Schattenblick → INFOPOOL → GEISTESWISSENSCHAFTEN → GESCHICHTE


MEMORIAL/239: Zum Gedenken an den ermordeten Schriftsteller und Regisseur Pier Paolo Pasolini (Gerhard Feldbauer)


Ein Schriftsteller des Jahrhunderts

Zum 100. Geburtstag von Pier Paolo Pasolini am 5. März

von Gerhard Feldbauer, 2. März 2022



Foto: Unknown author, Public domain, via Wikimedia Commons

Pier Paolo Pasolini bei Filmaufnahmen in Rom
Foto: Unknown author, Public domain, via Wikimedia Commons

Die Begegnungen mit Pier Paolo Pasolini gehören zu den unvergesslichen meiner Zeit als Auslandskorrespondent (1973-1979) in Italien. Er war eine faszinierende Persönlichkeit. Sein hageres Gesicht mit den asketischen Zügen unter dem schwarzen Haar und dem durchdringenden Blick prägte sich unauslöschlich ein. Seine politischen Gedanken, die er streitbar und manchmal mit einem Anflug von Besessenheit darlegte, waren von einer Scharfsinnigkeit, die kaum einer seiner Genossen in der IKP und schon gar nicht in der Führung aufzuweisen hatte. Das bürgerliche Staatsmodell, zu dem sich die IKP im "Historischen Kompromiss" bekannte, sah er "nur als eine Scheindemokratie" und in der gescheiterten Studentenrevolte von 1968 "ein kurzes bürgerliches Strohfeuer".

Die letzte Begegnung mit ihm hatte ich wenige Monate vor seinem Tod im November 1975. Natürlich kannte ich seine Werke als Schriftsteller und Regisseur. Aber ich war erstaunt, wie fundiert er sich zu den 1973/74 bekannt gewordenen neuen faschistischen Putschversuchen äußerte. "Ich weiß die Namen der Verantwortlichen für das, was man Putsch nennt", hatte ihn der Mailänder "Corriere della Sera" am 14. November 1974 zitiert. Er charakterisierte das als "ein System der Herrschaftssicherung" und verwies auf die "Unterstützung der amerikanischen CIA" und die "der griechischen Obristen und der Mafia" und vergaß auch den "11. September 1973 mit dem Putsch in Chile" nicht.

Mitte der 50er Jahre wurde Pasolini als Schriftsteller mit seinen Büchern "Ragazzi di Vita" (1955) und "Una Vita violenta" (1959) sowie durch seine ersten Filme "Accatone - Wer nie sein Brot mit Tränen aß" (1961) und "Mamma Roma" (1962 mit Anna Magnani) als Regisseur rasch auch international bekannt. Er schrieb Gedichte und Essays in bildhafter, lebendiger Sprache, verfasste Streitschriften (Freibeuterbriefe, Lutherbriefe, Paulusbriefe), die seine kommunistische Gesinnung bezeugten, aber auch seine Sicht auf religiöse Gefühle ausdrückten, was auch seine verfilmte Matthäus-Evangelisation zeigte. Pasolini hat seine Homosexualität nie verheimlicht.


Foto: Unknown author, Public domain, via Wikimedia Commons

Pier Paolo Pasolini (Mitte) mit seinen Freunden Luciano Serra (r.) und Francesco Leonetti (l.) 1937 in Bologna
Foto: Unknown author, Public domain, via Wikimedia Commons

In der Lyrik sind "Gramscis Asche" (1957) und "Die Nachtigall der katholischen Kirche" (1958) zu nennen, von den Romanen "Der Traum von einer Sache" (1962) und "Ali mit den blauen Augen" (1965). In der Bundesrepublik erschienen viele seiner Werke bei Wagenbach.

In seinem letzten Film "Salò oder die 120 Tage von Sodom" gestaltete er nach Marquis de Sade fiktiv die grausamen Zustände in einem Gefangenenlager in Salò, dem Sitz des Mussolini-Regimes am Gardasee unter der Okkupation der Hitlerwehrmacht. Den heftig umstrittenen Film prägten Resignation und Lebensekel.

In der Nacht zum 2. November 1975 wurde Pasolini ermordet. Abends war er mit einem Freund zum Essen verabredet, seine Leiche wurde allerdings am Strand von Ostia bei Rom gefunden. Die kriminalistischen Untersuchungen ergaben, dass Pasolini mehrfach mit seinem eigenen Wagen überfahren wurde, es wurden allerdings keine Reifenspuren an der Leiche festgestellt. Vielmehr wiesen die Verletzungen auf einen stumpfen Metallgegenstand als Waffe hin. Viele Tatortspuren wurden durch unsachgemäße Ermittlungsarbeit vernichtet.

1979 wurde der zum Zeitpunkt des Mordes siebzehnjährige Pino Pelosi wegen dieses Mordes zu neun Jahren und sieben Monaten verurteilt. Er gestand die Tat und verbüßte seine Strafe bis 1982.

Pelosi sagte 2005 im Widerspruch zu seinem anfänglichen Geständnis, Pasolini auf Anweisung verschiedener, nicht identifizierter Auftraggeber umgebracht zu haben. Pelosi gab an, er und seine Familie seien damals mit dem Tode bedroht worden für den Fall, dass er die wahren Auftraggeber bei dem Prozess belaste. Ebenfalls 2005 widerrief Pelosi sein Geständnis gegenüber Journalisten komplett und erklärte, Unbekannte hätten Pasolini getötet.

Viele Verdächtigungen und Mutmaßungen wurden geäußert, keine einzige ließ sich beweisen. Freunde und Mitglieder der Familie von Pier Paolo Pasolini äußerten in den folgenden Jahren, dass er Opfer von Rechtsradikalen geworden sei. Pasolini sei bei der Abfassung des unvollendeten Romans "Petrolio" auf die kriminellen Machenschaften der staatlichen Erdölgesellschaft ENI gestoßen und deshalb umgebracht worden.


Graphik: Origafoundation, CC BY-SA 3.0 [https://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0], via Wikimedia Commons

Pasolini - gezeichnet von Graziano Origa (1976)
Graphik: Origafoundation, CC BY-SA 3.0 [https://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0], via Wikimedia Commons

Der Regisseur Marco Tullio Giordana stellte in seinem dokumentarischen Spielfilm "Pasolini, ein italienisches Verbrechen", 1996 auf dem Festival in Toronto uraufgeführt, die Tat als einen politisch motivierten Mord dar. Als 30 Jahre nach seinem Tod die Ermittlungen neu aufgenommen wurden, schrieb auch die "Neue Zürcher Zeitung" am 12. November 2005, "Faschismus, Mafia und Geheimdienste" würden als "mögliche Täter identifiziert". Eine späte Erkenntnis, denn schon in den 70er Jahren war bekannt geworden, dass der Name Pasolinis zusammen mit anderen linken Schriftstellern, darunter Alberto Moravia, auf den Mordlisten der faschistischen Putschisten stand.

In der IKP stand man Pasolini wegen seiner kritischen Haltung zum Compromesso storico mit der Democrazia Cristiana, aber auch seiner Homosexualität distanziert gegenüber, während er trotz seiner Vorbehalte immer zu ihr stand. Diese Hinwendung war der Liebe eines Kindes vergleichbar, das sich nach Zuneigung sehnt. Im Leben oft nicht erwidert, wurde sie ihm im Tode zuteil. Unter den Trauergästen, die zu Tausenden zu seinem Begräbnis kamen, befanden sich viele Parteimitglieder, an ihrer Spitze Enrico Berlinguer. Alberto Moravia sagte in seiner Trauerrede: "Jedes Jahrhundert werden nur drei oder vier Dichter geboren, und wir haben einen Dichter verloren."

*

Quelle:
© 2022 by Gerhard Feldbauer
Mit freundlicher Genehmigung des Autors

veröffentlicht in der Online-Ausgabe des Schattenblick zum 12. März 2022

Zur Tagesausgabe / Zum Seitenanfang