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MEMORIAL/190: Italien 1973 - Warum der Historische Kompromiss gegen die faschistische Gefahr scheiterte (Gerhard Feldbauer)


Im September 1973 schlug IKP-Generalsekretär Enrico Berlinguer der Democrazia Cristiana ein Regierungsbündnis gegen die faschistische Gefahr vor

Warum der Compromesso scheiterte

von Gerhard Feldbauer, 22. September 2018


In einer am 28. September 1973 beginnenden Serie "Demokratischer Weg und reaktionäre Gewalt" und "Soziale Bündnisse und politische Gruppierungen" schlug Enrico Berlinguer in der theoretischen Zeitschrift des Partito Comunista Italiano - PCI (IKP) Rinascita der regierenden großbürgerlichen Democrazia Cristiana (DC) eine Zusammenarbeit aller "fortschrittlichen Kräfte" gegen die faschistische Gefahr auf Regierungsebene vor. [1] Zum Anlass nahm der IKP-Generalsekretär den faschistischen Militärputsch am 11. September gegen den sozialistische Präsidenten Salvador Allende in Chile, dem der Partido Demócrata Cristiano, wo er ihn nicht unterstützte, tatenlos zugesehen hatte. "Selbst wenn die Linksparteien und Linkskräfte 51 Prozent der Stimmen im Parlament erringen könnten (...), wäre es völlig illusorisch anzunehmen, dass allein diese Tatsache den Fortbestand einer Regierung der Linksparteien und Linkskräfte garantieren würde", schlussfolgerte Berlinguer. Eine "demokratische Erneuerung" könne sich nur vollziehen, wenn sich Regierung und Parlament auf eine breite Mehrheit stützten, die stark genug sei, das Land vor einem reaktionären Abenteuer, wie es in Chile stattfand, zu schützen".

Berlinguer hatte allerdings bereits früher auf eine solche Koalition hingearbeitet und diese als Klassenzusammenarbeit charakterisiert. Auf der ZK-Tagung im November 1971 hatte er ausgeführt, man müsse "aus der endemischen Krise der Regierungen des linken Zentrums [2] herauskommen", eine "Regierung der demokratischen Wende" bilden und "die Überwindung der Klassenschranken anstreben". [3] Auf dem 13. Parteitag im März 1972, auf dem er Luigi Longo als Generalsekretär ablöste, präzisierte er, die "Demokratische Wende" durch die Zusammenarbeit der drei großen "politischen Volkskräfte", Kommunisten, Sozialisten und Christdemokraten, herbeizuführen. Gleichzeitig gab die Partei ihre Anti-NATO-Haltung auf und erklärte, den Beitritt zur EG zu unterstützen. [4]

Als die IKP 1976 bei den Parlamentswahlen 33,8 Prozent erreichte, trat der Kompromiss in sein konkretes Stadium. Den offiziellen Vorschlag unterbreitete Berlinguer, um den Symbolcharakter hervorzuheben, in Salerno, wo Palmiro Togliatti 1944 die Konzeption der "Wende von Salerno" vorgelegt hatte. Für die Verhandlungen befand sich die IKP in einer starken Position. Als zweitstärkste Fraktion belegte sie in der Abgeordnetenkammer 227 Sitze und stellte den Präsidenten, im Senat den Stellvertreter. Sieben Kommunisten leiteten Parlamentsausschüsse. In den Regionen beteiligte sich die Partei an fast der Hälfte der Regierungen. In allen Großstädten von Mailand über Rom bis nach Neapel verfügte sie über die Mehrheit in den Stadtparlamenten und regierte mit den Sozialisten zusammen. In 1.362 von 8.068 Städten stellte sie den Bürgermeister. Die Vertretung der IKP und der ISP auf der Ebene von den Gemeinden bis zu den Landesparlamenten entsprach 52,8 Prozent der Wähler. [5]

Durch den Wahlerfolg erhielt die sozialdemokratische Strömung Auftrieb und gewann bestimmenden Einfluss auf die Gestaltung des Historischen Kompromisses. Sie beherrschte vor allem den mächtigen parlamentarischen Apparat, der wiederum eng mit der Parteiführung verknüpft war. Ihre politisch-ideologische Grundlage bildete der sogenannte Eurokommunismus. Diese revisionistische Strömung entstand seit Anfang der siebziger Jahre in einigen KPn der westlichen Länder (vor allem Italiens, Spaniens, Frankreichs, der Linkspartei Kommunisten Schwedens). Während Spaniens PCE unter dem späteren Sozialdemokraten Santiago Carillo kaum über Deklarationen hinauskam und der PCF unter Georges Marchais zunehmend wieder auf Distanz ging, wurde die IKP unter Berlinguer zu seinem Protagonisten. Unter dem Druck der Eurokommunisten kam die IKP den Forderungen der DC nach und erkannte die kapitalistische Marktwirtschaft und das bürgerliche Staatsmodell, für das sie lediglich eine "demokratische Transformation" forderte, an. Außerdem propagierte sie einen eigenen "Weg zum Sozialismus". [6]

Die Reform-Vorhaben sahen eine Förderung der Privatindustrie bzw. Reprivatisierungen, die Behebung des Nord-Süd-Gefälles durch die Belebung der Landwirtschaft und Investitionen im Süden sowie eine Steigerung der Produktivität vor. Es wurden neue Arbeitsplätze vor allem für Jugendliche versprochen. Meist waren das verbale Bekundungen, die erst durch die Regierung bzw. das Parlament hätten beschlossen und verwirklicht werden müssen, wozu es nie kam. Ebenso spielte die Mitbestimmung der Gewerkschaften in den Betrieben, vor allem in den staatlichen Unternehmen, generell keine Rolle. Es fehlten Verbesserungen auf sozialen Gebieten, besonders im Gesundheitswesen oder in der Bildung. Die IKP stellte keine Forderungen, die Lebensbedingungen der arbeitenden Menschen zu verbessern, sondern fand sich im Gegenteil bereit, rigide Sparmaßnahmen der Regierung mitzutragen und mäßigend auf den Widerstand der Gewerkschaften dagegen einzuwirken. Vom Kampf gegen die großen Monopole als reaktionärster und aggressivster Kraft und der Begrenzung ihrer Macht war keine Rede. [7]

Das frühere Mitglied des Politbüros der KP Spaniens, Fernando Claudin, eigentlich ein Anhänger des Eurokommunismus, vermerkte kritisch, dass "die zunehmenden Wahlerfolge des PCI und seine fortschreitende 'Besetzung' von Machtpositionen im politischen System nicht begleitet waren vom Aufbau eines sozialen Blocks, der von seinem Bewusstseinsgrad, von seiner inneren Gliederung und der Qualität seines Programms her in der Lage gewesen wäre, die harten Prüfungen zu bestehen, die auf ihn zukommen." [8]

Wenn Berlinguer sich in seinem Compromesso auf Antonio Gramscis antifaschistische Bündniskonzeption des Historischen Blocks berief, verzerrten schon diese Aspekte die historische Realität. Der Parteigründer hatte festgehalten, dass es sich bei solchen Bündnissen um einen "ausgeglichenen Kompromiss" handeln müsse, in dem notwendige Zugeständnisse seitens der KP "nicht das Wesentliche", nämlich "die entscheidende Rolle (...), die ökonomischen Aktivitäten der führenden Kraft" betreffen dürften, worunter er die Beseitigung der kapitalistischen Gesellschaft und die Herstellung einer sozialistischen Ordnung verstand. [9]

Zur Abwehr der faschistischen Gefahr in eine bürgerliche Regierung einzutreten, entsprach der politischen Situation. Gegen eine drohende linke Regierung hatten die USA als Besatzungsmacht, wie Faenza/Fini in "Gli Americani in Italia" schrieben, von Anfang an auch die Faschisten mobilisiert. Bereits im August 1944 erlaubten sie den Mussolini-Faschisten, eine Sammlungsbewegung Uomo Qualunque (Jedermann) zu gründen. Sie durfte im Juni 1946 an den Wahlen zur Verfassungsgebenden Versammlung teilnehmen und stellte mit 5,3 Prozent Wählerstimmen 30 Abgeordnete. Es war die Geburt der angeblichen Legitimität der so gewählten Faschisten. Aus Uomo Qualunque ging im Dezember 1946 das regelrecht als Mussolini-Nachfolgepartei gebildete Movimento Sociale Italiano (MSI) mit dem früheren Staatssekretär des "Duce" Giorgio Almirante als Nationalsekretär hervor. Mit der Ablehnung der USA der in dem Friedenvertrag mit Italien vom 10. Februar 1947 von der UdSSR geforderten Klausel, "niemals wieder faschistische Organisationen zu erlauben und Kriegsverbrechen nicht ungesühnt zu lassen", sanktionierten die USA ein weiteres Mal die Wiedergeburt des Mussolini-Faschismus.

Nach ihrem Zusammenschluss mit den Monarchisten 1972 stieg die Mitgliederzahl des MSI um 100.000 auf rund 400.000 an. Bei den Wahlen wurde das MSI im gleichen Jahr mit 8,7 Prozent im Parlament und 9,2 im Senat viertstärkste Partei. 1973/74 scheiterten faschistische Versuche, mit italienischen Truppenteilen und NATO-Unterstützung ein Regime nach dem Vorbild in Chile zu errichten. Im Januar 1977 rief der MSI-Parteitag zu "einer chilenischen Lösung für Italien" auf, die in Washington offen unterstützt wurde.

Es fehlten jegliche konkrete Vereinbarungen, wie dieser Gefahr Einhalt geboten werden sollte. Es hätte beispielsweise darum gehen müssen, das in der Verfassung festgeschriebene Verbot der Wiedergründung der Mussolini-Partei in Gestalt des MSI durchzusetzen, den Staatsapparat, besonders Armee und Geheimdienste, von faschistischen Elementen zu säubern, ein Verbot der offen betriebenen faschistischen Propaganda, darunter Aufrufe zum Sturz der verfassungsmäßigen Ordnung, wie sie das MSI unter der Losung einer "chilenischen Lösung" für Italien betrieb, zu erlassen. Nichts davon geschah jedoch.

Verhängnisvoll war, dass Berlinguer erklärte, nicht nur die Bündnisverpflichtungen Italiens zu respektieren, sondern obendrein bekundete, die NATO eigne sich unter bestimmten Voraussetzungen als "Schutzschild" eines italienischen Weges zum Sozialismus. [10] Die IKP verbreitete intern, das solle vor allem die Amerikaner beruhigen, praktisch aber verschleierte bzw. beförderte es das Vorgehen der Gegner des Compromesso - der reaktionären USA-Kreise und ihrer italienischen Partner sowie ihrer Geheimdienste und der faschistischen Putschloge Propaganda Due (P2). Ihr führender Vertreter war der rechte DC-Politikers Giulio Andreotti, den die IKP dann im März 1978 auch noch als Premier der Kompromiss-Regierung akzeptierte, der ihre Regierungsbeteiligung zu Fall brachte.


Fußnoten:

[1] Ausgaben 28. Sept, 5. und 12. Okt. 1973.

[2] Der DC mit Sozialisten und Republikanern.

[3] Unita, 12. Nov. 1971.

[4] Unita, 14. März 1972.

[5] Almanacco PCI, Rom 1976, S. 30.

[6] Chiarante, S. 121 ff., Leonhard, S. 205 ff..

[7] Togliatti, Bericht an den VIII. Parteitag (1956) in: Reden und Aufsätze, Berlin/DDR 1977, S. 430.

[8] Claudin, Zukunft des Eurokommunismus, Berlin/West 1978, S. 107.

[9] Gramsci. Gefängnishefte, Turin 1975, S. 1551.

[10] "Corriere della Sera", 15. Juni 1976.

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Quelle:
© 2018 by Gerhard Feldbauer
Mit freundlicher Genehmigung des Autors


veröffentlicht im Schattenblick zum 24. September 2018

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