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NEUZEIT/194: Erst für besseren Sozialismus, dann doch lieber Vereinigung (TU Dresden)


Dresdner UniversitätsJournal Nr. 16 vom 13. Oktober 2009

Erst für besseren Sozialismus, dann doch lieber Vereinigung
Gespräch mit Historiker und Buchautor Dr. Michael Richter

Von Mathias Bäumel


20 Jahre Wende: Wie der Historiker und Buchautor Dr. Michael Richter vom Hannah-Ahrendt-Institut an der TU Dresden die damaligen Ereignisse sieht


UNIJOURNAL: In diesem Jahr wird allerorten das Jubiläum "20 Jahre Friedliche Revolution" begangen. Inwiefern sollten die damaligen Ereignisse wirklich als "Revolution" und inwiefern eher als "Implosion", als "Zusammenbruch" der damaligen realsozialistischen DDR-Gesellschaft bezeichnet werden?

DR. MICHAEL RICHTER: Es ist schon richtig, von einer Friedlichen Revolution zu sprechen. Zwar standen Teile von Wirtschaft und Gesellschaft im "real existierenden Sozialismus" vor dem Kollaps, aber ohne die Revolte der Menschen auf den Straßen hätte sich wahrscheinlich wenig geändert. Anders als in Polen oder Ungarn dachte die SED-Führung noch bis in den Winter 1989/90 nicht daran, eine wirkliche Demokratisierung des Landes zu unterstützen. Man musste ihr die Alleinherrschaft wirklich aus der Hand schlagen, wie dies die Demonstranten und die neuen Kräfte am Zentralen Runden Tisch im Januar 1990 taten. Was die Menschen auf den Straßen und bei Dialogveranstaltungen forderten, nämlich eine grundsätzliche Änderung der politischen, wirtschaftlichen, gesellschaftlichen, sozialen, rechtlichen, kulturellen etc. Verhältnisse, wurde in der historisch kurzen Zeit von einem Jahr praktisch umgesetzt. Gleichzeitig wurde auch noch der das System tragende Staat abgeschafft. Wenn das keine Revolution ist, weiß ich nicht, was man als Revolution bezeichnen sollte. Freilich war es keine Revolution im marxistischen Sinne, bei der - jedenfalls nach der Theorie - die bislang Unterdrückten die Macht übernehmen. Das ist ja auch in den real-sozialistischen Staaten nie wirklich passiert. Statt der Proletarier haben die Prolet-Arier regiert und eine Bonzenherrschaft errichtet. Die Friedliche Revolution hatte nicht das Ziel der Übernahme der Herrschaft durch eine andere Gruppe der Bevölkerung, sondern die Schaffung demokratischer Verhältnisse, bei der offen bleibt, welche Parteien jeweils eine Zeitlang regieren werden.

UNIJOURNAL: Ich kann mich genau erinnern, dass sehr viele Bürger noch im Spätsommer 1989 gegen das Neue Forum eingestellt waren und dessen Sympathisanten verbal angegriffen hatten. Ähnliches galt für die Aktivisten der Rocker-Protestresolution - sehr viele Bürger waren gegen diese Rocker und meinten, die sollten erst mal richtig arbeiten gehen ...

DR. MICHAEL RICHTER: Die Menschen waren damals politisch so uneinheitlich wie heute. Generell fand das Neue Forum aber eine enorme Zustimmung unter der Bevölkerung. Die Forderung nach seiner Zulassung (am 8. November 1989) trug wesentlich zur Mobilisierung bei. Sogar viele SED-Mitglieder unterstützten es. Allerdings gab es auch viele, die Änderungen ablehnten. Das waren nicht nur Hardliner von der SED, sondern auch Einheitsspießer, wie es sie immer und überall gibt. Sie wollen Ruhe, Ordnung und einen starken Staat. Die hielten natürlich so eine offene gesellschaftliche Kraft wie das Neue Forum nicht nur für völlig überflüssig, sondern auch für gefährlich. Sehr viel weniger Wirkung als das Neue Forum entfalteten andere Oppositionsgruppen. Gesellschaftliche Proteste wie die Rocker-Protestrevolution vom September 1989 spielten als Auslöser der Demonstrationen ebenfalls eine Rolle. Allerdings reichten die Gemeinsamkeiten solcher Aktivisten mit der Bevölkerung meist nur solange, wie man (bis etwa Anfang November) gemeinsam den Alleinherrschaftsanspruch der SED infrage stellte. Als es dann um die Frage ging, wohin sich alles nach dem Ende der Diktatur entwickeln soll, trennten sich die Wege, übrigens auch innerhalb des Neuen Forums.

UNIJOURNAL: Anfangs wollten die Protagonisten der DDR-Bürgerbewegung einen demokratischen Sozialismus, dann wurde unter ihnen, aber auch in der Bevölkerung, die Forderung nach einer Vereinigung beider deutscher Staaten laut, schließlich kam es anstelle der Vereinigung zweier souveräner Staaten zum Beitritt des einen zum andern. Was waren die Haupteinflussfaktoren für diese Entwicklung?

DR. MICHAEL RICHTER: Hier muss man unterscheiden. Die am 7. Oktober 1989 gegründete "Sozialdemokratische Partei in der DDR" (SDP) forderte von Anfang an eine freiheitliche Demokratie. Auch bei anderen Gruppen wie "Neues Forum", "Demokratie Jetzt" oder "Demokratischer Aufbruch" gab es neben Forderungen nach einem demokratischen Sozialismus solche nach freiheitlicher Demokratie. Die Alternative war ja zunächst nicht nur die zwischen Sozialismus und Wiedervereinigung, sondern es ging um den Grad der Demokratisierung der DDR. Was ist denn demokratischer Sozialismus anderes als eine Herrschaftsform, bei der sozialistische Prinzipien wie das Staatseigentum nicht in Frage gestellt werden dürfen und nur Parteien erlaubt sind, die sozialistische Ziele vertreten? Die Mehrheit wollte eine wirkliche Demokratie und keine vom MfS-Verfassungsschutz abgesicherte Semi-Demokratie à la Modrow und Gysi. Als Alternative bot sich seit Ende November 1989 immer mehr Menschen der Weg zur Vereinigung mit der Bundesrepublik an. Seit zum Wissen über die marode Wirtschaft auch noch das über die völlige Überschuldung der DDR kam, sah man in der deutschen Einheit nicht nur eine Gewähr gegen neue sozialistische Experimente, sondern auch einen sicheren Weg zu mehr Wohlstand. Der einzige Weg dahin war der über eine Demokratisierung der DDR. International war die Entscheidung einer demokratisch gewählten DDR-Regierung für ein Zusammengehen mit der Bundesrepublik unabdingbare Grundlage für die Wiedervereinigung. Immerhin handelte es sich ja um international anerkannte souveräne Staaten. Hier nun bot das Grundgesetz zwei mögliche Wege an, den des Beitritts (Artikel 23) und den der Einheit durch Ausarbeitung einer deutschen Verfassung durch die Verfassungsorgane beider Staaten (Artikel 146). Die Mehrheit entschied sich für den schnellen Beitritt, der bereits am 3. Oktober 1990 vollzogen wurde. Dabei spielte die Befürchtung eine wichtige Rolle, das "window of opportunity", wie Bundesaußenminister Genscher damals meinte, könne sich schnell wieder schließen.

UNIJOURNAL: Welche Rolle spielten dabei Geheimdienste und Medien auf beiden Seiten?

DR. MICHAEL RICHTER: Die Rolle des MfS, im November 1989 in "Amt für Nationale Sicherheit" umbenannt, ist gut dokumentiert. Es war wie stets zuvor "Schild und Schwert der Partei". Seine Knüppelorgien und Massenfestnahmen im Herbst 1989 sind bestens dokumentiert. Weniger bekannt ist, dass Hans Modrow und Gregor Gysi noch im Januar 1990 versuchten, das nun in "Verfassungsschutz" umbenannte MfS für den Erhalt einer reformsozialistischen DDR und für den Kampf gegen die Opposition zu nutzen. Das führte Mitte Januar zum Aufruf der neuen Kräfte und zu Protesten gegen die SED-PDS sowie zum Sturm der MfS- Zentrale in der Berliner Normannenstraße.

Es gibt auch etliche Hinweise auf Aktivitäten westlicher Geheimdienste in dieser Zeit. Im Gegensatz zur Offenlegung der meisten MfS-Unterlagen lassen sich diese Dienste aber bis heute nicht in die Karten gucken. Als Historiker kann ich hier nur Vermutungen anstellen. Als ziemlich sicher kann gelten, dass sich viele westliche Geheimdienstler am Sturm auf die MfS-Zentrale in der Berliner Normannenstraße beteiligten und dort brisante Unterlagen an sich nahmen. Für Schauermärchen halte ich die Berichte von SED und MfS vom Sommer 1989, dass hinter den neuen Oppositionsgruppen, die gesellschaftliche Veränderungen forderten, in Wirklichkeit der westliche Imperialismus samt seinen Geheimdiensten stehe, die auf einen Sturz des Sozialismus hinarbeiteten. Ich glaube eher, dass die bundesdeutschen Dienste ein ziemlich lahmer Haufen waren. Bundeskanzler Kohl hat einmal geurteilt, der BND habe kaum bessere Berichte geliefert als "Der Spiegel". Der Verfassungsschutz war von MfS-Agenten durchsetzt.

Dagegen dürfte der sowjetische Geheimdienst, das KGB, schon eine wichtige Rolle gespielt haben. Freilich galt er, wie andere sowjetische Institutionen, damals eher als Reformkraft. Politbüromitglied Günter Schabowski spricht mit Blick auf Hans Modrow und Markus Wolf immer von der KGB-Gruppe, deren Auftrag es gewesen sei, die DDR auf Perestroika-Kurs zu bringen, um sie so als Staat zu erhalten. Das klingt durchaus plausibel. Möglicherweise hat der KGB auch dazu beigetragen, dass die SED-Führung letztlich auf die Anwendung von Gewalt gegen Demonstranten verzichtete.

Die DDR-Medien haben bis auf wenige Ausnahmen (in Dresden "Die Union") eine eher unrühmliche Rolle gespielt. 1989 wurde lange Zeit vergeblich "Glasnost" gefordert, also Durchsichtigkeit. Nur sehr langsam änderte sich das Profil der DDR-Medien und -Zeitungen, weswegen sich die Menschen mehrheitlich bei den Westmedien informierten. Diese hatten so natürlich enorme Einflussmöglichkeiten. Wenn die ARD berichtete, dass an einem bestimmten Tag eine Demo geplant sei, gingen die Leute dorthin. Dank der Berichte über Oppositionelle genossen diese einen bestimmten Schutz. Man konnte sie nicht einfach verhaften, ohne internationale Aufmerksamkeit zu erregen. Die Westmedien haben die Friedliche Revolution befördert, ohne aber selbst ein auslösender Faktor gewesen zu sein. In dem Maße, in dem sich die DDR-Medien öffneten, nahm (vor allem ab Anfang 1990) ihre Bedeutung schnell zu.

UNIJOURNAL: Welche Rolle spielten die Kirchen im Herbst 1989 und im Prozess der deutschen Einheit?

DR. MICHAEL RICHTER: Es ist ja bekannt, dass sich insbesondere unter dem Dach der evangelischen Kirchen im Vorfeld der Friedlichen Revolution zahlreiche Gruppen bildeten, die sich kritisch mit den DDR-Verhältnissen befassten. Im Laufe des Jahres 1989 distanzierten sich wichtige Bischöfe vom bisherigen Weg der "Kirche im Sozialismus" und forderten offen eine Demokratisierung der DDR. Die Diskussionen im Rahmen der Ökumenischen Veranstaltungen des Konziliaren Prozesses in der DDR konfrontierten die enge ideologische SED-Sicht mit einem Denken, in dem Antworten auf akute globale Probleme gesucht wurden. Andererseits gab es etliche Bischöfe, Superintendenten und Pfarrer, die das Regime mehr oder weniger offen unterstützten. Die Situation in der evangelischen Kirche war also eher geteilt. Im Herbst 1989 trugen viele Kirchen durch Aufrufe zur Friedlichkeit bei und organisierten Friedensandachten. Die meisten Moderatoren an den Runden Tischen waren Kirchenvertreter.

Im Prozess der deutschen Einheit versuchten die Kirchen ihre amtskirchlichen Interessen zu vertreten. In Sachsen, wo die Katholiken als Minderheit in der Diaspora leben, gelang es ihnen, sich einen überproportionalen Einfluss in Politik und Gesellschaft zu sichern. Generell änderte die damalige Entwicklung aber wenig am Bedeutungsverlust durch die allgemeine Säkularisierung.

UNIJOURNAL: Wie entwickelten sich die "Wende"-Ereignisse in Sachsen? Welche sächsische Stadt darf als "Wiege" der Wende gelten?

DR. MICHAEL RICHTER: Leipzig hat mit seinen Montagsdemonstrationen schon im September 1989 eine besondere Rolle gespielt. Anfang Oktober folgten Demonstrationen unter anderem in Plauen, Hainichen, Dresden und Karl-Marx-Stadt (Chemnitz). Bald gingen die Menschen auch überall in den Kreisstädten und in vielen kleineren Kommunen auf die Straße. In der "Provinz" wurden die Ergebnisse festgeklopft, Schrittmacher aber waren die größeren Städte. Vor allem die Bedeutung der Massenkundgebung am 9. Oktober in Leipzig mit 70.000 Teilnehmern ist unbestritten, aber auch der 8. Oktober in Dresden mit seinem Durchbruch zum Dialog und der Bildung der Gruppe der 20. Insgesamt darf Sachsen wohl zu Recht als Kernland der Friedlichen Revolution gelten. Mit Blick auf deren Bedeutung hat Joachim Gauck kürzlich von den "wundervollen Sachsen" gesprochen. Zu Recht wird die besondere Bedeutung Leipzigs betont, als "Wiege" aber werden sich wohl etliche Städte bezeichnen.

UNIJOURNAL: Welche Bevölkerungskreise trieben die Entwicklung in Sachsen voran?

DR. MICHAEL RICHTER: Zunächst spitzte sich die Entwicklung durch die Massenflucht zu. Die Opposition formulierte ab dem Sommer 1989 gesellschaftliche Alternativen und wurde so zum wichtigen Katalysator. Am wichtigsten aber waren die Massenproteste auf den Straßen und bei Dialogveranstaltungen. Vom Oktober 1989 bis in den Januar 1990 hinein sorgten die Demonstranten dafür, dass die Entwicklung nicht stagnierte. "Schließt euch an, wir brauchen jeden Mann!" war ein Ruf jener Tage. Es waren insbesondere politisch aktivere Teile der breiten Bevölkerung, die auf die Straße gingen. Leipzig erreichte bei Montagsdemonstrationen Werte von etwa 60 Prozent der Stadtbevölkerung, wobei hier natürlich viele von außerhalb kamen. Aber es war schon die Bevölkerung, die dort demonstrierte und nicht "Asoziale und Rowdys", wie von der SED behauptet.

UNIJOURNAL: Welche Rolle spielten Intellektuelle?

DR. MICHAEL RICHTER: Anders als die "technische Intelligenz" unterstützten viele "geisteswissenschaftliche" Intellektuelle das SED-Regime. Insbesondere ab September 1989 aber gab es eine wachsende Zahl von Künstlern und "Kulturschaffenden", die einen gesellschaftlichen Neuanfang forderten. Ihre Bedeutung als mögliche Wortführer revolutionärer Veränderungen sank rapide, als sich viele von ihnen zu Fürsprechern einer Erneuerung des Sozialismus oder eines Dritten Weges machten. Die Bevölkerung wandte sich von ihnen ab und denen zu, die die deutsche Einheit propagierten.

UNIJOURNAL: Was sehen Sie als bleibende Errungenschaft aus der "Wende", was als eine Niederlage an?

DR. MICHAEL RICHTER: Das fragen Sie mich bitte in hundert Jahren noch mal. Im Moment ist die Gemengelage gemischt. Tatsache ist, dass die DDR-Bürger in einer Revolution Freiheit und Demokratie errungen und damit die deutsche Einheit ermöglicht haben. Deutschland wurde so auf ein neues, historisches Fundament gestellt. Europa veränderte sich. Die Bedeutung ist also enorm. Gewünscht hätte ich mir, dass mehr vom Geist der Friedlichen Revolution erhalten geblieben wäre, von der Courage und dem Mut der Leute auf der Straße. Schlecht wird mir, wenn ich heute auf NPD-Plakaten zur Landtagswahl "Wir sind das Volk!" lese.


Michael Richter, seit 1994 Wissenschaftlicher Mitarbeiter im Hannah-Ahrendt-Institut an der TU Dresden, veröffentlichte eben das Grundlagenwerk "Die Friedliche Revolution. Aufbruch zur Demokratie in Sachsen 1989/90", 2 Bände, Vandenhoecke & Ruprecht, Göttingen 2009 ISBN: 978-3-525-36914-2

Stationen: 1986-1989 Wissenschaftlicher Mitarbeiter im Archiv für Christlich-Demokratische Politik in Sankt Augustin, 1989-1994 Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Seminar für Osteuropäische Geschichte der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn.


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Quelle:
Dresdner UniversitätsJournal, 20. Jg., Nr. 16 vom 13.10.2009, S. 9
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veröffentlicht im Schattenblick zum 21. Oktober 2009