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FUNDSTÄTTEN/002: Im Heiligtum der Löwengöttin (DFG)


forschung 3/2010 - Das Magazin der Deutschen Forschungsgemeinschaft

Im Heiligtum der Löwengöttin

Von Rafed El-Sayed


Athribis ist die letzte große unerforschte Tempelanlage des antiken Ägypten. Ein binationales Langzeitprojekt will dem Geheimnis des einzigartigen Kalksteintempels näherkommen.


Millimeterweise hebt sich der tonnenschwere Deckenblock im Rhythmus der Luftstöße, die von den beiden ägyptischen Grabungsarbeitern im Wechseltakt in die vier unter dem Gesteinsblock positionierten Hebekissen gepumpt werden. Das schwerfällige Wippen des auf neun Tonnen geschätzten und von Rissen durchzogenen Kalksteinblocks wird von den verantwortlichen Archäologen mit Argusaugen beobachtet.

Mithilfe von stahlverstärkten Hebekissen eines deutschen Herstellers, die ansonsten bei Rettungseinsätzen der Feuerwehr zum Einsatz kommen, gelingt es auch diesmal, den abgestürzten Deckenblock in eine stabile Lage zu heben. Mit der "darfîl" genannten Bausatzbahn, bestehend aus massiven Holzbohlen und darüberrollenden ausbetonierten Stahlrohren, lässt sich der Gesteinsblock von den Grabungsarbeitern bequem zu der für die Zwischenlagerung vorgesehenen Fläche außerhalb der Tempelruine transportieren. Für kompliziertere Fälle und vor allem für die mit fragilen farbigen Dekorationen versehenen Blöcke, Säulentrommeln und Kapitelle müssen je nach Situation aufwendige Hebekonstruktionen und Transportvehikel entworfen und gefertigt werden.


Etwa 400 Gesteinsblöcke, die meisten mit farbig gefasstem Relief oder anderer plastischer Bauzier, befinden sich noch innerhalb der Tempelruine von Athribis. Sie liegen verstreut und ineinander verkantet in den zum Teil noch mit Schutt verfüllten Räumen und Hallen des einstmals gewaltigen Bauwerks. Von dessen ursprünglicher Bausubstanz ist heute noch schätzungsweise ein Drittel erhalten. Wie die anderen Kalksteintempel Ägyptens, so ist auch das im ersten Jahrhundert v. Chr. der lokalen Göttertriade geweihte Heiligtum von Athribis Opfer des seit der Spätantike ansteigenden Bedarfs an Baukalk geworden. Die gewaltigen Hausteinblöcke wurden an Ort und Stelle zertrümmert und in nahebei errichteten Kalköfen zu Kalkpulver verbrannt.

Einige dieser Kalköfen wurden von dem seit 2003 in Athribis forschenden Archäologenteam bereits aufgenommen und kartiert. Nach den bisher erhobenen Daten dürfte sich die Zerstörung der Kalksteinmonumente von Athribis vom hohen Mittelalter bis in die frühe Neuzeit vollzogen haben. Zu den Zeugen dieser letzten Phase in der Geschichte von Athribis zählen unzählige Keramikgefäße aus islamischer Zeit sowie Münzfunde und einige Ostraka (Scherben) mit arabischer Aufschrift. Als die ersten europäischen Reisenden im 17. Jahrhundert in die Region von Achmîm-Sûhâg und teils auch bis nach Athribis kamen, lagen die Ruinen der Stadt und ihrer Tempel bereits unter einer dicken Schicht aus Scherben und Flugsand.


Der Grabungsplatz liegt in Oberägypten, etwa 400 Kilometer südlich von Kairo auf dem Westufer des Nils bei der heutigen Gouvernoratshauptstadt Sûhâg. Die vom Sand zugewehten Ruinen der ptolemäisch-römerzeitlichen Stadtanlage grenzen unmittelbar an das Hochplateau der Libyschen Wüste, dessen Kalksteinformation sich bis auf 264 Meter über den Meeresspiegel erhebt. Im Fels des zur Stadt hin allmählich abfallenden Gebirges haben die Stadtbewohner ihre Grabanlagen anlegen lassen. Aus der bis heute weitestgehend unerforscht gebliebenen Nekropole stammen viele der Särge und der ursprünglich an den Särgen befestigten Mumientafeln, die sich heute mit der ungenauen Herkunftsangabe "Achmîm" in den Museen der Welt befinden.

Teile der antiken Wohnquartiere im Osten und Süden des Stadtgebietes sind bereits der modernen Bebauung und Neulandgewinnung zum Opfer gefallen, sodass die Gesamtausdehnung des Stadtgebietes in der Antike nicht genau zu beziffern ist. Mit etwa 20 Hektar zählte Athribis zu den mittelgroßen Städten des Landes. Der Grabungsplatz Athribis hat für die Archäologie des griechisch-römischen Ägypten auch deshalb einen besonderen Stellenwert, da die Überreste der anderen bekannten Siedlungen des Gaues von Achmîm-Panopolis heute allesamt modern überbaut und der Wissenschaft nicht zugänglich sind.


Der heilige Bezirk der Göttin Repit, die bereits seit der vordynastischen Zeit bekannt ist, aber nie zu den großen Göttern des Landes gehörte, war ursprünglich durch eine über zehn Meter hohe und fünf Meter dicke Ziegelumwallung vor der Außenwelt abgeschirmt. Der Kultbetrieb in den Tempeln Ägyptens fand im Verborgenen statt. Nur an bestimmten Festtagen führte eine feierliche Prozession die Kultbilder der Götter auf einem besonderen Prozessionsweg ins Freie und vor die Augen der Gläubigen.

Auch in Athribis gab es einen solchen Prozessionsweg. Das Steinpflaster des von einer Kaianlage außerhalb der Stadt bis zum Haupttor des Temenos führenden Prozessionsweges wurde bereits in den 1990er-Jahren auf einer Länge von 90 Metern freigelegt. Die fehlenden 100 Meter harren noch der Ausgrabung.

Die gewaltige Umfassungsmauer, die ein Areal von drei Hektar einschloss, ist heute in weiten Bereichen zerstört, sodass der Blick frei geworden ist auf die Tempelruinen im Innern des bereits zu Beginn des fünften Jahrhundert n. Chr. durch christliche Mönche entweihten heiligen Bezirks. Erhebliche Teile der Links: Schweißtreibende Arbeit - ein tonnenschwerer Baublock wird mit der "darfîl-Bahn" abtransportiert. Unten: Blick von Westen über den großflächigen Fundplatz mit seinem Tempelbezirk "Temenosmauer" und Wirtschaftsgebäude sowie späterer monastischer Einbauten wurden vor allem im 19. und 20. Jahrhundert von den als Sabbâchîn bezeichneten, Düngemittel raubenden Bauern buchstäblich niedergehackt und auf die Äcker getragen. Dennoch ist in Athribis von der Klostersiedlung, deren Anfänge bis in die erste Hälfte des vierten Jahrhunderts zurückreichen, mehr erhalten geblieben als auf den meisten vergleichbaren Fundplätzen.

Bei der Klosteranlage handelte es sich höchstwahrscheinlich um das große Nonnenkloster, das seit Ende des vierten Jahrhunderts der Klosterföderation angehörte, die unter der Führung des Abtes Schenute in den Jahren 385 - 465 zur bedeutendsten Institution ihrer Art ausgebaut wurde. Der Grabungsplatz Athribis besitzt somit nicht nur für die Archäologie und Geschichte der Endphase des heidnischen Ägypten, sondern auch für das frühe Christentum in Oberägypten eine besondere Bedeutung.

Während die Napoleonische Expedition, welche die archäologischen Hinterlassenschaften des Alten und die Eigentümlichkeiten des zeitgenössischen Ägypten in den Jahren 1799 - 1802 als erste Unternehmung ihrer Art minuziös dokumentiert, den Fundplatz nicht beachtet, begeht die vom preußischen König Friedrich Wilhelm IV. nach Ägypten und Nubien entsandte und von dem Linguisten und Ägyptologen C. Richard Lepsius geleitete Expedition die Ruinen von Athribis im Jahr 1845. Da Tempel- und Stadtruine zu Lepsius' Zeiten bereits von Schutt und Sand weitestgehend überdeckt waren, beschränken sich die Aufzeichnungen auf einige freigewehte Inschriften und die Fassade des Felstempels im Zentrum der Nekropole.


Im Jahr 1906 beginnt die eigentliche archäologische Erforschung, als der Begründer der ägyptischen Archäologie, W. M. Flinders Petrie, im Auftrag der "British School of Archaeology in Egypt" während einer sechswöchigen Kampagne den großen Tempel von Athribis teilweise ergräbt. Ein vorläufiger Plan sowie ein Teil der Wandreliefs und Inschriften, die in der Kürze der Zeit freigelegt werden konnten, werden in der Folge publiziert.

Bedauerlicherweise wird durch die hastige Freilegung ein Gutteil des archäologischen Kontextes unwiederbringlich zerstört. Auch erfolgt keine Dokumentation der archäologischen Funde und Befunde, was für die Rekonstruktion der Nutzung des Tempelbezirkes in spätantiker Zeit von unschätzbarem Wert gewesen wäre.

Glücklicherweise lässt Petrie große Bereiche der Tempelruine unangetastet und auch nach den Grabungskampagnen der ägyptischen Antikenverwaltung, die in den Jahren 1983 - 1996 das Ziel verfolgt, den von Petrie wieder zugeschütteten Tempel erneut freizulegen, bleiben weite Bereiche der Tempelruine unangetastet. Mitverantwortlich für das vorzeitige Ende der ägyptischen Unternehmung waren die Probleme, die sich im Zusammenhang mit dem Abtransport der bis zu 30 Tonnen schweren Gesteinsblöcke auftaten, die auf den Schuttverfüllungen der Tempelruine ruhen.

Durch die Initiative des Verfassers kam im Jahr 2002 ein Kooperationsvertrag zwischen der Universität Köln (Christian Leitz) und dem Supreme Council of Antiquities (Yahya El-Masry) zustande. Das neue Projekt, das in den Jahren 2003 und 2004 zunächst von der Fritz-Thyssen-Stiftung gefördert wurde und gleichzeitig mit seiner Übersiedlung nach Tübingen im Jahr 2005 in das Förderprogramm der DFG aufgenommen wurde, hat sich die archäologische und philologische Erforschung einer der letzten unerforschten Tempelanlagen des griechisch-römischen Ägypten zum Hauptziel gesetzt.

Die Rekonstruktion der Geschichte des antiken Athribis und seiner Kulte gehört ebenso zu den langfristigen Projektzielen wie die Edition der hieroglyphischen Inschriften. Die weit über 1500 erhaltenen Inschriften des von Ptolemaios XII. Neos Dionysos (reg. 80 - 58 und 55 - 51 v. Chr.) für das Götterpaar Min und Repit erbauten Tempels stellen das wichtigste zusammenhängende Textkorpus für die Kulte des Raumes von Achmîm-Panopolis dar, in welchem die altägyptischen Kulte noch bis in das fünfte nachchristliche Jahrhundert bestehen konnten.


Dr. Rafed El-Sayed ist Grabungsleiter und Gesamtkoordinator des Athribis-Projektes und IANES - Abteilung für Ägyptologie der Eberhard Karls Universität Tübingen tätig.

Adresse: IANES - Abteilung für Ägyptologie, Universität Tübingen,
Schloss Hohentübingen, 72070 Tübingen

Förderung im Rahmen der DFG-Langzeitförderung.

www.athribis.uni-tuebingen.de


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Quelle:
forschung 3/2010 - Das Magazin der Deutschen Forschungsgemeinschaft, S. 15-19
mit freundlicher Genehmigung des Autors
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veröffentlicht im Schattenblick zum 28. Oktober 2010