal auch erfunden -, um den Geist einer regionalen Identität neben der größeren Dimension des Römischen Reiches (Abb. 4) zu bewahren. Ein umgekehrter Prozess fand in Rom statt, das sich zur multikulturellen Metropole entwickelte: Feste und Jubiläen standen nicht mehr im Zusammenhang mit regionaler römischer Geschichte. Stattdessen fokussierte man sich auf den Kaiser und seine Errungenschaften, denn der Kaiser war ein Kaiser für alle.

In der Forschung wird dieser Prozess als eine Form der Machtergreifung interpretiert - dabei wird allerdings die Dimension des Gedächtnisses außen vor gelassen: Rom hatte viele Einwohner aus dem gesamten Reich, für die die Erinnerungen der römischen Kultur zu speziell waren - oder gar irrelevant. Roms erster Kaiser Augustus - die Kunstsammlungen der RUB beherbergen einige exzellente Porträts seiner Familie (Abb. 5 rechts) - erkannte das und erweiterte den Horizont. Dieser Prozess kam niemals zum Stillstand und hatte seine ganz eigene Dynamik - genauso wie die andauernde Konstruktion des Gedächtnisses in unserem Gehirn und das "performative" Gedächtnis von Individuen und Gruppen. Die sich daraus ergebenden Fragen - einige haben unsere Stipendiaten untersucht - waren Themen auf unserer finalen internationalen Konferenz im April 2013 im Getty Villa Museum in Malibu, Kalifornien.

Lassen Sie mich mit zwei weiteren Beispielen abschließen, wie Gedächtnisstudien neue Einblicke erlauben - zunächst Vergils "Aeneis". Das Werk aus der ersten Dekade von Augustus' Herrschaft können wir nicht wie ein übliches glorifizierendes Nationalepos behandeln. Es basiert zu großen Teilen auf der "Ilias" und der "Odyssee" von Homer, die eine umfangreichere menschliche Komponente haben. Dennoch macht Vergil von Beginn an deutlich, dass er sich dieser Komponente anders nähert: Er beschwört die Muse, die Geschichte nicht "zu singen" oder "zu erzählen", wie es der griechische Poet tat, sondern sie ins "Gedächtnis zu rufen" (Abb. 6). Dementsprechend spielen Erinnerungen eine entscheidende Rolle in der "Aeneis", auf viele verschiedene Arten und Weisen. Sie wurden nie wirklich untersucht, aber zwei unserer Stipendiaten, eine Französin und ein Amerikaner, haben sich dem Thema gewidmet. Die Monografie des letzteren, die auf seiner Doktorarbeit basiert, erscheint dieses Jahr im renommierten Verlag "Cambridge University Press". Ein Hauptaspekt der "Aeneis" ist die (Re-)Konstruktion des römischen kulturellen Gedächtnisses.

Auf ähnliche Weise haben Methoden aus der Gedächtnisforschung geholfen, die traditionelle Sicht auf die römische Porträtkunst zu ändern. Hier spielte der Begriff "damnatio memoriae" (Verdammung der Erinnerung) eine entscheidende Rolle. Die Porträts von in Ungnade gefallenen Kaisern wurden nach deren Tod umgestaltet. Bildhauer arbeiteten sie in Porträts von "besseren" Kaisern um, anstatt sie einfach zu zerstören - außer ihre Gesichter waren zu dünn dafür. Marmor war ein teures Gut, und die Römer waren praktisch denkende Leute. Heute ist der Begriff "damnatio memoriae" ein weiteres Beispiel für eine erfundene Tradition, diesmal von Kunsthistorikern. Die Römer selbst nutzten den Begriff nämlich nie. Und wenn sie die Marmorporträts modifizierten, ließen sie mit Absicht Spuren des ursprünglichen Porträts zurück, um den Kontrast zwischen Alt und Neu darzustellen. Umgearbeitete Marmorporträts haben also ihre eigene Erinnerungsdynamik, während Bronzeporträts nur in der Art und Weise bearbeitet werden konnten, dass Beschädigungen die Folge waren. Die Kunstsammlungen der RUB besitzen ein gutes Beispiel (Abb. 5).


Prof. Dr. Dr. h.c. Karl Galinsky, Seminar für Klassische Philologie


Bildunterschriften der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildungen der Originalpublikation:
- Abb. 1: Prof. Dr. Karl Galinsky in den Kunstsammlungen der RUB
- Abb. 2: Auf einem Palimpsest wurden mehrere Texte übereinander geschrieben. - Abb. 3: Der Konstantinbogen in Rom. Das obere Bild zeigt eine Vergrößerung der Verzierungen des Bogens.
- Abb. 4: Karte des Römischen Reichs im Jahr 120 vor Christus - Abb. 5 links: Bronzeporträt des Kaisers Severus Alexander in der Kunstsammlung der RUB.
Rechts: Marmorporträt von Kaiser Augustus' Frau Livia.
- Abb. 6: Illustration aus der Aeneis von Vergil


Den Artikel mit Bildern finden Sie im Internet im PDF-Format unter:
http://www.ruhr-uni-bochum.de/rubin/rubin-fruehjahr-13/beitraege/beitrag1.pdf

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Quelle:
RUBIN - Wissenschaftsmagazin, Frühjahr 2013, S. 6-13
Herausgeber: Rektorat der Ruhr-Universität Bochum
in Verbindung mit der Stabsstelle Strategische PR
und Markenbildung der Ruhr-Universität Bochum
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E-Mail: rubin@rub.de
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veröffentlicht im Schattenblick zum 1. Juni 2013