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NEUZEIT/141: Die Geschichte des türkischen Nationalismus (inamo)


inamo Heft 51 - Berichte & Analysen - Herbst 2007
Informationsprojekt Naher und Mittlerer Osten

Die Geschichte des türkischen Nationalismus

Von Ayse Hür


Ein großer Teil der Türken hat bisher nicht begriffen, dass das auf drei Kontinente ausgedehnte riesige Osmanischen Reich auf die kleine, auf Anatolien beschränkte türkische Republik gedrängt wurde. Die extreme Ausrichtung auf Modernisierung und technologische Entwicklung einerseits und die im Zuge der rasanten Modernisierung entstandenen ungeheuren sozialen und ökonomischen Probleme andererseits lösen den Wunsch nach Einheit und Integrität aus. Bei türkischen Nationalisten fachen beide zugleich Misstrauen an gegenüber ethnischen, kulturellen, religiösen und Klassenunterschieden, gegenüber dem Westen, der als Bedrohung für den Fortbestand des Landes angesehen wird, sowie gegenüber den Minderheiten, die traditionell als dessen Kollaborateure gelten.

Im nachstehenden Beitrag zeichnet Ayse Hür die Entwicklungsgeschichte des türkischen Nationalismus nach und zeigt wie die ungelösten Fragen nach Identität aus dem 20. mit ihren Wurzeln im 19. Jahrhundert die politischen Positionen der Gegenwart beeinflussen.


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Nationen, die erst spät in die Phase des Nationbuilding eintraten, deren nationalstaatliche Geschichte nicht kontinuierlich, sondern in Form zahlreicher Brüche verlief und die ihre ehemals mächtigen Positionen in lang anhaltenden Niederlagen verloren, weisen gewisse Gemeinsamkeiten auf: Das Gefühl, von der eigenen vergangenen Größe erschlagen zu werden, die Überzeugung, die aktuelle Lage nicht verdient und eigentlich eine viel höhere Position inne zu haben und bisweilen ein daraus resultierender Minderwertigkeitskomplex mit Überempfindlichkeiten in der Folge. Es fällt schwer zu akzeptieren, dass man nicht länger über die einstige Bedeutung in den zwischenstaatlichen Beziehungen verfügt. Es kommt zu der fixen Idee, die sich zur Paranoia auswachsen kann, dass man eigentlich noch immer im Zentrum der Interessen und Aktivitäten aller stehen müsse. So wächst die Überzeugung, man sei von Mächten umgeben, die nichts anderes vorhätten, als einen zu zerschlagen und zu vernichten. Selbst einige Elemente im Inneren seien zur Kooperation mit den äußeren Feinden bereit. In dem Bewusstsein, nicht mehr über die Macht der Vergangenheit zu verfügen, verspürt man Unmut darüber, all dies hinnehmen zu müssen.

Der türkische Nationalismus gründet, wie alle Nationalismen, auf der Ablehnung der Anderen. Diese Anderen sind auch jene, die zuließen, dass die äußeren Feinde dem Reich zum Verderben werden konnten: die inneren Feinde, die Minderheiten, also. So behauptet der türkische Nationalismus, er sei durch den Verrat der Nationen im Osmanischen Reich gezwungen worden, nationalistisch zu werden.


Verwestlichung, Osmanismus und türkischer Nationalismus

Auf der ehemals osmanischen, anschließend türkischen Landkarte wurde der Nationalismus erst seit Ende des 19. Jahrhunderts zum Bindemittel der offiziellen Ideologie. Nach der Einsicht in die Unmöglichkeit der Ideologie der Verwestlichung, von der man sich fast ein Jahrhundert lang Nutzen versprochen hatte, wurde die türkisch-nationalistische Strömung, die sich als Präferenz der türkischen Identität auf kultureller und politischer Ebene auf den Punkt bringen lässt, zu der Ideologie, auf die man zur Rettung des Reiches setzte. Die Idee der "türkischen Nation", die nicht-türkische Ideologen wie der kurdisch-stämmige Ziya Gökalp, der tatarisch-stämmige Yusuf Akçura und der Krimtürke Gaspirali Ismail entwickelten, legte naturgemäß auf Sprache, Kultur und Bildung mehr Wert als auf ethnische Herkunft. Die Politisierung dieser Bewegung geschah durch Intellektuelle in Zivil und in Uniform, ausgebildet an der Medizinischen Akademie, der Militärakademie oder der Zivilbeamtenakademie. Diese Kreise hatten gelernt, das Leben mehr als Resultat biologischer und physiologischer Prozesse denn als Gottes Wille zu begreifen. Sie betrachteten sich als Heiler der Gesellschaft. Die Gedankenwelt dieser Gruppe von Intellektuellen speiste sich nicht länger aus einer Tradition philosophischer Spekulation, ihre Politik wurde im Alltag entwickelt und war eine Art Suche nach einem Ausweg aus dem Status Quo. Der türkische Nationalismus war die Lösung aller Schwierigkeiten, in denen sich das Osmanische Reich befand.


Das Erbe der Ideologie der "Jungtürken"

Die Opposition gegen das 30-jährige Unterdrückungsregime Abdulhamids II. wurde von dem Komitee für Einheit und Fortschritt (Ittihat ve Terakki Cemiyeti ITC) angeführt, das von einer kleinen Gruppe der Jungtürken gegründete worden war. Das ITC, eine Art Partisanengruppe nach dem Vorbild nationalistischer armenischer und mazedonischer Organisationen, war entgegen dem Revolutionismus seiner Vorbilder konservativ angelegt, da sein Hauptziel die Bewahrung des existierenden Systems war. Die Bewegung war derart starr, dass Opposition gegen das ITC Vaterlandsverrat gleichkam. Als Abdulhamid auf den Druck dieser Organisation hin 1908 die zweite konstitutionelle Phase proklamierte, wurde das Land zwar die absolutistische Sultansherrschaft los, geriet jedoch unter das Sultanat eben des ITC bzw. einer kleinen Clique innerhalb desselben, die mit Hilfe der Armee und eines Scheinparlaments im Namen der "führenden Nation", d. h. der türkischen, die sich den anderen Ethnien überlegen fühlte, das Land nach Gutdünken regierte.

Die ITC-Kreise, einst zum Umsturz des repressiven Staates ausgezogen, arrangierten sich bald mit der Monarchie, trieben die Modernisierung des Staatsapparats voran und stärkten die Macht des Parlaments. Auf grund dieser Initiativen wurde die Anerkennung durch die europäischen Staaten erwartet. Als man 1911 in Tripolis und 1912-13 im Balkankrieg stattdessen Ohrfeigen vom Westen erhielt, begann sich als Reaktion herauszukristallisieren, dass der Staat auf muslimisch-türkischem Fundament stehen sollte. Mit dem Ziel, sich sowohl die Reichtümer der Nicht-Muslime anzueignen als auch in den frei werdenden Gebieten durch den Balkankrieg geschädigte Muslime anzusiedeln, wurde zu einer Liquidationspolitik gegriffen, die sich zunächst gegen die Griechen an der Ägäis richtete. Als in Ostanatolien radikale armenische Nationalisten, die in Verbindung zu Russland und den Westmächten standen, erste kleinere Erfolge erzielten, nahmen die Jungtürken dies zum Anlass, einen radikalen Plan in die Tat umzusetzen. Die armenischen Untertanen des Reiches wurden unter dem Vorwand, den Staat durch Kollaboration mit den Russen verraten zu haben, in den Jahren 1915-16 mit Gewalt aus dem Land vertrieben. Die Bilanz dieser Deportationen war äußerst blutig. Die vorsichtigsten Schätzungen gehen von 300.000, andere aber von 1,5 Millionen Toten bzw. Ermordeten bei dieser Deportation aus.


Osmanischer Orientalismus

In jener Zeit waren die Beziehungen nicht nur zum Westen und den Minderheiten, die als Kollaborateure des Westens betrachtet wurden, problematisch, sondern auch diejenigen zur arabischen Welt. Um aus dem seit Ende des 18. Jahrhunderts bestehenden Status des "Kranken Mannes am Bosporus" herauszukommen, versteifte sich das Osmanische Reich darauf, der Osten sei wichtiger als die übrigen Teile, um sich aus der durch die großen Landverluste während der Balkankriege 1878-1913 ausgelösten Depression zu befreien. Nahmen europäische Orientalisten den Osten wahr, als existierte er unberührt in einem anderen Abschnitt von Zeit und Raum als der Westen, gab es auch für die Osmanen keine Eigendynamik innerhalb der arabischen Welt. So ging es vorrangig um die Modernisierung der Araber, und damit um deren Osmanisierung.

Der osmanische Staat hatte seit etwa 1860 seine Elite als Gouverneure in die arabischen Provinzen geschickt. Die arabische Halbinsel wurde mit Eisenbahnlinien und Telegraphie der Hauptstadt angeschlossen, Städte wurden ausgebaut, Administration und Militär strukturell erneuert. Die analphabetische arabische Bevölkerung wurde in extra für sie errichtete Schulen geschickt. In den Akademien für Militär und Zivilbeamte wurden gesonderte Klassen für die Söhne arabischer Scheichs eingerichtet. Zu erklären, dass trotz dieser und ähnlicher Initiativen der arabische Aufstand unter Scheich Hussein von Mekka in Kooperation mit den Briten begann und am Ende die Loslösung der Araber vom Osmanischen Reich nach 400 Jahren friedlichen Zusammenlebens stand, fällt selbst heute noch vielen türkischen Intellektuellen schwer. In der türkischen Geschichtsschreibung wurde und wird das Versinken des einst über drei Kontinente herrschenden Osmanischen Reiches am Ende des 1. Weltkriegs sowie das Verwehren selbst eines kleinen, auf Anatolien beschränkten Staates mit dem arabischen Aufstand in Verbindung gebracht, zu dem es heißt, die Araber seien den Türken in den Rücken gefallen.


Die Dichotomie von Beständigkeit und Zerfall

Die Formel Armee + Partei = Macht, welche die Zeit zwischen der Proklamation der zweiten Konstitution am 23. Juli 1908 und dem Ende des 1. Weltkrieges 1918 prägte, wurde unverändert in die republikanische Phase transferiert. Denn die Kader, die den Prozess auslösten, der in der offiziellen türkischen Geschichtsschreibung als "Befreiungskampf gegen die imperialistischen Mächte, die das Osmanische Reich zerschlagen und besetzen wollten", bezeichnet wird, waren in der großen Mehrheit ehemalige ITC-Mitglieder. Auch Mustafa Kemal [Atatürk], der legendäre Führer der Bewegung, war Mitglied des ITC.

Die Hauptsorge des imperialistischen Großbritanniens galt der Sicherung des Weges nach Indien und seiner Anfangspunkte, dem Bosporus und dem Suez-Kanal. Aus diesem Grund unterstützte es bis zuletzt die territoriale Integrität des Osmanischen Reiches gegen Russland, das vom Zugang zu den warmen Meeren träumte. Diese Politik änderte sich radikal, als das Osmanische Reich im Bündnis mit Deutschland in den I. Weltkrieg eintrat. Als 1917 die bolschewistische Revolution in Russland siegte, wurde dann die Aufteilung des osmanischen Territoriums vorangetrieben. Eine Gruppe unter Führung von Lloyd George, der zutiefst davon überzeugt war, dass "die Türken Barbaren, die Hellenen hingegen zivilisiert" seien, schlug vor, die Sicherung von Suez-Kanal und Indienroute Griechenland zu übertragen, an dessen Spitze ein Freund des Westens wie Venizelos stand. Dieser selbst in Großbritannien heftig diskutierte Vorschlag wurde schließlich angenommen, die griechische Armee setzte am 15. Mai 1919 nach Anatolien über und bewegte sich auf Ankara zu.


Geburt der Sèvres-Paranoia

Der Vertrag von Sèvres, der am 10. August 1920 von der Entente unter Anwesenheit von Armeniern und Kurden, den unzufriedenen Minderheiten im Osmanischen Reich, unterzeichnet wurde, war das Produkt dieser Umstände. Dem aus 433 Absätzen bestehenden Vertrag zufolge sollte das Osmanische Reich unter Griechenland, Frankreich und Britannien aufgeteilt werden, in Ostanatolien sollte ein unabhängiges Armenien, in Südostanatolien ein unabhängiges Kurdistan entstehen. Istanbul und die Meerengen fielen unter die Besatzung Englands und der Alliierten, Verwaltung und Kontrolle über die Meerengen wurden einer internationalen Kommission übertragen. Bald war klar, dass dieser Plan unrealistisch war, und bis auf Griechenland wurde der Vertrag von Sèvres in keinem der beteiligten Länder ratifiziert. Die Lage hatte sich zugunsten der Türken gewendet. Schließlich wurde der offiziell sogenannte "Befreiungskampf" durch Mustafa Kemals militärisches und politisches Genie sowie das kluge Ausnutzen zahlreicher internationaler und nationaler Bruchstellen "gewonnen". In den Köpfen der Elite jedoch verankerte sich diese Erfahrung mit dem Westen.


Das Hauptmerkmal der kemalistischen Reformen

Das ideologische Erbe, das die Republik von den osmanischen Intellektuellen übernahm, war die pro-westliche Politik. Die republikanische Verwestlichungspolitik wurde nicht wie in osmanischer Zeit als Import bestimmter Institutionen und Technologien verstanden. Vielmehr sollte nun das gesellschaftliche Leben von oben reformiert werden. Die wichtigste Parole der Zeit lautete: "Dem Volke zum Trotz für das Volk". Für Mustafa Kemal war der Westen kein absolutes Vorbild, sondern eine Etappe, die es zu nehmen galt. Das eigentliche Ziel der militärischen und zivilen positivistischen Kader, "ehemals jungtürkisch, jetzt kemalistisch", die die kulturelle und politische Organisation, des Landes übernahmen, war es, aus einer Gemeinschaft, Überbleibsel des Reiches, einen neuen Nationalstaat zu schaffen und diesen Nationalstaat auf das Niveau moderner Zivilisationen zu heben. Hierzu war die Transformation der Bevölkerung unabdingbar. Die Gründungskader glaubten, die Moderne nur durch die Kontrolle der gesamten Gesellschaft erreichen zu können und wandten infolgedessen extrem radikale und autoritäre Methoden an. Jeder Ausdruck von Opposition wurde im Keim erstickt, die Entwicklung von Demokratie im Lande niemals erlaubt.


Aufbau der "türkischen Nation"

Bei der Betonung der gemeinsamen Religion als Band zwischen Lasen, Tscherkessen, Türken und Kurden in den wichtigsten Texten des nationalen Kampfes in den 1920er Jahren wurden häufig Ausdrücke wie "islamische Bevölkerungsteile", "islamische Mehrheit" verwendet. Diese Rhetorik, offenbar aus pragmatischen Gründen bevorzugt, wurde jedoch bald fallen gelassen. Laut Mustafa Kemal befand sich der Islam, der sich auf Scheichs, Hadschis, Imame, Konvente und Orden stützte, in der Krise. Die Kritik am Islam wurde meisterhaft mit der Fiktion vom "arabischen Verrat" verquickt, der zum Zusammenbruch des Osmanischen Reichs geführt habe, und so entstand eine Art türkischer Orientalismus. Der Kemalismus, der sorgsam auf einen gewissen Abstand zum Westen bedacht war, zog seine Legitimation bei der Einführung einer bedingungslosen Verwestlichung auf kultureller, sozialer und politischer Ebene aus dieser orientalistischen Haltung.

Die Bezeichnung "Türkei" wurde erstmals in der Verfassung von 1921 verwendet. Damit stand der Name des Staates noch nicht fest, aber der der Nation. So beruhte etwa der im Lausanner Vertrag von 1923 vorgesehene Bevölkerungsaustausch zwischen der Türkei und Griechenland nicht auf ethnischer Herkunft sondern auf religiöser Zugehörigkeit. Da in dem Vertrag Griechen, Armenier und Juden als Minderheiten anerkannt waren, blieb nur noch festzustellen, wer als Türke gelten sollte. Absatz 88 der Verfassung von 1924 schrieb fest, dass unabhängig von Religion und Ethnie jeder als "Türke" gelte, der durch die Staatsbürgerschaft an den Staat gebunden sei. Doch den Eliten, die es sich zur Gewohnheit gemacht hatten, jede Art von Minderheit, ob muslimisch oder nicht-muslimisch, als schuldig am Zusammenbruch des Osmanischen Reiches zu betrachten, reichte das nicht.

1928 begann deshalb mit Mustafa Kemal als Oberlehrer eine Kampagne zu Sprache und Schrift. An der Kampagne beteiligten sich die offiziellen und inoffiziellen Organe der damals einzigen Partei, der Republikanischen Volkspartei, Zentral- und Regionalverwaltungen sowie die Armee. Innerhalb von zwei Jahren wurden sämtliche Männer und Frauen zwischen 16 und 40 Jahren in Lateinschrift auf Türkisch alphabetisiert. Wer nicht an den Türkischkursen teilnahm, wurde vom aktiven und passiven Wahlrecht ausgeschlossen. Wer nicht gut Türkisch sprechen konnte, wurde entlassen, wer nicht Türkisch sprechen wollte, verfolgt. So wurde die Sprache, genau wie im Vorbild der französischen Nationenbildung, zu einem wichtigen Faktor der Herstellung nationaler Identität.


Rassistische Tendenzen

Rassistischer Nationalismus war nie Bestandteil der offiziellen kemalistischen Ideologie, in manchen Epochen flossen kultureller Nationalismus und Rassismus jedoch ineinander. Hierbei spielte die panturanistische Ideologie eine Rolle, die der türkische Nationalismus von der osmanischen Epoche geerbt hatte und die darauf abzielte, einen "Großtürkischen Staat von der Adria bis nach Zentralasien" zu errichten. Doch die kemalistischen Eliten, für die das Erreichen des westlichen Zivilisationsstandards zur fixen Idee geworden war, waren ebenso darauf erpicht, die im Westen herrschenden wissenschaftlichen und ideologischen Auffassungen eins zu eins zu übernehmen.

In den 1930er Jahren, als der Faschismus weltweit einen Aufschwung erlebte, lautete das Motto des türkischen Nationalismus: "Ein Staat, eine Nation, eine Kultur, ein Führer, eine Doktrin, eine Partei". Zur Unterstützung dieses Ansatzes wurde 1933 die türkische Geschichtsthese etabliert, dass die "brachyzephale türkische Rasse eine Gründerrolle ersten Grades bei der Bildung aller Zivilisationen von Europa bis Afrika, sogar bis Amerika gespielt" habe. Diese These, Resultat einer durch westliche Vorurteile bezüglich der Zweitklassigkeit der türkischen Rasse angeheizten Defensivpsychologie, nahm "historische Rechte" zum Vorwand, um nicht-türkischen Bevölkerungsteilen (Armenier, Griechen, Kurden), die sich angeblich Anatolien aneignen wollten, einen Riegel vorzuschieben.

Das Siedlungsgesetz von 1934, das angeblich erlassen worden war, um "ein Land zu schaffen, das die gleiche Sprache spricht, gleich denkt und dieselben Gefühle teilt", spaltete die Bevölkerung in Angehörige und Nichtangehörige der türkischen Rasse und band die Siedlungspolitik an die Sprache. Das Namensgesetz aus demselben Jahr verpflichtete alle Staatsbürger dazu, rein türkische Familiennamen anzunehmen. Indem es Unterschiede nach Religion, Konfession und untergeordneten Identitäten unterschlug, spielte es eine wichtige Rolle im Prozess der Bildung einer einzigen Identität. 1936 wurde die "Sonnensprachtheorie" übernommen, die den Ursprung aller Kultursprachen der Welt in Ableitungen aus der türkischen Sprache sah. Die Eugenik, die bis zum 11. Weltkrieg populär war, hatte derartigen Einfluss auf die kemalistische Elite, dass anthropometrische Messungen bei Zehntausenden von Menschen durchgeführt wurden, um eine gesunde, qualitativ hoch stehende türkische Bevölkerung zu bekommen. Hierzu erschienen Bücher und Artikel, Vorträge wurden gehalten, die dort vertretenen Thesen in Schulbücher auf genommen.

Als sich die Niederlage Deutschlands abzeichnete, wurden rassistische Bewegungen abgekanzelt. Nach 1948 entwickelte sich der Nationalismus entlang der Achse eines kulturellen Nationalismus, der die Existenz und Integrität des Staates garantieren sollte. Natürlich bedeutet das nicht, dass dem türkischen Nationalismus die rassistische Sicht genommen worden wäre. So trat die nationalistische Strömung seit den 1960ern mit der Bezeichnung "türkisch-islamische Synthese" in ein neues Stadium ein und der "pragmatische Ultranationalismus", den die Partei der Nationalistischen Bewegung MHP vertritt, existiert bis heute als starke Strömung fort.

Das erste Viertel der Republik war zugleich eine Zeit heftiger Widerstände gegen die Politik der Türkisierung. Der kurdische Nationalismus, der bis 1870 zurückreicht, hatte in den 1920ern sein Ziel nationaler Unabhängigkeit nicht erreichen können. Von achtzehn Aufständen fanden siebzehn in Ostanatolien statt und an sechzehn waren Kurden beteiligt. Ob diese Aufstände in erster Linie religiös oder ethnisch motiviert oder Reaktionen auf die Zentralisierungsbestrebungen waren, ist nach wie vor umstritten. Resultat aber war, dass das türkische Nationalbewusstsein noch stärker betont wurde. Das Bild vom "Osten" wurde nach dem Ausscheiden der arabischen Welt aus der türkischen Vorstellungswelt durch die kurdische Landkarte ersetzt. So wurden in sämtlichen nationalistischen Texten der Zeit die Kurden als Bevölkerungsteil behandelt, den es "zu zivilisieren" galt. 1930 beispielsweise sprach der Justizminister Esat Mahmut Bozkurt folgendermaßen über die Kurden: "... man kann sie so ungefähr als wild bezeichnen ... Die Bedeutung von Mitleid haben sie nie gelernt. Sie sind blutrünstig, aggressiv, wild und räuberisch ... Sie sind äußerst niederträchtig. Wenn sie jemanden erwischt haben, dann töten sie ihn nicht mit einer Kugel, sondern kratzen die Augen aus, schneiden die Nase ab, reißen die Nägel aus, um zu morden. ... Auch die Frauen sollen so sein." (Variationen dieser Meinung halten sich bis heute. Während der blutige Bürgerkrieg, der seit 1984 mit der separatistischen PKK geführt wird, und die politischen Entwicklungen im Nordirak dazu führten, dass die Kurden vom Status des "rückständigen Menschen im Osten" in die Kategorie gefährlichster "innerer Feind" aufrückten, wurden sie aufgrund der Auslandsbeziehungen der PKK zugleich auch in die Kategorie "äußerer Feind" aufgenommen.)


Die Ära nach Mustafa Kemal

Nach dem Tod Mustafa Kemal Atatürks 1938 verloren die radikalen Maßnahmen zur Schaffung eines Nationalstaates an Tempo. Als 1942-1944 die Vermögenssteuer, die angeblich zur Besteuerung jener eingesetzt wurde, die während des II. Weltkriegs erhebliche Gewinne gemacht hatten, hauptsächlich auf Nicht-Muslime angewendet wurde, war klar, dass die Definition "türkisch" noch immer nicht auf Grundlage der Staatsangehörigkeit vorgenommen wurde. Nachdem 1946 insbesondere auf Druck des Westens der Übergang zum Mehrparteiensystem erfolgt war, erfuhr die politische Linie eine deutliche Ausrichtung nach Westen. Mit der Teilnahme am Koreakrieg erkaufte man sich den NATO-Eintritt, woraufhin die Beziehungen zum Westen eine radikale Wandlung erlebten. Die Hilfen und Traktoren aus den USA erhöhten den Lebensstandard der Landbevölkerung. Das Land wandelte sich vom Agrarland zur Industrienation, wodurch sich der Mangel an nationalem Selbstvertrauen abschwächte. Als natürliches Resultat verloren die Identitätsdebatten an Schärfe. Mit Schritten wie der Gründung des Bagdad-Paktes, der die arabische Welt spaltete, der Beendigung der Beziehungen zu den Dritte-Welt-Ländern auf der Konferenz von Baudung und der Parteinahme für Frankreich im Algerienkonflikt flammte um 1955 die linksgerichtete Kritik am Westen auf. Konservative und islamische Intellektuelle, die die "jakobinische" Republik als Erbe des Westens betrachteten, standen dem Westen ohnehin kritisch gegenüber. Abgesehen von dem Pogrom-Versuch gegen Griechen (und Armenier) am 6.-7. September 1955, für den Zypern als Vorwand herhalten musste, übernahm ab dieser Zeit der Westen den Platz der Minderheiten als Gegenüber der türkischen Nationalidentität. So trat das "Verhältnis von Liebe und Hass", das 200 Jahre lang die Beziehungen zwischen Osmanen und dem Westen bestimmt hatte, in ein neues Stadium ein. Ende der 1970er Jahre trat der Unmut über die Rolle als Gendarm, die der Westen der Türkei zugewiesen hatte, und dessen inoffizielle Unterstützung Griechenlands deutlich zutage. Ob rechts oder links, in den Köpfen der regierenden Eliten, der Intellektuellen und der Bevölkerung war der Westen zwar überlegen, blieb aber der Feind.


Orientalismus versus Okzidentalismus

Der Putsch vom 12. September 1980 steigerte zwar nicht in der Bevölkerung, jedoch in der Linken und einem Teil der Rechten die Feindschaft gegenüber dem Westen in Gestalt der USA. In den 1990er Jahren erreichten die Antipathien gegenüber dem Westen einen Gipfel in persona der EU, die ständig ihre Haltung zur Mitgliedschaft der Türkei zu ändern schien und der unterstellt wurde, Griechenland zu protegieren und die separatistische kurdische Organisation PKK zu unterstützen. Während ein Teil der türkischen Intellektuellen begann, sich selbst aus der Sicht des Westens zu sehen und erheblich an Selbstvertrauen verlor, wuchs in anderen Kreisen die Unfähigkeit zu realistischer Selbsteinschätzung. Es wurde zur Gewohnheit, Kritik aus dem Westen als Orientalismus abzutun, ohne auch nur zu prüfen, ob sie berechtigt oder unberechtigt ist.

Auf den Orientalismus antworteten die islamistischen Kreise, die von der seit den 1980er Jahren die Oberhand gewinnenden neoliberalen Welle von der Peripherie ins Zentrum getragen worden waren, mit Okzidentalismus. Der Osten, vom Westen reduziert auf Schlagwörter wie "Brutalität, Pomp, Gnadenlosigkeit, Sinnlichkeit", rächte sich, indem er seinerseits den Westen reduzierte auf Oberflächlichkeit, Verderbtheit, Kolonialismus, Mechanisierung, Sittenlosigkeit und Gottlosigkeit. Hasan Hanafi, Philosophieprofessor an der Universität Kairo, der 1992 sein Buch "Einführung in die Wissenschaft des Okzidentalismus" herausgab, sagte auf einer am 12.-13. Februar 2002 in Istanbul veranstalteten Konferenz: "Während wir auf der Suche nach Lösungen damit beschäftigt sind, den Westen zu übernehmen, setzt der Westen seine Fahrt auf der Überholspur fort. In der Folge ergeben wir uns einem Minderwertigkeitskomplex." Bekanntermaßen ist ein "Minderwertigkeitsgefühl gegenüber dem Westen" von radikalen Islamisten bis zu Opfern der Globalisierung eine weit verbreitete Empfindung. Am stärksten ausgeprägt jedoch ist es wohl bei den Türken, die denken, sie seien "nach einem auf drei Kontinente ausgedehnten Reich dazu verurteilt, in einem auf Anatolien beschränkten kleinen Staat" zu leben.

Ein großer Teil der Türken hegt heute allerdings nicht nur den Minderheiten und dem Westen gegenüber, sondern zugleich dem Osten gegenüber feindliche Gefühle. Neben der Rhetorik von den "Arabern, die uns im I. Weltkrieg in den Rücken gefallen sind", finden sich Sprichwörter und Redewendungen, die Araber erniedrigen. In Anknüpfung an den alten Diskurs, der sich in Begriffen wie Verlogenheit, Gerissenheit, Aufwiegelei, Blutrünstigkeit, Gnadenlosigkeit, Räuberei oder Heuchelei zur Beschreibung von arabischer Persönlichkeit und Kultur manifestiert, lässt sich der jüngere Diskurs dahingehend zusammenfassen, dass er zwischen dem Islam und "dem durch das Wüstennomadentum repräsentierte Barbarentum" sowie zwischen diesen und einem islamischen Terrorismus offen oder verdeckt eine Verbindung herstellt.


Verschwörungstheorien

Zum wichtigsten Merkmal des türkischen Nationalismus mauserte sich in den letzten Jahren die "Fremdenfeindlichkeit". Diese Haltung bezieht ihre Kraft aus dem Neid, der seit osmanischen Zeiten gegenüber Nicht-Muslimen ob ihrer im Verhältnis zu Muslimen wirtschaftlich, kulturell und politisch besseren Lage gehegt wird, und aus dem Hass gegenüber den "Verrat übenden Arabern". Von den Angehörigen des türkischen Nationalstaates, dem es im Laufe der Geschichte nicht gelingen wollte, westliches Entwicklungsniveau zu erreichen, auf alle nichttürkischen Bevölkerungsteile ausgedehnt, wird an dieser Position festgehalten. Fremdenfeindlichkeit kommt wie die "Verschwörungstheorien" in postmodernem Gewand daher. Solcherart Theorien finden in Büchern, Periodika, Filmen und Fernsehserien ein Millionenpublikum. Sie erlauben dem Einzelnen, dem es unter dem divergierenden Informationsbombardement in einer sich globalisierenden, komplexen werdenden und sich mit Höchstgeschwindigkeit von Unmittelbarkeit und Eintönigkeit entfernenden Welt schwer fällt, sich verworrene Strukturen, Institutionen und ihr multiples Beziehungsgeflecht zu erklären, diese im Rahmen der Beziehungen seines eigenen kleinen Milieus zu personalisieren. Am Beispiel der Türkei erscheinen Verschwörungstheorien in dem zunehmend komplexen werdenden Beziehungsgeflecht einer Gesellschaft, die dazu neigt, sich in historischem Sinne als Opfer des Westens zu empfinden, jenen, die bestrebt sind, sich und ihr Land zu positionieren, wie ein Heilmittel gegen jeden Misserfolg.

In der Ära, in die wir mit dem Zerfall des Ostblocks in den 1990ern eintraten, explodierte mit dem Verfall der die Republik konstituierenden Paradigmen das Gefühl der "Unterlegenheit". Sämtliche unterdrückten "Größenkomplexe" tauchten wieder auf. Nicht nur in islamistischen und nationalistischen Kreisen, sondern selbst in liberalen und sich als pro-westlich bezeichnenden Kreisen werden Texte mit dem Verweis auf die guten alten Tage verfasst, die darüber spekulieren, was für eine Macht man in der neuen Epoche darstellen könne. Ihnen allen gemeinsam ist die "Sehnsucht nach der Vergangenheit" und die Restauration der Vergangenheit als Projektion der Zukunft. Alle diese Ansätze sind problematisch, da sie darauf beruhen, dass der Abgrund zwischen dem Gipfel der Vergangenheit und dem angenommenen Tiefpunkt der Gegenwart unbewältigt ist. Während einerseits die extreme Bindung an Modernisierung und technologische Entwicklung und andererseits die im Zuge der rasanten Modernisierung entstandenen ungeheuren sozialen und ökonomischen Probleme bei jenen Kreisen, die sich im Rahmen der "türkischen Identität" definieren, einen großen Wunsch nach Einheit und Integrität auslösen, fachen sie zugleich Misstrauen an gegenüber ethnischen, kulturellen, religiösen und Klassenunterschieden, gegenüber dem Westen, der als Bedrohung für den Fortbestand des Landes angesehen wird, sowie gegenüber den Minderheiten, die traditionell als dessen Kollaborateure gelten. In einer von solchen Bedrohungen geprägten Atmosphäre versiegt weder die Suche nach einem starken Mann, der, so glaubt man, die Gesellschaft zusammenhalten könne, noch der Ruf nach einer autoritären Regierung, kontrolliert nicht durch Parlament und politische Parteien, sondern durch eine militärisch-bürokratische Elite. In dieser Hinsicht, zumindest im Hinblick auf die Versöhnung mit "dem Westen" sind die Beziehungen zur Europäischen Union von großer Bedeutung. Es ist hoffentlich nicht nur Wunschdenken, dass der große Rahmen, den diese Versöhnung zeichnet, sich auch auf die Haltung gegenüber den Minderheiten und dem durch die arabische Welt repräsentierten Osten in positiver Weise auswirken wird.


Ayse Hür, Historikerin, Politikwissenschaftlerin.

Aus dem Türkischen von Sabine Adatepe.


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Inhaltsverzeichnis - inamo Nr. 51, Herbst 2007

Gastkommentar
- Ein palästinensisches Wunder bei den Vereinten Nationen? von Ramzy Baroud

Türkei
- Wahlen, Juli 2007, von Ertugrul Kürkçü
- "AKP reloaded" Nach den Wahlen 2007, von Gabriel Goltz
- Die Geschichte des türkischen Nationalismus, von Ayse Hür
- Anti-Millîtarismus in der Türkei, von Corry Görgü
- Die Debatte um den "tiefen Staat", von Mithat Sancar
- Report BIA Media Monitoring, von Erol Önderoglu
- Die Türkei und die irakischen Kurden - Eskalationslogik vs. Stabilisierungsprozess, von Michiel Leezenberg
- Tendenzen in der zeitgenössischen türkischen Literatur, von Tevfik Turan

Israel/Palästina
- "Azmi Bishara wird verfolgt, weil er Recht hat", von Amnon Raz- Krakotzkin

Libanon
- Karneval der Konfessionen im Libanon, von Asaad Abukhalil

Syrien
- Zur Geschichte der syrischen Juden, von Usahma Felix Darrah
- Irakische Flüchtlinge in Syrien - Gewalt, Flucht und Überleben (Dokumentation)

Wirtschaftskommentar
- Israels boomende Wirtschaft, von Shimshon Bichler und Jonathan Nitzan

Zeitensprung
1967 - Vor und nach dem Krieg, von Norbert Mattes

Literatur
- Nicht zurückzukehren nach Haifa ..., von Adania Shibli
- Geisterstadt, von Haytham el-Wardany

Ex libris
- Frank Renken: Frankreich im Schatten des Algerienkrieges. Die 5. Republik und die Erinnerung an den letzten großen Kolonialkonflikt, von Paul Grasse
- Changing Values among Youth. Examples from Germany and the Arab World, von Kristian Brakel

Nachrichten/Ticker


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Quelle:
INAMO Nr. 51, Jahrgang 13, Herbst 2007, Seite 9-14
Berichte & Analysen zu Politik und Gesellschaft
des Nahen und Mittleren Ostens
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veröffentlicht im Schattenblick zum 4. Januar 2008