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MEMORIAL/062: Italien vor 90 Jahren - Mussolini marschierte im Liegewagen nach Rom (Gerhard Feldbauer)


Italien vor 90 Jahren

Mussolini marschierte im Liegewagen nach Rom

Der faschistische Putsch konnte niedergeschlagen werden

Aber der König untersagte jeden Widerstand gegen das mit den Großindustriellen abgesprochene Spektakel

Zum politischen Rahmen der faschistischen Machtergreifung

von Gerhard Feldbauer, 25. Oktober 2012



In den revolutionären Nachkriegskämpfen mit Fabrikbesetzungen und der Bildung bewaffneter Roter Garden zeichnete sich die Möglichkeit einer Linken Regierung ab. Zwar ebbten die Massenaktionen 1921 ab, verschafften den Linken aber bei den Wahlen im Mai einen Aufstieg. Die bürgerliche Rechte bildete mit den Faschisten einen "nationalen Block", der 265 der 508 möglichen Mandate erreichte. Die Faschisten, die erstmals ins Parlament einzogen, erhielten davon jedoch nur 36. Die Sozialistische Partei (ISP) kam auf 123 Sitze, die katholische Volkspartei auf 108. Die im Januar 1921 gegründete Kommunistische Partei (IKP) auf 15. In seiner Parlamentsrede drohte Mussolini, "ich bin gegen das Parlament und gegen die Demokratie". Seine Schwarzhemden schrieen vor dem Parlament: "Italien braucht einen Diktator". Mussolini kündigte den Weg an: "Wir werden kein Parlamentsklub sein, sondern ein Aktions- und Exekutionskommando."

Im Januar 1921 war auf dem Parteitag der ISP in Livorno die von den Ordinuovisten (Anhänger der von Antonio Gramsci gegründeten Zeitschrift Ordine Nuovo/Neue Ordnung) seit 1919 versuchte Umwandlung der Sozialistischen in eine revolutionäre Partei des Proletariats und deren Beitritt zur Kommunistischen Internationale gescheitert. Den Aufnahmebedingungen des II. KI-Kongresses von 1920 entsprechend forderten die Linken den "Bruch mit dem Reformismus und mit der Politik der Zentristen".(1) Das hieß, die Zentristen sollten zusammen mit den Ordinuovisten für den Ausschluss der Reformisten stimmen. Die Zentristen vertraten 98.028 Mitglieder, Ordine Nuovo 58.783 und die Reformisten 14.695. Der Führer der Zentristen, Giacinto Menotti Serrati, der sich vor dem Parteitag für "die Trennung von den Opportunisten" ausgesprochen hatte, konnte sich jedoch nicht durchsetzen. Mit dem Argument, die Einheit der Partei zu wahren, lehnten die Zentristen den Ausschluss der Reformisten ab. Daraufhin verließen die Ordinuovisten am 21. Januar den Parteitag und gründeten die Kommunistische Partei.

Zum Generalsekretär wurde Amadeo Bordiga gewählt, der die Teilnahme an Wahlen und am parlamentarischen Kampf ablehnte. Wegen seiner sektiererischen Haltung wurde er 1924 aus dem ZK, 1930 aus der IKP ausgeschlossen. Sein Nachfolger wurde Gramsci. Nach der Parteigründung schlossen sich 35.000 der 41.000 Jungsozialisten der IKP an, die so auf fast 100.000 Mitglieder anwuchs. Serrati korrigierte später seine Haltung, wurde Führer der Terzinternationalisten, welche die ISP an die KI annähern wollten, brach 1924 mit den Reformisten und trat der IKP bei, die ihn in ihr Zentralkomitee aufnahm.


"Versöhnungspakt" der Sozialisten mit Mussolini

Im August 1921 schloss die ISP mit Mussolini einen "Versöhnungspakt", der die von deren Sturmabteilungen angezettelten Bürgerkriegsauseinandersetzungen beenden sollte. Mussolini wollte die ISP dazu bewegen, zusammen mit dem PNF in eine bürgerliche Regierung einzutreten, was jene jedoch ablehnte. Die ISP löste ihre Kampfgruppen Ardidi del Popolo (Tapfere des Volkes) auf, in denen sich Sozialisten, Kommunisten, Anarchisten und bürgerliche Antifaschisten zum bewaffneten Widerstand gegen den faschistischen Terror zusammengeschlossen hatten. Die SA blieb dagegen bestehen und setzte ihren Terror fort. Der Schritt der ISP zeigte, in der Partei wirkte noch fort, dass Mussolini in seiner 14jährigen Karriere in der Partei es bis zum Chefredakteur des Avanti gebracht hatte und erst 1914 wegen seiner chauvinistischen Kriegspositionen ausgeschlossen worden war. Viele Sozialisten meinten, Mussolini habe eine sozialrevolutionäre Partei gegründet und glaubten seinen demagogischen antikapitalistischen Phrasen.

Nach dem Sturz der Regierung des Sozialreformisten Invanhoe Bonomi im Februar 1922 kam unter Luigi Facta die letzte von einem Liberalen geführte Regierung vor dem "Marsch auf Rom" ins Amt. Sie war stark rechts ausgerichtet und wollte die herrschenden Kreise beruhigen, die Exekutive werde mit den aufsässigen Arbeitern fertig. Facta ließ die Faschisten in ihrem Terror zur Niederhaltung der Linken meist gewähren. Die Präfekten kamen den Forderungen der SA nach Absetzung linker Bürgermeister und Gemeindeverwaltungen nach. Ordine Nuovo berichtete am 23. Juli 1921, dass 1920 2.500 Italiener (Männer, Frauen, Kinder und Greise) unter den Kugeln der Faschisten und der öffentlichen Sicherheitskräfte den Tod fanden, im ersten Halbjahr 1921 ungefähr 1.500 Menschen getötet, 20.000 Bewohner der Städte ausgewiesen wurden oder fliehen mussten. In Norditalien die Sturmabteilungen 15 Millionen Menschen terrorisierten, die Behörden dem tatenlos zusahen.


Eine imperialistische Massenpartei überwiegend aus kleinbürgerlichen Schichten

Nach den Wahlen 1921 begann Mussolini, den bewaffneten Putsch zur Machtergreifung vorzubereiten. Im November 1921 konstituierten die 1919 gebildeten Fasci di Combattimento (Kampfbünde) sich zum Partito Nazionale Fascista (PNF). Die Bewegung zählte 320.000 Mitglieder, die in 2.200 Fasci organisiert waren. Die Squadre di Azione (Sturmabteilungen)(2) der Kampfbünde wurden in den PNF eingegliedert, alle Parteimitglieder verpflichtet, ihnen beizutreten. Mussolini ließ sich als PNF-Chef von nun an "Duce del Fascismo" nennen. Dem PNF gehörten an: 18.084 Grundbesitzer, 13.878 Kaufleute, 4.269 Industrielle, 9.981 Freiberufler, 7.209 Staatsbeamte, 14.988 Privatangestellte, 1.680 Lehrer, 19.783 Studenten, 36.847 Landarbeiter und Bauern, 23.418 Industriearbeiter, vor allem aus Staatsbetrieben.(3) In Gestalt des PNF entstand eine imperialistische Massenpartei, deren Gefolgschaft überwiegend aus kleinbürgerlichen Schichten bestand.

Einflussreiche Kreise des Industrie- und Bankkapitals, Vertreter der Großagrarier, der Staatsbürokratie und Teile des Militärs unterstützten Mussolini. Vom Industriellen- und dem Agrarverband sowie aus vielen Unternehmerkassen (Conti, Pirelli, Agnelli, Benni, Donegani, Bennedetti) erhielten die Faschisten Gelder. Der Hof stimmte unter der Bedingung zu, dass die Monarchie nicht angetastet werde, woran sich Mussolini dann auch hielt. Der Herzog von Aosta, ein Vetter des Königs und Kommandeur eines Armeekorps, sicherte Unterstützung zu. Der im Januar 1922 als Pius XI. neue gewählte Papst ergriff zusammen mit seinem Kardinalstaatssekretär Gasparri offen Partei für die Faschisten.

In Neapel beschloss der PNF-Kongress am 22. Oktober 1922 den Marsch auf Rom und dazu die totale Mobilisierung der Sturmabteilungen. Am 28. Oktober brachen die ersten 40.000 SA-Männer nach der Hauptstadt auf. Der Rest folgte in LKWs, nachdem Mussolini von Mailand aus das Kommando dazu gegeben hatte.


Ein abgekartetes Spiel

Die faschistische Geschichtsschreibung feierte die Kapitulation des liberalen Staates als einen Sieg der "nationalen Revolution" und kreierte die Legende, Mussolini sei einem Cäsar gleich an der Spitze seiner Sturmabteilungen in Rom einmarschiert. In Wirklichkeit hatte es sich also um ein abgekartetes Spiel gehandelt.

Seine Berufung zum Premier wurde dem "Duce" in Mailand, wo er sich am 28. Oktober zu letzten Gesprächen mit dem Industriellenverband traf, mitgeteilt. Der "Duce" erklärte noch einmal, dass seine antikapitalistischen Forderungen nicht ernst zu nehmen und die Sicherung der Interessen der Wirtschaft und die "Wiederherstellung der Arbeitsdisziplin in den Betrieben" für ihn oberstes Anliegen waren. Der Gummikönig Pirelli gab von sich: "Welch ein Mann, dieser Mussolini, mit dem man sich so sachkundig über derartige Fragen unterhalten kann".

Bei einem entschlossenen Eingreifen der Armee wäre es ohne größere Probleme möglich gewesen, den faschistischen Putsch nieder zu schlagen. Die zur Verfügung stehenden Verbände waren den SA-Abteilungen sowohl an Zahl als auch Bewaffnung und Ausrüstung überlegen. Verfügten die Faschisten doch noch nicht einmal über Geschütze oder andere schwere Waffen. Doch gemäß den Absprachen mit den Großindustriellen lehnte Vittorio Emanuele III. die von Ministerpräsident Facta vorgeschlagene militärische Verteidigung der Hauptstadt ab. Facta resignierte und trat zurück. Erst jetzt fuhr Mussolini - um nicht aufzufallen, im Liegewagen der Eisenbahn - in der Nacht zum 30. Oktober nach Rom. Während die Sturmabteilungen grölend durch die Straßen der Hauptstadt zogen, plündernd und mordend das Arbeiterviertel San Lorenzo heimsuchten, empfing der Monarch den "Duce" und beauftragte ihn mit der Regierungsbildung. Nationalisten, Liberale und die katholische Volkspartei traten in die Regierung ein und sprachen dem faschistischen Regierungschef mit 306 Stimmen das Vertrauen aus. Es gab nur 106 Gegenstimmen, vor allem aus den Arbeiterparteien.

Die Meinung Bordigas, die Bourgeoisie werde "den Parlamentarismus verteidigen", erwies sich als Fehleinschätzung. Die Verkennung der faschistischen Gefahr war bereits in Livorno sichtbar geworden, wo sie mit keinem Wort in den Gründungsdokumenten der IKP erwähnt wurde. Lediglich Gramsci, der im Faschismus eine "degenerierte Kraft der Bourgeoisie" und eine "bewaffnete Garantie des Klassenstaates" sah, hatte nach den Wahlen 1921 vor einem "Staatsstreich der Faschisten" gewarnt. Es dauerte mehrere Jahre, bis Gramsci und Togliatti zu der Einschätzung des Faschismus als neuer und reaktionärster Erscheinungsform imperialistischer Herrschaft gelangten und sich in der Partei damit durchsetzten.


Spaltung der Arbeiterbewegung eine Hauptursache

Die uneinige antifaschistische Bewegung, deren Hauptkräfte aus der gespaltenen Arbeiterbewegung kamen, hatte die Machtübergabe an Mussolini nicht verhindern können. Der faschistische Terror hatte nicht nur bürgerliche Kreise, sondern auch Arbeiterschichten eingeschüchtert und ihre Widerstandskraft geschwächt. Beachtet man jedoch die gesamte, dem Faschismus gegenüberstehende Kräftekonstellation, dann war, wie Angelo Tasca schrieb, der "Sieg des Faschismus nicht absolut unvermeidlich". Auch Togliatti warnte, "den Übergang von der bürgerlichen Demokratie zum Faschismus als unvermeidbar anzusehen." Aufschlussreich war die Aussage des engen Mitarbeiters Mussolinis, Roberto Farinaccis, der zugab, der Erfolg sei weniger von der Stärke des Faschismus als von der Schwäche und zögerlichen Haltung seiner Gegner abhängig gewesen.(4)


Gerhard Feldbauer schrieb mehrere Bücher zu Faschismus und Antifaschismus in Italien, zuletzt "Wie Italien unter die Räuber fiel. Und wie die Linke nur schwer mit ihnen fertig wurde. Papyrossa, Köln 2012.


Fußnoten:

(1) Bedingungen für die Aufnahme in die Kommunistische Internationale. In: Lenin, Werke, Bd. 31, S. 196.

(2) Wie den Führertitel "Duce" und den Führergruß übernahm Hitler von Mussolini auch wörtlich den Begriff der Sturmabteilungen (SA).

(3) Angelo Tasca: Glauben, gehorchen, kämpfen. Der Aufstieg des Faschismus in Italien. Wie, o. J. (Promedia), S. 195.

(4) Jens Petersen/Wolfgang Schieder: Faschismus und Gesellschaft in Italien, Köln 1998, S. 22.

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Quelle:
© 2012 by Gerhard Feldbauer
Mit freundlicher Genehmigung des Autors


veröffentlicht im Schattenblick zum 29. Oktober 2012