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MEMORIAL/058: Wer wurde befreit? (Gerhard Feldbauer)


Wer wurde befreit?

von Gerhard Feldbauer, 18. September 2012



Es ging "um die Befreiung Europas vom Napoleonischen Joch" hieß es in einem Bericht des "Neuen Deutschland" vom 8./9. September 2012 über die Niederlage Napoleons in Russland. Die "Befreiungskriege", wie sie allgemein auch in der marxistischen Geschichtsschreibung apostrophiert werden - befreiten aber vor allem die Feudalherren, denn der Wiener Kongress markierte den Sieg der feudalen Reaktion über das bürgerliche Frankreich. Napoleon war Repräsentant der Revolution der Bourgeoisie und ihrer Expansionsansprüche. Die Feudalreaktion verketzerte ihn in ihrer Propaganda zum "korsischen Ungeheuer", während seiner Herrschaft der Hundert Tage im Frühjahr 1815 zum "Feind der Menschheit". Die europäischen Könige und Fürsten, die um die Beute stritten, zitterten, es könnte Napoleon gelingen, der Revolution noch einmal Leben einzuhauchen. Die Volksmassen, die ihm in Frankreich zujubelten, hofften das sehnlichst und glaubten ihm, wenn er erklärte, er sei gekommen, um die "Prinzipien der Großen Revolution zu schützen." Er wurde bei Waterloo ein letztes Mal geschlagen, weil die französische Bourgeoisie längst konterrevolutionär geworden war, ihre einstigen Ideale verraten und den Kaiser fallen gelassen hatte. So steckte in dem, was Napoleon nach seiner letzten Niederlage sagte, viel Wahrheit: "Die Mächte führen nicht Krieg mit mir, sondern mit der Revolution. Sie haben in mir immer deren Vertreter, den Mann der Revolution gesehen." Dementsprechend war die Abrechnung nach den "Hundert Tagen". Der weiße Terror der Royalisten wütete besonders in Südfrankreich. In den Straßen von Marseille und Nimes wurden Bonapartisten und Soldaten getötet, in den Städten und Dörfern an der Mittelmeerküste Hunderte von Menschen umgebracht, in Avignon Marschall Brune ermordet, General La Bédoyère, Marschall Ney und andere hingerichtet, Morde und Hinrichtungen auch in zahlreichen anderen Départements.

Wäre es für den Verlauf des Geschichtsprozesses günstiger gewesen, wenn Napoleon gesiegt, die europäischen Feudalreaktionen gestürzt und an ihrer Stelle die Bourgeoisie, wenn auch unter französischer Vorherrschaft, an die Macht gebracht hätte? Stimmen großer Geister dieser Zeit lassen vermuten, dass sie das besser gefunden hätten. Heine sah den Triumph mit großer Skepsis. In seinem Nachlass steht: Bei Waterloo siegte "die schlechte Sache des verjährten Vorrechts". Napoleon vertrat - trotz aller Probleme - die "Sache der Revolution. Es war die Menschheit, welche zu Waterloo die Schlacht verloren". Aufschlussreich seine "Grenadiere", die er dem Schicksal Napoleons widmete. Goethe sprach von der Ablösung der bürgerlichen Vorherrschaft Napoleons durch die feudale Vormacht des Zaren. Er sah in Napoleon einen "außerordentlichen Menschen", sprach von der "Größe des Helden", einem Halbgott". Menschen aus dem Volk äußerten erschrocken, "der Adel hat gewonnen". Golo Mann schrieb vom "Lehrgang des Napoleonischen Zeitalters", eines ersten konzentrierten Lehrganges dessen, "was im Lauf des 19. und 20. Jahrhunderts oft gelernt und repetiert werden musste". Die "neuen Ideen" hielt er nicht für erschöpft. "Sie waren nun da und mächtig und blieben mächtig."

Das bezeugt, dass die Napoleonzeit insgesamt ein großer Schritt vorwärts war, in der Epoche des Übergangs vom Feudalismus zum Kapitalismus.

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Quelle:
© 2012 by Gerhard Feldbauer
Mit freundlicher Genehmigung des Autors


veröffentlicht im Schattenblick zum 19. September 2012