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MEMORIAL/234: Huldrych Zwingli, der radikale Schweizer Reformator (Gerhard Feldbauer)


Huldrych Zwingli, der radikale Schweizer Reformator

Vorkämpfer der bürgerlich-republikanischen Umgestaltung der Eidgenossenschaft
Er brach auch mit dem Zölibat

von Gerhard Feldbauer, 7. Oktober 2021



Abbildung: Hans Asper, Public domain, via Wikimedia Commons

Der Zürcher Reformator Ulrich (Huldrych) Zwingli (1484-1531), porträtiert von Hans Asper
Abbildung: Hans Asper, Public domain, via Wikimedia Commons

Die Enthüllungen über 330.000 Missbrauchsopfer in Frankreich lenken dieser Tage erneut den Blick auf die anhaltenden Sexualverbrechen der katholischen Kirche. Die Dunkelziffern dürften nach Experten-Meinungen weltweit in die Millionen gehen. Ihnen Einhalt zu gebieten erfordert, das der Natur widersprechende Zölibat aufzuheben, was der Vatikan bis heute verweigert. Mit ihm brachen bereits die Kämpfer der Reformation vor fünf Jahrhunderten, indem sie auch die Ehe eingingen. Neben Thomas Müntzer ist hier Huldrych Zwingli zu nennen, an dessen Todestag, den 11. Oktober 1531, erinnert werden soll.

Der am 1. Januar 1484 in Wildhaus (Kanton St. Gallen) geborene Huldrych Zwingli gehörte zu den entschiedensten Führern der protestantischen Bewegung Europas, die beispielsweise in Deutschland in den Bauernkriegen in eine frühbürgerliche Revolution mündete. Als Feldprediger begleitete er die revolutionären Truppen in die Schlachten. Am 11. Oktober 1531 fiel er bei Kappel.

Zwingli, dessen eigentlicher Vorname Ullrich lautete, wuchs im sozialen und politischen Umfeld der im 15. Jahrhundert von verschiedenen Volksschichten getragenen reformatorischen Bewegung auf. Vordergründig ging es darum, die katholische Kirche in einem Teil Europas in eine reformierte anglikanische, lutherische oder kalvinistische umzugestalten. Die tieferen Ziele der Bewegung, die auch in der Schweiz ihrem Charakter nach Züge revolutionärer frühbürgerlicher Erhebungen annahm, bestanden jedoch darin, grundlegende gesellschaftliche Veränderungen herbeizuführen. Dafür gab es in der Schweiz eine Reihe günstiger Bedingungen, die in anderen Ländern so meist nicht existierten. Die Feudalverhältnisse waren relativ unterentwickelt; die Form der Marktgenossenschaft war erhalten geblieben; eine starke Schicht freier Bauern hatte sich herausgebildet; in den Stadtkantonen Zürich, Basel und Bern waren bereits starke Zentren des Zunfthandwerks (Weberei) entstanden; es existierte ein ausgedehnter Fernhandel.


Abbildung: Unknown author, Public domain, via Wikimedia Commons

Gründungszeremonie der Universität Basel am 4. April 1460 im Basler Münster
Abbildung: Unknown author, Public domain, via Wikimedia Commons

Das entwickelte städtische Bürgertum, aber auch Grundbesitzer forderten im Interesse der Stärkung ihrer wirtschaftlichen Positionen und ihrer politischen Eigenständigkeit, die Eidgenossenschaft stärker zu zentralisieren und die Machtstellung der Kirche zu beseitigen. In den nordschweizerischen Städten, an ihrer Spitze Basel mit seiner 1459 gegründeten Universität, entstanden Zentren des Buchdrucks und auf dieser Basis der Humanismus.

In Basel und Bern besuchte Zwingli, Sohn eines Bauern und Amtmannes, die Schule, studierte anschließend in Basel und Wien von 1498 bis 1506 Theologie und promovierte zum Magister. Danach hat er in Glarus zehn Jahre ein Pfarramt inne und war bis 1518 im Wallfahrtsort Maria-Einsiedeln tätig und von 1519 an Leutpriester am Großmünster in Zürich. Als Feldprediger nahm er 1513 und 1515 an den Schlachten von Novara bzw. Marignano (heute Melegnano) gegen die französischen Truppen in Norditalien teil.

Stand Zwinglis Wirken zunächst unter dem Einfluss der lutherischen Bewegung, wurde er jedoch bereits zu dieser Zeit besonders durch den Humanismus des Erasmus von Rotterdam geprägt, der sich 1517 und 1528 in Basel aufhielt. Zu einem engen Weggefährten wurde ihm der Mediziner, Philosophieprofessor und Historiker Joachim von Watt (latinisiert Vadianus genannt), der in St. Gallen als Stadtarzt arbeitete, dort zum Magistratsmitglied und 1526 zum Bürgermeister berufen wurde.


Abbildung: Condé Museum, Public domain, via Wikimedia Commons

Szene aus der Schlacht von Marignano (1515) - Maître à la Ratière zugeschrieben
Abbildung: Condé Museum, Public domain, via Wikimedia Commons

Im Rahmen heftiger sozialer und politischer Auseinandersetzungen begann unter Führung Zwinglis 1523 in Zürich die Schweizer Reformation, die sich in den nächsten Jahren auf andere Stadtkantone ausbreitete. Während in Zürich das Patriziertum entmachtet wurde, erhoben sich die Bauern in der Nordschweiz, erkämpften die Aufhebung der Leibeigenschaft und des kleinen Zehnten. Durch seine erste und zweite Disputation (Januar und Oktober 1523) gestaltete Zwingli Zürich zum Zentrum der kirchlichen, politischen und sozialen Neuordnung der Eidgenossenschaft. Die Schweizer Reformation strahlte vor allem auf Süddeutschland und Tirol aus. Der Bauernführer Michael Gaismair verfasste 1526 in seinem Exil in Graubünden auf der Grundlage der Lehren Zwinglis seine "Tiroler Landesordnung" und führte im selben Jahr die Bauern des Alpenlandes zu einem neuen Aufstand.

Nach der zweiten Disputation Zwinglis begann die Durchführung der Reformation; der Züricher Stadtrat entmachtete die Kirche und übernahm ihre Aufgaben. Zwingli verkündete als Ziel, alles zu beseitigen, was nicht aus der Heiligen Schrift zu begründen ist: Darunter die Abnahme der Heiligenbilder (1524), die Aufhebung der Klöster (1525), die Abschaffung der Prozession, des Orgelspiels und des Gemeindegesangs, der Firmung und der letzten Ölung, die Beschränkung der Feiertage, die Begründung des Almosenamtes, Abendmahlsfeier nur an vier Sonntagen des Jahres am weißgedeckten Tisch mit Brotbrechen und Kelchnahme. An die Stelle des Stiftskapitels am Großmünster trat die Prophezei (Bibelauslegung in wissenschaftlichen Arbeitsgemeinschaften). Zu Beginn der kirchlichen Reformen brach Zwingli mit dem Zölibat und ging 1524 mit Anna Reinhard die Ehe ein.


Abbildung: Unknown author, Public domain, via Wikimedia Commons

Erste Zürcher Disputation 1523 im alten Rathaus - der Zürcher Stadtrat lässt in aller Öffentlichkeit disputieren, welche Religion die "richtige" sei
Abbildung: Unknown author, Public domain, via Wikimedia Commons

Zwinglis theologisches Wirken war rational geprägt und auf das gesellschaftliche städtische Leben ausgerichtet, es beeinflusste maßgeblich den bürgerlich-republikanischen Charakter der Schweizer Reformation. Wenn er die Bedeutung der Arbeit für die Gesellschaft hervorhob, war er seiner Zeit sozial weit voraus. Daran änderte auch die zeitbezogene Begründung nichts, dass sie Gottes Gnade herbeirufe. Entschieden bekämpfte er die Leibeigenschaft und den Söldnerdienst in fremden Heeren, das sogenannte Reislaufen, das 1522 in Zürich verboten wurde. Die von Zwingli herbeigeführten sozialen, wirtschaftlichen und politischen Veränderungen entsprachen den Bedürfnissen des aufsteigenden Bürgertums.

Sowohl in seinen kirchlichen als auch seinen politisch-sozialen Reformen war Zwingli radikaler als Luther, was offen in dem Marburger Religionsgespräch 1529 zum Ausdruck kam. Während Luther die leibhaftige Gegenwart Christi in den Abendmahlssegmenten (Brot und Wein) vertrat, fasste Zwingli diese nur symbolisch auf. Welten trennten Zwingli, der die Reformationstruppen in die Schlachten begleitete und sich auf die Seite der aufständischen Bauern stellte, von dem Wittenberger, der 1525 mit seiner Schrift "Wider die räuberischen und mörderischen Rotten der Bauern" diesen in den Rücken fiel.


Abbildung: Toksave, Public domain, via Wikimedia Commons

Marburger Religionsgespräch 1529 zwischen Luther (2.v.l.) und Zwingli (4.v.l.) - Relief von Otto Münch auf dem Zwingli-Portal des Zürcher Grossmünsters
Abbildung: Toksave, Public domain, via Wikimedia Commons

1529 verbündete sich die klerikal-katholische Reaktion der Schweiz mit der Österreichs gegen Zürich. 1531 erlitt das Revolutionsheer in der Schlacht bei Kappel, in der Zwingli fiel, eine Niederlage. Der Tod des radikalen Reformators engte die Reformen ein und erleichterte die katholischen Restaurationsbestrebungen. Die konfessionelle Spaltung blieb bestehen, die Umsetzung tiefergehender historisch-progressiver Pläne Zwinglis zu einer staatspolitischen Umgestaltung der Eidgenossenschaft wurde verhindert.

Seine Anhänger, die sich nach seinem Tod Zwinglianer nannten, vereinigten sich 1549 mit denen Jean Calvins, der nach seiner Ausweisung aus Frankreich 1536 vor allem in Genf wirkte, zu den sogenannten Reformierten.


Graphik: Marco Zanoli, CC BY-SA 4.0 [https://creativecommons.org/licenses/by-sa/4.0], via Wikimedia Commons

Die Schweizer Eidgenossenschaft zur Zeit des Zweiten Kappelerkrieges 1531 (orange - katholische Partei, braun - reformierte Partei, grün - neutral-vermittelnde Seite)
Graphik: Marco Zanoli, CC BY-SA 4.0 [https://creativecommons.org/licenses/by-sa/4.0], via Wikimedia Commons

Zwingli hinterließ umfangreiche Schriften, die erstmals ab 1905 in 14 Bänden zusammengefasst erschienen. Als sein Hauptwerk gilt "De vera ac falsa religione" (über die wahre und die falsche Religion), das bereits zu seinen Lebzeiten 1525 erstmals in Zürich erschien.

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Quelle:
© 2021 by Gerhard Feldbauer
Mit freundlicher Genehmigung des Autors

veröffentlicht in der Online-Ausgabe des Schattenblick zum 26. Oktober 2021

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