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NEUZEIT/177: Die Kurden - Ein Jahrzehnte langer Kampf für Freiheit (Der Schlepper)


Der Schlepper Nr. 45 - Herbst 2008
Quartalsmagazin für Migration und Flüchtlingssolidarität in Schleswig-Holstein

Die Kurden - Ein Jahrzehnte langer Kampf für Freiheit

Von Chira Germiani


Unterscheiden sich die Kurden vom türkischen, arabischen und persischen Volk? Wie kann es sein, dass ein Volk in so vielen Staaten verstreut ist? Kurden sind überall bekannt, jedoch wissen nur wenige woher sie wirklich stammen, welcher Kultur und Religion sie angehören und von welchem Gedanken ihr politisches Bestreben geleitet wird. Fest steht, dass die Kurden die größte staatenlose Nation sind.


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Kurdische Bevölkerungszahlen weltweit

Allein in der Türkei leben ca. 20 Mio., im Iran ca. 10 Mio., im Irak bis zu 5,5 Mio. und in Syrien ca. 1,5 Mio. Kurden. In Europa durchbrechen sie ebenfalls die Millionengrenze, in den Gebieten der damaligen Sowjetunion leben schätzungsweise 420.000 Kurden. Die Zahl der in Deutschland lebenden Kurden beläuft sich auf ca. 800.000.

Vor der Einbürgerung wird Einwanderern die Staatsangehörigkeit des Landes zugewiesen, aus dem sie ursprünglich kamen. Da die Kurden kein eigenes Land haben, werden sie je nach dem als irakische, iranische, syrische oder türkische Staatsbürger eingetragen. Insgesamt beruhen die Schätzungen auf ca. 40 Millionen Kurden weltweit.


Die kurdische Sprache und Zeitrechnung

Das kurdische Volk gehört zu den Ariern, dessen Sprache indogermanischer Herkunft ist. Viele Sprachwissenschaftler, so auch Ferdinand Justi, schreiben, die kurdische Sprache habe sich aus der Sprache der Meder entwickelt. Auch die Eigenbezeichnung "Kurmanc" deutet auf eine Abstammung von den Medern, da dies übersetzt "Söhne der Meder" heißt.

Die kurdische Geschichte und somit auch ihre Zeitrechnung beginnt 612 v. Chr. mit einem Mythos. Demnach wird das kurdische Volk durch den Kurden "Kawa" aus der Unterdrückung befreit, als dieser den Tyrannen "Dahak" erschlägt. Von da an lebt das kurdische Volk in Freiheit und feiert jedes Jahr am 21. März Neujahr, Newroz, als Zeichen ihres Widerstandes und der Befreiung.


Das Osmanische Reich

Das kurdische Volk lebte im Osmanischen Reich zwischen und um die Flüsse Euphrat und Tigris - zur damaligen Zeit mit dem Namen "Kurdistan". Es war in ständige Auseinandersetzungen verwickelt, unter Anderem mit Arabern, Griechen, Mongolen, Persern und Osmanen. Von der Ausbreitung und Islamisierung der arabischen Länder war auch Kurdistan betroffen.

Das Argument der religiösen Zusammengehörigkeit nutzte das Osmanische Reich stets für seine Ausbreitungspläne. Nach und nach verlor das kurdische Volk durch die Oberherrschaft der Osmanen seine Eigenständigkeit, seine Freiheit und seinen Wohlstand. Selbstverständlich setzten sich die Kurden in zahlreichen Aufständen zur Wehr, jedoch ohne dauerhaften Erfolg.

Nach dem Ersten Weltkrieg stand das Osmanische Reich auf der Seite der Verlierer und geriet unter die Verwaltung europäischer Mächte. Diese teilten das Gebiet in die Staaten Irak, Iran, Syrien und Türkei. Die Kurden wurden bei dieser willkürlichen Teilung nicht berücksichtigt und ihr Bevölkerungsgebiet unter den vier neu entstanden Staaten aufgeteilt.

Durch die Übernahme der Verwaltung des irakischen Gebietes gewann Großbritannien nun Mosul und Kirkuk mit reichen Erdölvorkommen, das zuvor zu Südkurdistan gehörte. Die geographische Lage Kurdistans hatte durch die großen Öl- und Wasservorkommen eine große Bedeutung, was der Name "die Seidenstraße" verdeutlicht.


Der Vertrag von Sevrès - ein Hoffnungsschimmer für die Kurden

Die Türkei versuchte, das Gebiet um Mosul und Kirkuk für sich zu erobern. Um erfolgreich gegen Großbritannien vorzugehen bat die türkische Regierung die Kurden um Hilfe. Als Gegenleistung versicherte ihnen die Türkei 1920 im "Vertrag von Sèvres" das Selbstbestimmungsrecht. Nachdem im Kampf um Mosul und Kirkuk eine Niederlage abzusehen war, hoben die Türken den Vertrag auf und schlossen 1923 mit den westlichen Mächten zusammen den "Vertrag von Lausanne", ohne die Kurden mit einzubeziehen. Dies hatte zur Folge, dass die Kurden nicht einmal mehr als Minderheit angesehen und praktisch vollkommen von der Landkarte ausradiert wurden.

Es begann der Ausnahmezustand für die Kurden. Von den Türken wurden sie als "Bergtürken" bezeichnet, womit Kurden aus dem allgemeinen Sprachgebrauch entfernt und ihre Existenz geleugnet wurde. Es kam zur Verhaftung und Ermordung zahlreicher kurdischer Abgeordneter der Nationalversammlung, zur Schließung sämtlicher kurdischer Schulen und dem Verbot aller kurdischen Zeitungen. Es gab Massenhinrichtungen und Deportationen, ohne Rücksicht auf die zivile Bevölkerung wurden Dörfer bombardiert, in denen sich Kurden aufhielten.

Es folgten Aufstände, in denen die Kurden zunächst als Sieger hervorgingen. Ihre Erfolge waren nur von kurzer Dauer, da die Nachbarstaaten der Türkei immer wieder zur Hilfe kamen.


Hilferuf nach Westen

Oft haben die Kurden versucht, sich an den Völkerbund zu wenden, jedoch stießen sie nie auf Aufmerksamkeit. Obwohl der Kampf mit Massenvernichtungswaffen offensichtlich war, sah sich niemand verpflichtet einzugreifen.

Im November 1937 schrieben Kurden an den Völkerbund: [...] Die kurdischen Schulen sind geschlossen, die kurdische Sprache ist verboten. Die Wörter Kurde und Kurdistan sind aus den wissenschaftlichen Büchern entfernt worden, jede bestialische Art wird angewendet, um die Kurden einschließlich Frauen und Mädchen zur Zwangsarbeit nach Anatolien zu bringen. Die Kurden werden in türkische Gebiete umgesiedelt, sie sollen nirgendwo mehr als 5 % ausmachen. [...] Der Westen zeigte keinerlei Reaktion und überließ sie ihrem Schicksal.


Die Gründung der kurdischen Republik Mahabad

Nach dem zweiten Weltkrieg gelang es den im Iran lebenden Kurden am 22. Januar 1946, mit der Unterstützung der Sowjetunion, im ehemaligen Ostkurdistan die kurdische Republik Mahabad zu gründen. Die Kurden lebten dort eigenständig, wie vor der Teilung des Osmanischen Reiches. Nachdem die Sowjets jedoch wieder abzogen, wurde Mahabad sofort vom Iran, zusammen mit Großbritannien und den USA, angegriffen. Es kam zu zahlreichen Ermordungen, auch von großen Teilen der zivilen Bevölkerung. Der Herrscher der kurdischen Republik wurde in aller Öffentlichkeit hingerichtet.

Bis heute sind Kurden nicht an der Politik Irans beteiligt, noch immer leben sie an den Rändern der Städte, oft in Armutsvierteln, und haben nur wenige Möglichkeiten Schulen zu besuchen. Es gibt zwar kurdische Zeitungen, jedoch stehen diese unter einer sehr strengen Zäsur.


Giftgasanfall im Irak

Da der Irak Mandatsgebiet der Engländer war und damit unter Beaufsichtigung des Völkerbundes stand, konnten Kurden ihre eigene Sprache sprechen und die Pressefreiheit zu nutzen.

Als die Kurden dann im Golfkrieg auf der Seite des Irans standen, rächte sich der Irak mit Giftgasanschlägen in der Provinz Halabja, die von Kurden bewohnt war. 5.000 Menschen, darunter viele Frauen und Kinder, kamen zu Tode. Über 10.000 Menschen wurden lebensgefährlich verletzt und starben an den Folgen. Es folgte die Zerstörung von 4.500 Dörfern und die Verschleppung von 180.000 Menschen, die bis heute nicht wieder aufgetaucht sind. Dies ist nur einer von mindestens 42 Fällen, in denen das irakische Regime Giftgas gegen die kurdische Bevölkerung einsetzte. Hier waren deutsche Unternehmen beteiligt, die Rohstoffe, Fertiganlagen und das Know-How zur Produktion an den Irak weiterreichten.


Der Umgang der Syrier mit den Kurden

In Syrien hatten die Kurden erst die Möglichkeit Zeitungen herauszugeben, jedoch wurden sie nicht als ethnischen Gruppe anerkannt und konnten ihre eigene Kultur nicht leben. Um die politischen Mitwirkung zu verhindern, wurde zahlreichen Kurden die syrische Staatsangehörigkeit entzogen, wodurch sie so gut wie alle Rechte zur Mitbestimmung verloren. Weder die Schulen, noch die Infrastruktur der von Kurden bewohnten Dörfer wurden gefördert. Auch hier gehören Razzien, Verfolgungen etc. zu der Tagesordnung.


Was hat sich bis heute geändert?

Im Irak kam es nach dem Sturz des Saddam-Regimes zu einem positiven Wandel in der kurdischen Geschichte. Hier haben auch Kurden die Presse und Meinungsfreiheit. Ein Kurde ist Bundespräsident des Iraks.

Hier scheint es für die Kurden aufwärts zu gehen. Leider wird ihnen dieser Erfolg nicht gegönnt. Die arabischen Chauvinisten im Parlament entscheiden oft gegen Maßnahmen, die zur Förderung des kurdischen Volkes beitragen. Die Rückkehr von Kurden in die ehemaligen kurdischen Gebiete Kirkuk, Khanakin und Mosul ist für viele Araber ein Dorn im Auge. Diese Städte gehörten vor der Teilung zu Kurdistan, nun lassen die arabischen Chauvinisten nicht zu, dass dieser Teil unter die regionale Verwaltung der Kurden kommt.

Leider sind die hier geschaffenen Grundlagen für die Entwicklung des kurdischen Volkes nur ein Einzelfall. In den anderen Staaten geht die Unterdrückung weiter.

In der Türkei sind Kurden noch immer stark benachteiligt. Viele Berichte erzählen von Folter und Verfolgung kurdischer Zivilisten. Zwangsumsiedlungen in der Türkei haben zur Folge, dass tausende von Kurden nun an den Stadträndern in heruntergekommenen Armutsvierteln leben müssen. Fakt ist, dass die PKK Waffenstillstände angeboten hat und bis heute versucht, mit der Türkei zu verhandeln. Diese weigert sich, auch nur in irgendeiner Weise zu verhandeln. Der PKK wird der Kampf durch die fehlende Kompromissbereitschaft praktisch aufgezwungen.

Alltäglich bezahlen viele Menschen, unter ihnen auch viele Zivilisten, sowohl auf kurdischer, als auch auf türkischer Seite, mit ihrem Leben. Das Ende ist immer noch nicht in Sicht. Im Gegenteil, der Hass zwischen den beiden Nationen wächst immer weiter.

Nicht einmal an ihrem nationalen Feiertag Newroz ist es den Kurden gewährt, friedlich zu feiern. In diesem Jahr gab es bei den Feierlichkeiten drei tote und etliche verletzte Kurden in der Stadt Qamishli in Syrien. Es kam zu einem Streit zwischen Kurden und der Polizei, um Newroz zu feiern. Daraufhin zogen die Polizisten ihre Waffen und erschossen drei Jugendliche. Es gab mindestens zehn weitere Verletzte.

Auch in der Türkei kam es zu Auseinandersetzungen. Berichten zufolge sei ein Demonstrant ums Leben gekommen, über 50 verletzt und ca. 130 festgenommen.

Auf offener Straße griffen die türkischen Sicherheitskräfte unter anderem Frauen, älteren Männer und Kinder an, schlugen auf sie ein - vor laufenden Kameras. Kurden werden als Staatsfeinde bezeichnet, weil sie ihre Fahne zeigen und ihre eigene Sprache legitimieren möchten.

Schon damals haben sie sich an den Völkerbund gewendet, wurden dennoch abgewiesen. Man wollte und will sich bis heute nicht in die Politik der östlichen Länder einmischen heißt es immer wieder. Hier geht es aber um die Jahrzehnte lange Unterdrückung einer Nation, dem bis heute das Recht genommen wird sich aktiv am politischen Geschehen zu beteiligen.


Chira Germiani ist im Irak geboren, 1993 nach Deutschland gezogen und hat 2008 in Hannover Abitur gemacht.


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Quelle:
Der Schlepper Nr. 45 - Herbst 2008, Seite 76-78
Quartalsmagazin für Migration und Flüchtlingssolidarität
in Schleswig-Holstein
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veröffentlicht im Schattenblick zum 7. Januar 2009