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FRAGEN/011: "Breschnew wollte eigentlich kein Politiker werden" (HIGHLIGHTS - Universität Bremen)


"HIGHLIGHTS" - Heft 36 / Herbst 2018
Forschungsmagazin der Universität Bremen

"Breschnew wollte eigentlich kein Politiker werden"

Interview mit Professorin Susanne Schattenberg von Meike Mossig


Professorin Susanne Schattenberg, Leiterin der Forschungsstelle Osteuropa an der Universität Bremen, hat die erste wissenschaftliche Biografie über Leonid Breschnew verfasst. Ihre Recherchen überraschten auch sie. Denn sie stellen das Bild eines Hardliners auf den Kopf. Stattdessen zeigt ihr umfangreiches Quellenmaterial einen hoch emotionalen Mann mit schauspielerischem Talent, der den Weltfrieden wollte, aber dem politischen Druck in den 1970er Jahren nicht mehr gewachsen war und tablettenabhängig wurde.


Meike Mossig: Frau Schattenberg, was hat Sie veranlasst, sich mit Breschnew auseinanderzusetzen?

Susanne Schattenberg: Breschnew prägte die Sowjetunion 18 Jahre lang. Nach Stalins Terror und Chruschtschows Reformen normalisierte sich das Land unter ihm. Er schaffte eine Sowjetunion, die heute schon wieder nostalgisch verklärt wird. Unter ihm wurden Schriftsteller verhaftet. Intellektuelle gingen auf die Straße. Ich wollte mir anschauen, wie er sich mit den Dissidenten auseinandersetzte - und musste feststellen, dass er es überhaupt nicht getan hat.


Meike Mossig: Warum?

Susanne Schattenberg: Die einen sagen, dass er sich nicht in die Angelegenheiten des KGB (Komitee für Staatssicherheit) einmischen wollte. Andere behaupten, dass er sich den Dissidenten intellektuell unterlegen gefühlt habe. Hierzu gibt es eine interessante Geschichte: Der damalige KGB-Chef hat ihn über Jahre gebeten, sich mit dem Dissidenten Andrei Sacharow zu treffen. Es bestand die Hoffnung, dass dieser dann seine kritischen Äußerungen beende. Breschnew weigerte sich. Böse Zungen behaupten, dass er sich dem nicht gewachsen fühlte. Und dann gibt es Aussagen - vor allem von seinem Schwiegersohn -, dass Breschnew bei Tisch manchmal über Dissidenten gesprochen habe und ihm das alles unverständlich war: wie jemand so ein tolles Land so mit Schmutz überziehen könne. Gerade die Intellektuellen müssten doch einsehen, dass man im besseren System lebe, es aber noch ein paar Schwierigkeiten gäbe. Das war offenbar nicht seine Welt. Deshalb war er froh, dass er sich damit nicht beschäftigen musste.


Meike Mossig: Für viele stand Breschnew für den Kalten Krieg und den brutalen Niederschlag des Prager Frühlings.

Susanne Schattenberg: Auch ich habe einen Hardliner erwartet. Doch es stellte sich anders dar. Beispiel Prager Frühling: Es war vorher nicht bekannt, dass Breschnew sich als letzter bereiterklärte Truppen zu entsenden. Diejenigen, die das von Anfang wollten, waren der damalige DDR- und der polnische Parteichef. Auch im Politbüro der Partei war Breschnew der Letzte, der sich dazu umstimmen ließ. Mit seinem Ziehsohn Alexander Dubček gab es unzählige Telefonate - vor allem kurz vor dem Einmarsch am 20./21. August - bei denen er auf ihn einredete, die alte Ordnung wieder herzustellen.


Meike Mossig: Haben Sie Kritik erhalten, Breschnew zu positiv darzustellen?

Susanne Schattenberg: Erstaunlich wenig. Ich habe in Jekaterinburg einen Vortrag gehalten und hinterher sagte ein russischer Kollege: "Ach ja, Sie sind diejenige, die Breschnew so mag". Da war also eine Nuance drin. Aber eigentlich habe ich mehr Kritik erwartet. Eine Journalistin der Deutschen Presse-Agentur (dpa) war in den 1970er Jahren in der damaligen Sowjetunion akkreditiert und hat mir geschrieben, dass sie vollkommen mit meinen Schlüssen übereinstimme. Kolleginnen und Kollegen, die sich mit Breschnew auseinandergesetzt haben, sagten mir übrigens, dass dies ein bisschen "gefährlich" sei. Denn je länger man dies mache, desto sympathischer werde er einem.


Meike Mossig: Zeitzeugen bestätigen das offenbar.

Susanne Schattenberg: Ja, sie teilen eine gewisse Faszination oder Sympathie für Breschnew. Einen Großteil meiner Zitate oder Belege habe ich aus den Biographien von Staatsmännern, wie Richard Nixon, Henry Kissinger, Willi Brandt oder Helmut Schmidt. Sie sagten, dass er witzig war und sie umgarnt habe. Sie schildern Breschnew als einen sehr emotionalen Menschen, der es mit dem Frieden wirklich ernst gemeint habe. Ein Kollege in Kiel sagt, dass Breschnew in den 1970er Jahren der Hoffnungsträger war. Das wurde im Westen vergessen.


Meike Mossig: Der Titel Ihres Buches heißt "Staatsmann und Schauspieler im Schatten Stalins" - warum Schauspieler?

Susanne Schattenberg: Breschnew wollte eigentlich kein Politiker werden. Er und seine Eltern waren auch nicht von der Revolution begeistert. Breschnew ist jemand, der total aus der Reihe fällt. Er kam zwar aus einem Arbeiterhaushalt. Aber seine Eltern konnten lesen und schreiben. Das war ungewöhnlich - ebenso, dass er ein Gymnasium besuchte. Er wuchs in einer geborgenen Welt auf, die durch die Revolution und den Bürgerkrieg komplett zerstört wurde. Der erste Berufswunsch, den Breschnew äußerte, war Schauspieler. Er spielte zunächst in einer Laienspieltruppe und finanzierte sich sein erstes Studium als Statist am Theater. Auch als er sein Ingenieur-Studium absolvierte, richtete er Tanz- und Schauspielkreise ein. Das war nicht nur eine Jugendverrücktheit. Seine Mitarbeiter berichteten, dass Breschnew sich oft in seine Datscha zurückzog, um gemeinsam mit ihnen Reden zu schreiben. Abends stellte er sich auf einen Stuhl und rezitierte auswendig die Balladen seiner Lieblingsdichter. Eine meiner Thesen ist, dass er als Generalsekretär versucht hat den westlichen Staatsmann zu spielen, um nicht als sogenannter Apparatschik wahrgenommen zu werden. Dazu gehörte für ihn, schnelle Autos zu fahren, ein Faible für schöne Frauen zu haben, derbe Witze zu erzählen und gut im Schießen zu sein. Nixon und Brandt bescheinigten ihm, dass er durchaus Talent gehabt hat wie ein echter westlicher Staatsmann zu wirken.


Meike Mossig: Gab es etwas, dass Sie überrascht hat?

Susanne Schattenberg: Sicherlich, dass er nicht dieser Hardliner war und seine Schauspielambitionen. Zudem fand ich erstaunlich, dass er in seiner Jugend und als junger Erwachsener dreimal geflüchtet ist. Das erste Mal ist er als Kind mit seiner Familie wegen Hungersnot geflohen, ein zweites Mal 1930 aus dem Ural. Die dritte Flucht erfolgte mit Frau und Kind aus Moskau. Die Stadt war mit lauter Flüchtlingen vom Land überfüllt und es gab keinen Wohnraum. Das wurde in seinen offiziellen Biographien bislang verschwiegen. Was mich auch sehr überrascht hat: Ab 1975 gab es einen rapiden Niedergang. Im Westen wurde gemutmaßt, dass Breschnew mehrere Herzinfarkte oder Schlaganfälle hatte. Tatsache aber war, dass er nicht stressresistent war und dadurch hochgradig tablettenabhängig wurde. Als Breschnew zum Beispiel 1968 mit Dubček verhandelte, stand er offenbar so unter Druck, dass er die Dosis an Beruhigungsmitteln hochsetzte. In der gesamten Außenpolitik stand er unter solchem Stress, dass er immer mehr zu Beruhigungsmitteln griff. Es gab Momente, in denen er zusammenbrach oder nicht aufzuwecken war. Da wurde alles Mögliche vermutet. Aber niemand kam auf die Idee, dass er einfach Schlaftabletten genommen hatte. Im Westen sagte man: Im Politbüro haben sie sich vom Westkurs abgewandt und ziehen sich zurück. Stattdessen hatte Breschnew mal wieder Tabletten genommen und konnte nichts sagen. Das hat eine gewisse Tragik.

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Quelle:
HIGHLIGHTS - Forschungsmagazin der Universität Bremen
Heft 36 / Herbst 2018, Seite 4 - 9
Herausgeber: Rektor der Universität Bremen
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veröffentlicht im Schattenblick zum 1. März 2019

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