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MEMORIAL/248: Bürgerliche Revolution - der Tay Son-Aufstand in Vietnam vor 250 Jahren (Gerhard Feldbauer)


Kaum bekannt

Vor 250 Jahren begann in Vietnam der Tay Son-Aufstand
Mit ihm erlebte das vorkoloniale Vietnam von 1772-1802 eine bürgerliche Revolution

von Gerhard Feldbauer, 7. Juli 2022



Abbildung: Internet Archive Book Images, No restrictions, via Wikimedia Commons

Eine Gruppe Vietnamesen auf dem Land - Darstellung von William Alexander, der im Frühjahr 1793 auf dem Weg nach China in Vietnam einen Zwischenstopp einlegte
Illustration aus John Barrow: A Voyage to Cochin China, Cadell & Davies, London 1806, S. 362
Abbildung: Internet Archive Book Images, No restrictions, via Wikimedia Commons

Die Sozialistische Republik Vietnam ist für kapitalistische Konzerne ein lukratives Terrain für Investitionen großen Umfangs. 2020 war es mit einem Handelsvolumen von 13,3 Milliarden Euro größter EU-Handelspartner. Abgesehen davon, dass sie mit der Kooperation mit dem einen sozialistischen Weg verfolgenden Land den kapitalistischen Sektor stärken wollen, argumentieren ihre Vertreter nicht selten, dadurch werde Vietnam auch mit den zivilisatorischen Errungenschaften der bürgerlichen Gesellschaft, die es selbst nicht hervorbrachte, vertraut gemacht. Eine Argumentation, die an der historischen Realität vorbeigeht und von der Unkenntnis seiner Geschichte zeugt. Vietnam befand sich zur Zeit der 1789 einsetzenden Französischen Revolution an der Schwelle zu einer zwar etwas verspäteten, aber entwicklungsfähigen Etappe einer bürgerlichen Gesellschaft. 17 Jahre vor dem Pariser Sturm auf die Bastille brach ein Bauernaufstand aus, der ausgeprägte Züge einer bürgerlichen Revolution aufwies. Es handelte sich um den 1772 begonnenen Tay Son-Aufstand, der eine qualitativ neue Etappe gesellschaftlicher Entwicklung markierte.

Einer der übelsten Ignoranten dieser historischen Weisheit war übrigens der US-General Curtis LeMay, der nach Beginn der Luftangriffe auf die Demokratische Republik Vietnam 1964 verkündet hatte, Nordvietnam in "die Steinzeit zurückzubomben". Dabei blickte das vietnamesische Volk auf eine Jahrtausende alte Geschichte zurück, in deren Verlauf es die Steinzeit schon lange hinter sich gelassen hatte. Die Jahrhunderte langen Traditionen des Unabhängigkeitskampfes gegen einheimische Ausbeuter und ausländische Eroberer bildeten eine der Säulen der nicht zu brechenden Widerstandskraft des vietnamesischen Volkes, die zu einer Grundlage des Sieges 1975 auch im Krieg gegen die USA wurden. Ich möchte diesen historischen Prozess in dem folgenden Beitrag etwas ausführlicher darlegen und mit einem kurzen Blick in seine Geschichte beginnen.

Die Epoche des Entstehens Vietnams, das übersetzt "Land im Süden" heißt, erfolgte in häufig wiederkehrenden Perioden der Auseinandersetzung mit den in Vietnam einfallenden Heeren der verschiedenen China beherrschenden feudalen Dynastien, darunter seit dem 11. Jahrhundert mongolische und seit dem 15. Jahrhundert die Mandschu-Kaiser. [1] Die Zeit des Kampfes gegen diese Expansionen ist gleichzeitig geprägt von der Übernahme der hochentwickelten wirtschaftlichen, sozialen und gesellschaftlichen Organisation des nördlichen Nachbarn. Der vietnamesische Feudalismus entstand aus urgesellschaftlichen Strukturen und stand zeitweilig unter chinesischer Vorherrschaft. Hier einige herausragende Beispiele, die zum lebendigen Geschichtsbild gehören.


Abbildung: Unknown author, Public domain, via Wikimedia Commons

Ein Mandschu und Offizier der Armee der Qing in traditioneller Kriegerpose (Ende 18. Jh.)
Abbildung: Unknown author, Public domain, via Wikimedia Commons

111 vor unserer Zeit eroberte die chinesische Han-Dynastie das heutige Nordvietnam. 42 bis 39 standen die legendären Schwestern Trung Trac und Trung Nhi aus der Familie eines Stammesfürsten im Delta des Roten Flusses an der Spitze eines Aufstandes gegen die Eindringlinge. Als die Schwestern erkannten, dass ihnen der Sieg verwehrt bleibt, töteten sie sich selbst. In Hanoi ist ihnen eine Pagode gewidmet.


Von der Urgesellschaft in die Feudalherrschaft

Im 6. Jahrhundert war der Widerstand gegen die ausländischen Eindringlinge erfolgreicher. Der vietnamesische Fürst Ly Bon nutzte die Machtkämpfe innerhalb der rivalisierenden Dynastien und jagte die Eroberer 544 aus dem Lande. Es entstand die erste unabhängige vietnamesische Feudaldynastie der Ly mit dem Staat Van Xuan, "Zehntausende Frühlinge", der sich jedoch nur ein halbes Jahrhundert behaupten konnte. Unter der seit dem 7. Jahrhundert China beherrschenden Tang-Dynastie wurde Vietnam erneut besetzt.

Im 9. Jahrhundert wurden die Eroberer durch den Feudalfürsten Ngo Quyen aus Vietnam vertrieben. Nach seinem Tod bedrohten rivalisierende Fürsten die Einheit, die ein der Chronik nach aus einem Bauerngeschlecht stammender Dinh Bo Link beendete. Er rief sich zum König aus und regierte 967-979. Es war die Geburtsstunde der einheitlichen vietnamesischen Monarchie, die sich auf große Grundherrschaften gründete. Auf dem Lande entstand die Schicht der reichen Notabeln, der faktisch der Boden, formell Gemeineigentum der Dörfer, gehörte. In ihrer Struktur orientierte sich die vietnamesische Monarchie an der des chinesischen Reiches. Einrichtungen wie das Lehen oder die Bindung der Leibeigenen an das Dorf kannte Vietnam jedoch nicht.

Als ideologische Grundlage setzte sich, ähnlich wie im Abendland das Christentum, der Buddhismus als Staatsreligion durch. Der Reisanbau verlangte ein zentral geleitetes Damm- und Bewässerungssystem sowie seine ständige Instandhaltung, was eine entsprechende Staatsmacht erforderte. Sicher kann man von frühen Entstehungsformen der Nation sprechen. Auch in den Zeiten der Unabhängigkeit schickten die vietnamesischen Könige dem Kaiser von China jedoch regelmäßig symbolische Geschenke (Elfenbein, Gold, Zimt und andere Kostbarkeiten), mit denen sie freundschaftliche Beziehungen und gemeinsame Interessen betonen wollten. Auf der Grundlage des Unabhängigkeitsdranges haben ein hoher Grad von Kompromissbereitschaft und das Streben, mit den Nachbarn in Frieden zusammenzuleben, bis in die Gegenwart einen hohen Stellenwert. Rachsucht ist der Mentalität der Vietnamesen fremd. Das spiegelt sich heute auch in der Haltung der Staats- und Parteiführung selbst gegenüber dem einstigen Kriegsgegner USA wider.


Abbildung: Unknown author, Public domain, via Wikimedia Commons

Der vietnamesische Nationalheld Tran Hung Dao (1228-1300)
Abbildung: Unknown author, Public domain, via Wikimedia Commons


Das Heer des Enkels Dschingis Khans verjagt

Die Expansionen aus dem Norden brachten einen starken Unabhängigkeitsdrang des vietnamesischen Königtums hervor. 981 wurde eine erneute Invasion von dem Heerführer Le Hoan zurückgeschlagen. Im 13. Jahrhundert wehrten die Könige der Tran-Dynastie dreimal die Angriffe der Mongolen ab, die in dieser Zeit China beherrschen. Darunter fällt der Sieg des vietnamesischen Nationalhelden Tran Hung Dao, der 1284 ein unter dem Enkel Dschingis Khans eingefallenes Heer verjagte. Dieser Erfolg gelang ihm, weil er es verstand, für seinen Feldzug die Bauernmassen zu mobilisieren. Er wird zu den legendären, mit dem Volk verbundenen Herrschern gerechnet, wovon zeugt, dass General Vo Nguyen Giap während des Kampfes gegen die französischen Kolonialisten eine große Offensive der Volksarmee unter seinem Namen führte.


Frühe Entstehungsformen der Nation

Um die Jahrtausendwende begann die Expansion der vietnamesischen Feudalherren nach Süden bis hinunter in das bis dahin fast unbesiedelte Mekongdelta. Auf ihrem Zug nach Süden stießen sie in Zentralvietnam auf die Herrscher des Königreichs der Cham (territorial das heutige Kambodscha). Während deren Herrschaft auf einer Sklavenhalterordnung beruhte, war der historische Prozess in Vietnam - in gewisser Weise mit der Entwicklung in Germanien vergleichbar - im Wesentlichen von der Urgemeinschaft zum Feudalismus erfolgt. Das Reich der Cham, die ihrerseits nach Nordvietnam vorstoßen wollten und zeitweilig Hanoi eroberten, wurde im 15. Jahrhundert von den Vietnamesen zerschlagen. Ihr Sieg beruhte auf der überlegenen feudalen Gesellschaftsformation gegenüber der Sklavenhalterordnung. Außerdem fiel es den vietnamesischen Königen und Fürsten nicht schwer, für ihre Eroberungszüge die Bauern zu gewinnen, da sie ihnen günstigere Lebensbedingungen in dem eroberten Land versprachen, die ihnen zunächst auch eine Zeit lang gewährt wurden. Aus früheren Sklaven der Cham wurden leibeigene Bauern, deren Leben sich zunächst ebenfalls erträglicher gestaltete.


Foto: Nguyen Thanh Quang, CC BY-SA 3.0 [http://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/], via Wikimedia Commons

Statue des Großgrundbesitzers Le Loi in der Hauptstadt der Provinz Thanh Hoa
Foto: Nguyen Thanh Quang, CC BY-SA 3.0 [http://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/], via Wikimedia Commons


Beginn der Bauernaufstände

Frühzeitig, bereits Ende des 14. Jahrhunderts, begannen vor allem im Norden die Erhebungen der vietnamesischen Bauern gegen einheimische Feudalherren. An ihrer Spitze standen häufig buddhistische oder taoistische Priester, die mit den volkstümlichen Formen ihrer Religion der sozialen Unzufriedenheit Ausdruck verliehen und sich gegen den offiziellen staatsreligiösen Konfuzianismus stellten. 1391 drangen aufständische Bauern unter dem Bonzen Su On auf Hanoi vor und griffen es an. 1418 stellt sich der Großgrundbesitzer Le Loi in Nghe An [2] an die Spitze eines Bauernaufstandes und vertrieb die den einheimischen Feudalherren aus China zu Hilfe kommenden Ming-Truppen. 1427 eroberte er Hanoi und ließ sich ein Jahr später zum König ausrufen. Im Interesse seiner Staatsfestigung teilte er die Grundherrschaften unter die Bauern auf. 1516 erhoben sich in Hai Duong, unmittelbar vor den Toren Hanois, unter dem Bonzen Tran Cao die Bauern gegen die Feudalmacht. 1740 folgten neue Bauernerhebungen im alten Aufstandsgebiet von Hai Duong und drei Jahre später ein Aufstand in Nghe An, den die Fürsten erst 1751 niederschlagen konnten.


Vietnams bürgerliche Revolution

Der 1772 begonnene Tay Son-Aufstand markierte eine qualitativ neue Etappe gesellschaftlicher Entwicklung. [3] Die Erhebung erhielt ihren Namen nach den Bergen im westlichen Zentralvietnam, wo sie begann. An der Spitze der revolutionären Kämpfe standen die drei Brüder Nguyen (Nhac, Lu und Hue). Vietnam bestand zur Zeit der Tay Son im Wesentlichen bereits in seinen heutigen Grenzen und galt als eines der entwickelten Länder Südostasiens. Das Feudalsystem war im Inneren jedoch von einer tiefen Krise erfasst. Feudalherren, Mandarine und Notabeln raubten den Bauern den letzten Boden und stürzten sie immer tiefer ins Elend. Die bäuerlichen Wirtschaften, Handwerk und Gewerbe stagnierten, die sich entwickelnde Handelsbourgeoisie konnte sich nicht entfalten. Hinzu kam, dass zwei rivalisierende Dynastien, die Nguyen und die Trinh, den Zentralstaat in blutigen Bruderkriegen in ein nördliches und südliches Kaisertum gespalten hatten, was das Entstehen neuer Produktivkräfte zusätzlich hemmte.

Unter diesen Bedingungen entfaltete sich der Aufstand zu einer großen, das ganze Land erfassenden Bauernerhebung, in der Kreise der jungen Handelsbourgeoisie, des Handwerks und Gewerbes eine wichtige Rolle spielten und an der Vertreter der Religionen des Buddhismus und Taoismus teilnahmen. Die Brüder Nguyen entstammten selbst der Handelsbourgeoisie bzw. dem Kleinbürgertum. Außer von der verarmten Landbevölkerung erhielten die Tay Son von der Cham-Minderheit, von verschiedenen Bergvölkern und sogar chinesischen Geschäftsleuten, die sich von den harten Steuergesetzen drangsaliert fühlten, Unterstützung. Zeitweise schlossen sich ihnen regionale Feudalfürsten an. [4]


Boston Tea-Party in Saigon

Der Aufstand stürzte die beiden Herrscherhäuser und stellte die Einheit des Staates wieder her. 1776 nahmen die Aufständischen Saigon ein, das nach wechselvollen Kämpfen 1783 fest in ihrer Hand war. Eine der ersten Maßnahmen der Nguyen nach der Einnahme der Stadt war, dass sie die dort lagernden Waren der chinesischen Händler ins Meer werfen ließen - ein sicherer Beweis für die Wahrnehmung der Interessen der eigenen Kaufleute. Fast zur gleichen Zeit kam es in Boston zu ähnlichen Ereignissen: Die gegen das britische Kolonialjoch kämpfenden Amerikaner warfen dort englischen Tee in den Ozean - was unter dem Namen Boston-Tea-Party in die Geschichte einging.

Eine andere historische Parallele war, dass - ähnlich wie die Korsaren unter Königin Elisabeth - vietnamesische Kapitäne mit Billigung und auch regelrechten Patenten der Tay Son ihre Handelsfahrten mit einträglicher Piraterie verbanden. In Peking klagte man zu dieser Zeit immer wieder darüber, dass die vietnamesische Flotte die Küsten Südchinas ansteuerte und plünderte. [5] 1790/91 drangen die Truppen der Tay Son nach Laos vor und eroberten zeitweise die Königsresidenz Luang Prabang und die Hauptstadt Vientiane. [6]


Abbildung: William Alexander, Public domain, via Wikimedia Commons

Schiffe in einer Flussmündung an der vietnamesischen Küste - Darstellung von William Alexander von 1793
Illustration aus John Barrow: A Voyage to Cochin China, Cadell & Davies, London 1806, S. 375
Abbildung: William Alexander, Public domain, via Wikimedia Commons


Der Boden den armen Bauern

Die entscheidende revolutionäre Maßnahme der Nguyen war jedoch, dass sie die Ländereien der geflüchteten und mit ausländischen Feinden kollaborierenden Feudalherren konfiszierten und den Gemeinden mit der Verfügung übergaben, sie vor allem armen Bauern zur Nutzung zu überlassen. Damit machten sie die Massen der Bauern zur maßgeblichen Basis ihrer Herrschaft. Ebenso bedeutend waren weitere in der Wirtschaft, im Staatswesen, der Kultur und Bildung begonnene Reformen, die einen großen Schritt vorwärts auf dem Weg der Formierung der vietnamesischen Nation darstellten und dem Aufstand seinen Charakter als einer bürgerlichen Revolution verliehen.


"Sapeke der Rebellen"

Den wirtschaftlichen Aufschwung markierten im Norden der Beginn der Rohstoffförderung in über 100 Bergwerken, der Bau von Werkstätten für Waffen, die Errichtung von Papiermühlen und Druckereien. In für diese Zeit großen industriellen und kaufmännischen Zentren in Hanoi, Saigon, Bien Hoa und Fai Fo zeigten sich Vorstufen der kapitalistischen Produktion auf der Grundlage der freien Lohnarbeit. Ermöglicht wurde dieser Durchbruch vor allem durch die Einführung einer einheitlichen nationalen Währung, die im Volk noch lange nach dem Ende der Tay Son-Herrschaft "Sapeke der Rebellen" genannt wurde. Die Einführung der eigenen Währung diente den Tay Son auch als Basis ihres Herrschaftsanspruchs, da das Münzwesen dem Staat unterstand. Von der Bevölkerung wurde auch sehr begrüßt, dass die Tay Son ihre Münzen mit Kupfer prägten, während dafür früher Zink, das einen geringeren Materialwert besaß, verwendet wurde, wofür aber der gleiche Nennwert angegeben worden war. Das erforderliche Kupfer wurde durch Beschlagnahmen von Kultgegenständen in den feudalen Palästen, Tempeln und Klöstern, die generell aus Kupfer gefertigt waren, gesichert. [7]


Vietnamesisch Nationalsprache

Von großem Einfluss auf den geistig-kulturellen Werdegang der Nation war die Einführung des Vietnamesischen als Amtssprache an Stelle des aus der Besatzungszeit gültigen Chinesisch. Das langwierige Studium der chinesischen Schriftzeichen war bis dahin geistig-kultureller Grundpfeiler der vietnamesischen Feudalherrschaft.

Im Rahmen ihrer Bildungsreform strebten die Nguyen an, in jedem Dorf eine Schule zu errichten. Auch das vietnamesische National-Epos "Thuy Kiêu" von Nguyên Du [8], das erst nach der Tay Son-Herrschaft erschien, spiegelte den großen Einfluss dieser Volksbewegung auf die kulturelle Entfaltung der Nation wider. 1799 wurde ein "Historisches Amt" geschaffen, das den Auftrag erhielt, eine große Nationalgeschichte zu schreiben.


Abbildung: Nguyen Du, Public domain, via Wikimedia Commons

Eine Seite aus dem vietnamesischen Nationalepos "Die Geschichte der Kieu" (Truyen Kieu) von Nguyen Du
Abbildung: Nguyen Du, Public domain, via Wikimedia Commons


"Gleichheit aller Bewohner"

Herausragend schließlich die politische Forderung nach "Gleichheit aller Bewohner" des Landes und "Gleichheit in allen Dingen", worunter eine angestrebte soziale Gerechtigkeit zu verstehen war. Die Tay Son-Brüder traten der konterrevolutionären Propaganda der Feudalherren, die sie als "Räuber" und "Banditen" verketzerten, entgegen und verkündeten, dass sie keine "Räuber", sondern "Sendboten des Himmels, die der Gerechtigkeit zum Sieg verhelfen und das Volk von der Tyrannei des Königs und seiner Mandarine befreien", seien. Unter dem Volk, das die Verlogenheit der Feudalherren kannte, nannte man die Brüder Nguyen "tugendhafte und dem armen Volk gegenüber barmherzige Räuber".

Außergewöhnliche Leistungen vollbrachten die Tay Son auf militärischem Gebiet. [9] Nachdem das Feudalregime von den Aufständischen im Süden geschlagen worden war, rief es die thailändischen Feudalherrscher zu Hilfe. 1784 drang ein 50.000 Mann zählendes siamesisches Heer mit 300 Kriegsschiffen auf dem Mekong in Südvietnam ein. Auf dem My Tho, einem Nebenarm des Mekong, wurde die Armada im selben Jahr vernichtend geschlagen. Besonders antinational handelten die vietnamesischen Feudalherren, als sie schließlich die zu dieser Zeit in Peking herrschende Mandschu-Dynastie der Qing ins Land riefen. Im Herbst 1788 drangen sie mit einem 200.000 Mann zählenden Heer in Nordvietnam ein und besetzten Hanoi.


1789 - die Schlacht bei Hanoi

Nguyen Hue, der das militärische Kommando führte, ließ sich angesichts des Mandschu-Einfalls und des Verrats der einheimischen Feudalherren "um der Einigung der Nation willen", wie es in den Chroniken heißt, im Dezember 1788 vor dem Bauernheer unter dem Namen Quang Trung zum Kaiser des Reiches proklamieren. [10] Dann brach das 100.000 Kämpfer zählende Volksheer auf. Um den moralischen Faktor einer Schlacht zur Befreiung der Hauptstadt zu nutzen, entschloss sich Nguyen Hue, die feindliche Armee noch bei Hanoi anzugreifen. In sechs Tagen führte er seine Truppen mit Elefantenreiterei über eine Entfernung von fast 200 km vor die Tore der Hauptstadt. Außerdem ließ er hinter jedem Reiter zu Pferd noch einen Soldaten des Fußvolkes aufsitzen, so dass er für den Gegner völlig überraschend nicht nur früher als erwartet, sondern auch in voller Stärke eintraf. Der Marsch nach Hanoi war eine für den damaligen Stand der Kriegskunst in Asien beispiellose Leistung. Im Januar 1789 kam es zur Schlacht. Den Überraschungsmoment ausnutzend, stellte das Bauernheer die noch nicht zum Kampf formierten Mongolen zu unterschiedlichen Zeiten an drei verschiedenen Orten vor der Hauptstadt zum Kampf und schlug sie in die Flucht. Zehntausende der Fliehenden sollen im Roten Fluss ertrunken sein. Die Niederlage war so verheerend, dass der Hof von Peking Frieden schloss und die Tay Son anerkannte. [11]


Abbildung: Qing's official painter, Public domain, via Wikimedia Commons

Nguyen Quang Hien, der Neffe Nguyen Hue's, wird zu Friedensverhandlungen in Peking empfangen - Darstellung eines Qing-Hofmalers, vermutlich Mitte 1789
Abbildung: Qing's official painter, Public domain, via Wikimedia Commons


Dem Volk den Sieg verdankt

Nach der Verteidigung der nationalen Unabhängigkeit erließ Quang Trung folgende Proklamation an das Volk: "Ihr alle, ob mächtig oder gering, lebt seit mehr als zwanzig Jahren dank uns, den Brüdern Tay Son, und unserer Wohltaten. Wir wissen aber auch, dass wir unsere Siege in Nord und Süd der Hilfe des Volkes unserer Provinzen verdanken. In ihm haben wir tapfere Männer und fähige Beamte gefunden, so dass wir unseren Hofstaat gründen konnten. Überall, wo unsere Waffen waren, hielten die Feinde nicht stand."

Die Herrschaft der Tay Son währte fast 30 Jahre, von 1773 bis 1802. Diese frühbürgerliche Revolution scheiterte letztlich, weil die Bauern zwar ihre entscheidende Massenbasis bildeten, auf Grund ihrer sozialen Lage und Perspektive aber nicht ihre führende Kraft werden konnten. Kleinbürgertum und Handelsbourgeoisie, aus deren Reihen in Gestalt der Brüder Nguyen die Führer der Revolution hervorgingen, erwiesen sich insgesamt als nicht fähig, diese Aufgabe auszufüllen. In diese Rolle hätten sie hineinwachsen können, wenn zwei der drei Brüder nicht frühzeitig verstorben wären (Hue 1792, Nhac ein Jahr später), was über die Rolle von Persönlichkeiten in historischen Prozessen bzw. der Konsequenzen ihres Fehlens nachdenken lässt.


Abbildung: William Alexander, Public domain, via Wikimedia Commons

Tay Son-Soldat - Darstellung des britischen Malers William Alexander von 1793
Illustration aus John Barrow: A Voyage to Cochin China, Cadell & Davies, London 1806, S. 333
Abbildung: William Alexander, Public domain, via Wikimedia Commons


Die Rolle von Führerpersönlichkeiten

Nachfolger vom Format der verstorbenen Führer, besonders was deren volksverbundenen Charakter betraf, gab es nicht. Es kam im Gegenteil zu einer gewissen "feudalen Entartung" der Tay Son-Führung und zu einer Lockerung der Verbindung mit den Bauern, da die zu Beginn des Aufstandes eingeleitete soziale Umgestaltung, die Veränderung der Eigentumsverhältnisse zugunsten der Bauern, stagnierte.

Noch entscheidender als diese inneren Ursachen wirkten äußere: die aus Frankreich kommende Hilfe für die feudale Reaktion. Sie ging von kirchlichen Würdenträgern aus, die, wie in anderen Ländern auch, zu Wegbereitern der kolonialen Eroberung wurden. Mit der Annahme dieser Unterstützung bereitete die Feudalmacht indessen ihrer eigenen kolonialen Unterwerfung den Boden. Organisator dieser konterrevolutionären Aktivitäten war der einflussreiche Missionar Pigneau de Béhaine, der 1775 den Prinzen Canh, Sohn des gestürzten Nguyen Anh, mit nach Versailles nahm und mit ihm zwei Jahre später ein Abkommen über französische Hilfe gegen die Gewährung von, wie es zurückhaltend, aber mit den weitreichenden vertragsrechtlichen Konsequenzen dieser Zeit formuliert wurde, "Handelsvorteilen" schloss.


Mit Hilfe der französischen Konterrevolution

Béhaine stellte 1790 eine "Freiwilligenexpedition" aus adligen Emigranten, Abenteurern und Deserteuren zusammen, die man in Frankreich "zweifellos ohne viel Federlesens an die Wand gestellt (hätte), wenn sie den Behörden des republikanischen Frankreich in die Hände gefallen wären". [12] Sieben Jahrzehnte später war die französische Großbourgeoisie, die inzwischen die Ideale von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit über Bord geworfen hatte, Béhaine dankbar und ließ ihm in der alten Kaiserstadt Hue eine "würdevolle Grabstätte" errichten.

In Vietnam rüstete Béhaines Söldnerhaufen für Nguyen Anh nach überlegenen europäischen militärischen Grundsätzen eine Flotte aus und stellt eine neue Armee zum Kampf gegen die Tay Son auf. Der Nguyen-Dynastie gelang so die Entmachtung der Tay Son, deren Niederlage 1802 mit der Einnahme Hanois besiegelt wurde. Es setzte eine blutige Verfolgung der Aufständischen ein. Danach wurde Vietnam nochmals einige Jahrzehnte Lehensstaat der Mandschu-Kaiser.


Karte: A (talk · contribs), CC BY-SA 4.0 [https://creativecommons.org/licenses/by-sa/4.0], via Wikimedia Commons

Vietnam 1788-1792: Das Herrschaftsgebiet des Bruders Nguyen Hue wird in blau, das des Nguyen Nhac in gelb gekennzeichnet. Der dritte Bruder Nguyen Lu wurde im Süden bereits von Nguyen Phuc Anh besiegt, dessen Machtbereich in grün dargestellt wird.
Karte: A (talk · contribs), CC BY-SA 4.0 [https://creativecommons.org/licenses/by-sa/4.0], via Wikimedia Commons

Gia Long überließ Frankreich zum Dank für die erwiesene Hilfe bei der Niederschlagung der Revolution der Tay Son die Insel Pulo und einen Küstenstreifen in Mittelvietnam, den Paris zielstrebig zur Vorbereitung der späteren kolonialen Eroberung nutzte. Der "Freiwilligenexpedition" Béhaines folgte 1858 eine offizielle "Expedition". Am 31. August überfiel ein französisches Geschwader unter dem fadenscheinigen Vorwand, französische Missionare zu schützen, die Hafenstadt Da Nang und setzte Truppen an Land. Die koloniale Eroberung Vietnams begann. Die zivilisatorisch fortschrittliche Entwicklung Vietnams wurde ein Jahrhundert lang unterbrochen. Dabei besaß das Land alle Potenzen für einen modernen industriellen Werdegang. Es verfügte zum Zeitpunkt des Beginns der Eroberung u. a. über 34 Goldminen, 29 Eisenbergwerke, 14 Silberbergwerke, 9 Kupfergruben, sieben Zink-, drei Blei- und eine Zinngrube.


Epilog

1945 stürzte Vietnam mit der Augustrevolution das französische Kolonialjoch und errichtete am 2. September in Gestalt der Demokratischen Republik Vietnam seinen unabhängigen Nationalstaat. Diesen verteidigte es 1946-1954 gegen den erneuten kolonialen Überfall Frankreichs und danach bis 1975 gegen die USA, die es einem neokolonialen Joch unterwerfen wollten. Mit der Proklamation der Sozialistischen Republik Vietnam 1976 entschloss es sich, den Weg einer sozialistischen Entwicklung zu beschreiten und damit die kapitalistische Etappe zu überspringen. [13] Das entsprach den Traditionen der jahrhundertelangen Kämpfe um die soziale und nationale Befreiung, wie sie auch die Tay Son vertraten. Ihre Ziele könnten unter der imperialistischen Herrschaft des Kapitals der Ausbeutung und Unterdrückung des eigenen Volkes wie der anderer Länder nicht mehr verwirklicht werden. Sie gehören zu den revolutionären Traditionen der Geschichte Vietnams, die Grundlagen des Weges zum Sozialismus sind.


Anmerkungen:

[1] Für einen Blick in die Historie ist die "Geschichte Vietnams" des Franzosen Jean Chesneaux, das bekannteste Nachschlagewerk. Sie erschien in der DDR 1963 bei Rütten & Loening. Es diente dem Autor als eine wichtige Grundlage seiner Abhandlung.

[2] Südlich von Hanoi liegende Provinz.

[3] Für eine seriöse Darstellung ist als Quelle der bereits erwähnte Chesneaux zu nennen sowie, wenn auch mit einigen Einschränkungen, Le Tan Khoi mit Otto Karow "3000 Jahre Vietnam", München 1969. Einige weitere Publikationen, so K. W. Taylor: A History of the Vietnamese, Cambridge University Press, und Ben Kiernan: Viet Nam: A History from Earliest Times to the Present, Oxford University Press, 2017, liefern zwar viele Fakten, ordnen aber die Ereignisse in den Rahmen der Auseinandersetzungen rivalisierender Hierarchien der Feudalordnung ein und negieren ihren revolutionären Charakter.

[4] Le Tan Khoi, S. 247 f.

[5] Le Tan Khoi, S. 219 ff.

[6] Ebd., S. 261.

[7] George Dutton: The Tây Son Uprising: Society and Rebellion in Eighteenth-Century Vietnam, University of Hawaii Press, Honolulu 2006, S. 32 f., 80 f.

[8] Das Mädchen Kiêu, ins Deutsche übertragen von Irene und Franz Faber, erschien 1964 in Berlin/DDR bei Rütten & Loening. Das Schriftstellerehepaar war mehrere Jahr für die Nachrichtenagentur ADN der DDR in Hanoi tätig.

[9] Nos Traditions militaires, Hanoi 1978, S. 141 ff.

[10] Le Tan Khoi, S. 251 f.

[11] Ebd., S. 259 f.

[12] Chesneaux, S. 69.

[13] Vor 75 Jahren siegte in Vietnam die Augustrevolution. Ho Chi Minh rief am 2. September 1945 die Demokratische Republik Vietnam aus. Schrift des Autors in "Konsequent", Heft 2/2020 der DKP Berlin.

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Quelle:
© 2022 by Gerhard Feldbauer
Mit freundlicher Genehmigung des Autors

veröffentlicht in der Online-Ausgabe des Schattenblick zum 13. August 2022

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