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LÄNDER/122: Sachsen - Verfassungswidrige Wahlrechtsänderung 1850 (LTK)


Landtags Kurier Freistaat Sachsen 3/07
Plenum / 75. Sitzung des Landtags

"Finis Saxoniae"
Eine verfassungswidrige Wahlrechtsänderung im Sommer 1850

Von Josef Matzerath


"Von gestern beginnt die 3te Periode der Geschichte unserer Verfaßung die - der Verfaßungslosigkeit". Diese Klage schrieb Carl v. Weber, der Leiter des Sächsischen Staatsarchivs, am 4. Juni 1850 in sein Tagebuch. Die zeitgleiche Analyse hat sich bis heute als haltbare Periodisierung erwiesen, auch wenn v. Webers resignierendes Resümee zu pauschal und finster ausfiel. Die erste verfassungsgeschichtliche Periode im Königreich Sachsen begann am 4. September 1831, als die erste geschriebene Verfassung Sachsens in Kraft trat. Diese Phase währte bis zum 15. November 1848. Denn an diesem Tag änderte der sächsische Landtag das Staatsgrundgesetz, um ein liberaleres Wahlrecht einzuführen. Von diesem Zeitpunkt bis zu einem Dekret, das der König Friedrich August II. am 3. Juni 1850 erließ, währte der veränderte Verfassungszustand. Weil dann der König und seine Regierung ohne die Mitwirkung eines gewählten Parlaments die Verfassungsänderungen zurücknahmen, wurden geltende Bestandteile des Grundgesetzes auf unzulässige Weise beseitigt. In v. Webers Zuspitzung war damit grundsätzlich alles, was in der Konstitution festgeschrieben war, künftig der Regierungswillkür preisgegeben. Das konnte auch einen Beamten, der mit sächsischen Kabinetten und ihrem Geschäftsgang seit dem Vormärz aus eigener Erfahrung vertraut war, aus der Fassung bringen: "Das Ministerium", schrieb v. Weber, "hat das provisorische Wahlgesetz [sowie] die ihm entsprechenden Bestimmungen der Verfaßung aufgehoben, beruft den Landtag v[on] 1848 in seiner damaligen Zusammensetzung auf Grund der aufgehobenen Bestimmungen der Verf[aßungs] Urk[unde] wieder ein und das hat der König genehmigt, [Finanzminister Johann Heinrich August] Behr und [Innenminister Richard Freiherr v.] Friesen, von denen man bestimmt glaubte, sie würden bei einer solchen Anmuthung [aus dem Kabinett] austreten, unterschrieben! Jetzt rufe ich aus, was ich glaubte der Zukunft vorbehalten zu müßen[:] Finis Saxoniae!" (dt.: Das ist Sachsens Ende!) Und v. Weber resümiert: "Mit dieser Handlung des Ministeriums hat also die Revolution von Oben begonnen und wo wird sie enden? Das ahnet wahrscheinlich [Justitzminister Dr. Ferdinand] Zschinski, [Außenminister Friedrich Ferdinand Freiherr v.] Beust selbst nicht. Eines wird das Andere in untrennbarer Kette nach sich ziehn, bis der verhaltene Grimm sich eine, fürchte ich, fürchterliche Rache bereiten wird! Armes Land, armes Volk, armer König!"

Abgesehen von der juristisch-staatsrechtlichen Unhaltbarkeit des Vorgehens trat die politische Strategie von Monarch und Ministern klar zu Tage. Die Staatsspitze nahm das Wahlgesetz vom November 1848 zurück, nach dem alle erwachsenen Männer berechtigt waren, an den Wahlen zur Zweiten Kammer teilzunehmen bzw. sich in dieses Haus wählen zu lassen, sofern sie älter als 30 Jahre alt waren. Für die Erste Kammer wurde ein nicht ganz so egalitäres Wahlverfahren aufgehoben, das noch zusätzliche Vermögens- und Mindeststeuernachweise gefordert hatte. Auch wenn dieses Parlament, das im November 1848 als Kompromiss zwischen liberalen und demokratischen Forderungen entstanden war, noch nicht die Standards heutiger allgemeiner und gleicher Wahlen erfüllte, war es doch egalitärer als alle seine Vorgänger und konstituierte sich erstmals nach landeseinheitlichen Wahlkreisen. Da das Ministerium v. Beust aber bei diesen Volksvertretern weder im Vorfeld des Dresdner Maiaufstandes, noch danach eine Mehrheit für seine Politik hatte gewinnen können, berief es nun den letzten vorangegangen Landtag wieder ein. Dieses Parlament hatte zwar Ende 1848 vollkommen verfassungskonform die Wahlrechtsänderung beschlossen, viele seiner Abgeordneten verloren jedoch daraufhin ihr Mandat. Nun erhielten diese ehemaligen Kammermitglieder ihre Landtagssitze zurück. Das mag mancher unter ihnen individuell als eine Art Rehabilitierung empfunden haben. Gesellschaftspolitisch gesehen fiel mit der Reaktivierung des alten Landtages das parlamentarische Mitspracherecht wieder zurück an die ohnehin sozial einflussreichen Gruppen der Bevölkerung. Ihre Repräsentanten erschienen nun wieder als Abgeordnete in den Sitzungssälen der Landtagskammer. Das Gros der sächsischen Männer büßte hingegen sein Wahlrecht ein.

Aber keineswegs alle Mitglieder des alten nach Besitzgruppen gegliederten Landtags waren bereit, an der Rücknahme des Wahlgesetzes vom November 1848 mitzuwirken. Eine größere Gruppe sah die Zukunft Sachsens besser garantiert durch eine erweiterte politische Partizipation. So folgten sämtliche Vertreter des "Handels und Fabrikwesens", die dem Landtag noch 1848 angehört hatten, im Sommer 1850 nicht der erneuten Einladung in die Zweite Kammer. Unter ihnen befanden sich mit Männern wie dem Verleger Heinrich Brockhaus, dem Maschinenbauer Eli Evans oder dem Unternehmer Gustav Harkort durchaus Führungspersönlichkeiten des sächsischen Großbürgertums. Aber auch Abgeordnete aus dem liberalen und demokratischen Spektrum, die nicht zum vermögenden Wirtschaftsbürgertum zählten, folgten der Einberufung ins Parlament nicht. Die Leipziger Professoren beispielsweise, die einen Sitz im sächsischen Oberhaus zu vergeben hatten, zeigten sich zunächst renitent gegen die Einladung zum Landtag. Daraufhin wurden drei von ihnen ihres Amtes enthoben. Der prominenteste Gemaßregelte war Theodor Mommsen, der aufblühende Star der deutschen Altertumsforschung. Mommsen schrieb daraufhin als Brotarbeit seine Römische Geschichte, für die er später den Literaturnobelpreis erhielt. Für die Lehrstuhlinhaber der Universität Leipzig hatte die Affäre aber auch einen unangenehmen Nebeneffekt. Das Ministerium setzte durch, dass künftig auch die außerordentlichen Professoren im Senat mit abstimmen durften. Diese Wissenschaftler benötigten zum Karrieresprung auf das Ordinariat noch das Wohlwollen des Ministeriums. Sie waren daher besser steuerbar als die saturierten Lehrstuhlinhaber.

Auch der Leipziger Oberbürgermeister, Otto Koch, sollte im Sommer 1850 von Amtswegen einen Platz in der Ersten Kammer einnehmen. Koch mochte aber bei der Rücknahme des liberalen Wahlrechts nicht mit der Regierung kooperieren. Er schrieb an das Ministerium des Innern, er sei "trotz gewissenhaftester Erwägung nicht im Stande gewesen (...), einen Rechtsgrund für die Einberufung dieser Ständeversammlung aufzufinden". Die Regierung eröffnete daraufhin ein fragwürdiges Disziplinarverfahren gegen ihn. Koch nutzte alle Einspruchsmöglichkeiten, wurde aber immer wieder zurückgewiesen. Daraufhin erkrankte er ernstlich. Die sächsischen Zeitungen publizierten Bulletins über Kochs Befinden.

Währenddessen wartete die Leipziger Kreisdirektion fast schon neben seinem Krankenbett darauf, dem Mann seine Suspendierung mitzuteilen. Aber Koch erkannte nach seiner Genesung den Landtag alten Modus doch noch als rechtmäßig an und trat ihm verspätet bei. Auch die Zweite Kammer hatte Schwierigkeiten, eine hinreichende Anzahl von Parlamentariern zusammenzubekommen. Als zu Beginn des Landtages das erste Verzeichnis der Mitglieder angefertigt wurde, fehlten 24 von 75 Abgeordneten. Immer wieder sagten auch die Stellvertreter ab, die auf die Sitze der Kammermitglieder nachrücken sollten. Am 29. Juli 1850, als das Unterhaus darüber beriet, ob seine Einberufung rechtens gewesen sei, hatte der Kammerpräsident vorab wieder eine Reihe von Schreiben zu verkünden, mit denen bisherige Landtagsmitglieder ihre Abwesenheit erklärten. Erneut erwiesen sich die Vertreter des Handels und Fabrikwesens als besonders ablehnend. So erklärte der Dresdner Kaufmann Franz Ludwig Gehe schriftlich "seinen Rücktritt von der ständischen Funktion" als stellvertretender Abgeordneter in dieser Kategorie. Adolph Hecker, Kaufmann aus Chemnitz, und ebenfalls stellvertretender Abgeordneter des Handels und Fabrikwesens schickte seine Einladung zur Landtagsteilnahme zurück, erklärte seinen Verzicht auf ein Mandat und bat darum, nicht auf seiner Einberufung zu bestehen. Die Zweite Kammer hörte in ihrer Beratung darüber, ob sie selbst sich zurecht konstituiert habe, einen Deputationsbericht, den der Dresdner Advokat und Stadtrat Friedrich Wilhelm Schäffer vortrug. Schäffer, der das Rittergut Krakau bei Königsbrück besaß, gehörte dem Haus als Abgeordneter der Rittergutsbesitzer vom Meißner Kreis an. Er argumentierte im Auftrag des Ausschusses ganz im Sinne der Regierung. Aus dieser Sichtweise durfte die Staatsspitze das Wahlgesetz vom November 1848 zurücknehmen, weil es mit dem Adjektiv "provisorisch" bezeichnet worden war. Ein provisorisches Gesetz gebe es nämlich ansonsten nicht in der sächsischen Verfassung, führte Schäffer aus, und ein solches Gesetz erledige sich nach Ablauf einer bestimmten Frist oder nach Eintritt eines erwarteten Ereignisses von selbst. Weil im Falle des Wahlgesetzes sich der Zweck, der mit ihm verfolgt worden sei, nicht erfüllt habe, sei es hinfällig. Denn die Landtage von 1849 und 1849/50 hätten an die Stelle des provisorischen kein definitives Wahlgesetz gesetzt. Deshalb gelte das provisorische Wahlrecht nun nicht mehr. Da aber in der Verfassung keine Lücke entstehen dürfe, seien eben wieder die vorherigen Bestimmungen in Kraft getreten. Die Regierung habe in dieser Lage handeln müssen, weit ihr die Pflicht obliege, im Interesse des Landes für reguläre Verhältnisse zu sorgen und weil sie das Gemeinwohl der Staatsbürger nicht aus den Augen verlieren dürfe. Es sei somit die jetzt einberufene "Ständeversammlung... das gesetzmäßige Organ der Gesamtheit der Staatsbürger". Sie sei berechtigt, "deren verfassungsmäßige Rechte auszuüben und geltend zu machen". Um sich selber als kompetent zu erklären, reiche dem derzeitigen Landtag in seinen Kammern auch eine Zweidrittelmehrheit. Denn bei dieser Entscheidung handele es sich nicht um eine Verfassungsänderung, für die eine Dreiviertelmehrheit notwendig sei. Das provisorische Wahlgesetz des Jahres 1848 habe man zwar als Paragraphen des sächsischen Staatsgrundgesetzes beschlossen, es sei aber doch wegen seiner begrenzten Geltungsdauer ohne weiteres Zutun des Parlaments nicht mehr in Kraft. Nicht alle im Unterhaus erschienenen Abgeordneten waren mit dieser Argumentation einverstanden. Der Zittauer Advokat Gustav Woldemar Kretzschmar sah den Beweis nicht erbracht, dass die Abänderung der Verfassungsurkunde im November 1848 rechtsungültig gewesen sei. Ohne eine solche Nichtigkeitsfeststellung gelte auch ein Provisorium fort. Übrigens habe der Grund für den vorläufigen Charakter des Gesetzes lediglich darin bestanden, dass man sich nicht einig gewesen sei, ob es künftig ein oder zwei Häuser des Landtags habe geben sollen. Davon seien aber die übrigen Bestimmungen des Wahlrechts ganz unbeeinflusst. Es müsse also weiterhin gültig bleiben. Auch müsse man eine Rücknahme des Wahlrechts aus dem Jahre 1848 als Verfassungsänderung mit einer Dreiviertelmehrheit beschließen, weil es mit einer eben solchen qualifizierten Mehrheit eingeführt worden sei. Wäre aber "über die Bedeutung und die Wirkung des damals vereinbarten Provisoriums irgend ein Zweifel vorhanden", meinte Kretzschmar, seien "die damaligen Landstände die natürlichen und rechtmäßigen Ausleger der streitigen Frage". Daher habe er sich verpflichtet gefühlt, der Einladung der Regierung Folge zu leisten. Stimme aber die Kammer seiner Ansicht nicht zu, nach der er sich "nicht [als] berechtigten und Andere verpflichtenden Landstand betrachten" könne, sei es ihm unmöglich, mit Engagement an den nachfolgenden Verhandlungen teilzunehmen. Für diesen Fall bat Kretzschmar das Haus darum, ihm seinen Austritt aus dem Parlament zu gestatten.

Auch der oberlausitzische Gutsbesitzer Christian Gottlieb Riedel, der der Zweiten Kammer für den Bauernstand angehörte, sah in der Argumentation, die Schäffer für die Deputation vorgetragen hatte, lediglich einen Versuch, das "Verfahren der Regierung zu beschönigen und zu rechtfertigen". Das seien alles Scheingründe, die ihn nach seinen Rechtsbegriffen nicht davon überzeugt hätten, dass dem letzten Landtag aus der Zeit vor der Verfassungsänderung wieder die Kompetenz zufallen sollte, parlamentarische Rechte auszuüben. Die alten Stände seien doch im Winter 1848 für immer verabschiedet worden. König Friedrich August II. habe doch selbst in seiner Thronrede beim Landtagsabschied am 17. November 1848 gesagt: "Es ist das letzte Mal, wo ich Sie, die Stände des Wahlgesetzes vom Jahre 1831, um mich versammelt sehe". Es habe auch nicht an den Landtagen 1849 und 1849/50 gelegen, dass aus dem provisorischen Wahlgesetz kein definitives geworden sei. Vielmehr zeichne dafür die Regierung verantwortlich, die nicht allein beim Wahlgesetz "trotz der vielen und dringenden Bitten und Interpellationen ... den Kammern ... die versprochenen Gesetzentwürfe doch nicht vorgelegt" habe. Riedel erklärte, er fühle sich seinem Eid, den er auf die Verfassung abgelegt habe, verpflichtet und beuge sich nicht der Zumutung, seinen Schwur zu brechen, indem er das provisorische Wahlgesetz als ungültig betrachte. Letztlich sei das alte Landtagswahlgesetz "bei der großen Majorität verhaßt". Zwar könne die Regierung den besten Willen haben, ein "neues Wahlgesetz vorzulegen, was einigermaaßen den Wünschen des Volkes entspräche", die Erste Kammer werde es doch zu Fall bringen. "Die Herren in derselben", meinte Riedel, "sitzen jetzt in der Erinnerung an die alte Zeit gar zu schön beisammen. Sie werden ihre Plätze nicht so gutwillig wieder verlassen wie früher".

Diese Einschätzung traf wohl auf die Mehrheit der Wähler zu. Denn die nach dem liberaleren Wahlrecht gewählten Landtage hatten eine ganz andere Politik befürwortet als der König und die Regierung. Für die im Sommer 1850 wieder einberufenen Mitglieder der Ersten Kammer war durch die Wahlen zu den Landtagen 1849 und 1849/50 unmissverständlich klar geworden, dass sie unter den neuen Bedingungen keinerlei Chancen hatten, über das Oberhaus Einfluss auf die sächsische Politik zu nehmen. Diese Möglichkeit gab es nur nach dem Wahlrecht vom Jahre 1831. Eine derartige Einsicht hatte sich aber auch bei manchem Abgeordneten der Zweiten Kammer eingestellt. Der Landgerichtsdirektor Karl Friedrich Sachße, der den 8. städtischen Wahlkreis (Tharandt, Freiberg, Sayda, Brand, Frauenstein, Altenberg, Alt-Geising, Glashütte) vertrat, gestand ein, dass er es nicht für möglich gehalten habe, noch einmal in das sächsische Unterhaus einberufen zu werden. Er rief nun dazu auf, das, was die Mitglieder dieser Parlamentskammer bei der Genehmigung des provisorischen Wahlgesetzes im November 1848 falsch gemacht hätten, nachzubessern. Auch der Abgeordnete Johann Gottlob Unger, der die ländlichen Wähler im Umkreis des Klosters Marienthal vertrat, erkannte, dass er "das provisorische Gesetz, das Kind von 1848, hassen" musste. "Jeder", deklamierte Unger, "der heute erschienen ist, würde, wenn er in seinen Busen greift, fühlen, daß er sich dazumal geirrt, und heute bereuen, daß er sich widersprechen muß." Deshalb müssten sich nun "die Ständeversammlung und die Regierung ... die Hände reichen". Karl August Rittner auf Merzdorf bei Riesa, ein Vertreter der Rittergutsbesitzer des Meißner Kreises monierte sogar, dass "das Princip der Volkssouveränität sich in alle öffentlichen, ja selbst in Privatverhältnisse einzudrängen" gesucht hatte und dass es nahe daran gewesen war, "Staat und Familie aus den Fugen und Angeln zu treiben". Rittner bekannte, froh darüber zu sein, dass die Regierung nun das "Staatsschiff wieder in die Bahn" lenke, auf welcher allein dem Staatsbürger Segen und Heil" erwachse. Bei der Abstimmung über ihre eigene Restituierung als Landtagsmitglieder stimmten 50 Mitglieder der Zweiten Kammer dafür, dass sie zurecht die Gesamtheit der Staatsbürger repräsentierten. Nur drei Parlamentarier votierten dagegen. Damit war exakt eine Zweidrittelmehrheit aller möglichen Stimmen auf den Regierungsentwurf eingegangen. Eine Dreiviertelmehrheit, wie sie für eine Verfassungsänderung erforderlich gewesen wäre, hätte wohl nicht zu Stande kommen können, wenn alle Parlamentarier der Einberufung gefolgt wären.

In der Ersten Kammer votierten am 5. August 1850 allerdings alle anwesenden 31 Mitglieder für die Regierungsvorlage. Da das Haus maximal 42 Sitze zu vergeben hatte, wurde hier auf jeden Fall eine Mehrheit erreicht, die die Verfassung ändern konnte. Trotz des einstimmigen Votums verlief die Debatte aber nicht ohne Regierungsschelte. Christian Gottlob Leberecht Großmann, der als Superintendent von Leipzig von Amtswegen dem Oberhaus angehörte, zerpflückte mit juristischer Detailgenauigkeit die Argumentation der Regierung. Denn erstens gebe es durchaus auch andere provisorische Bestimmungen in der Verfassungsurkunde. Nicht nur das Wahlgesetz, sondern auch die Landtagsordnung habe beispielsweise diesen Status. Weiterhin gehörten für Großmann die umstrittenen Wahlbestimmungen zweifelsfrei zum festen Bestand der Verfassungsurkunde und sollten nicht nur einen Ausnahmezustand überbrücken. Schließlich konnte der Superintendent auch nicht nachvollziehen, wieso der provisorische Charakter des Gesetzes es gestatten sollte, es ohne ein legitimierendes Verfahren wieder aus der Verfassung herauszunehmen. Wenn ein Lehrer "nach dem Tode seines Vorgänger" als "Beamter provisorisch angestellt" werde, sei doch "an eine Wiederherstellung des alten Zustandes nicht zu denken". Auch aus dem provisorischen Charakter des Wahlrechts ergebe sich nicht, das dieses Gesetz nur für einen Landtag gelten solle und erst recht nicht, dass ein vorheriger Zustand von selbst wieder eintrete. Großmann stimmte aber dennoch im Sinne der Regierung ab, aber aus anderen Gründen. Denn als das Wahlgesetz zustande gekommen sei, hätten die "Kammern und die Staatsregierung offenbar der moralischen Freiheit" ermangelt. Man sei nur dem Druck der Verhältnisse gewichen. Außerdem kollidiere das Wahlgesetz mit einem anderen Paragraphen der Verfassung. Vor allem aber habe das Gesetz doch, wie es schon der inzwischen verstorbene Oberhofprediger Christoph Friedrich v. Ammon vorausgesagt habe, nur "zur Republik, oder zur Anarchie, oder zu beidem führen" können. Eine solche Zukunftserwartung schreckte Großmann nachhaltig und er resümierte: "Dieser Grund schlägt völlig durch, die Aufhebung des Gesetzes würde aus diesem Grunde, für mich wenigstens, vollkommen gerechtfertigt sein. Nur den einen Wunsch hätte ich, daß das hohe Ministerium lieber gleich von Anfang das unumwunden und offen bekannt und nicht unhaltbare Rechtsgründe angeführt hätte, welche die Opposition zum Widerspruch gereizt haben."

Justizminister Zschinsky erwiderte unmittelbar, dass die Regierung "hinsichtlich ihres Verfahrens die gewichtigsten Rechtsgründe" auf ihrer Seite habe. Das sei ja bereits hinlänglich erläutert worden. Das Binnenkalkül des Kabinetts dürfte dennoch anders ausgesehen haben. Denn v. Beust besuchte knapp drei Wochen später, am Abend des 25. Augusts 1850, Carl v. Weber, mit dem er seit dem gemeinsamen Jurastudium in Göttingen befreundet war. Nach dem gemeinsamen Souper blieb Beust noch auf eine Zigarre, d.h. zum Gespräch. In seinem Tagebuch rapportiert v. Weber das Gespräch so: "Wir politisirten dann noch etwas. Sophie [v. Webers Ehefrau] ward dabei so grob, daß ich einige Mühe hatte, die Sache wieder ins Gleiche zu bringen. Beust bleibt dabei, es sei politisch gewesen, eine wenn auch zweifelhafte Rechtsansicht an die Spitze zu stellen, um eben ähnliche Vorgänge zu vermeiden. Das ist nun eben das was ich nicht capiren kann: eine Rechtsansicht, die sich eben auf kein Recht stützt, und von deren Unrichtigkeit man doch im Innern selbst überzeugt ist, aufzustellen und zu vertheidigen, das halte ich eben nicht für politisch; und moralisch läßt es sich doch noch weniger rechtfertigen, wenn man dadurch das Volk zur Heuchelei nöthigt. Ueber der gleichen Puncte werde ich mit Beust stets verschiedener Ansicht sein und bleiben."


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Quelle:
Landtags-Kurier Freistaat Sachsen 3/2007, Seite 11-15
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veröffentlicht im Schattenblick zum 24. Juli 2007