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NEUZEIT/195: Medien - Die wahren Helden des 9. November (Leibniz)


Leibniz - Journal der Leibniz-Gemeinschaft 3/2009

Die wahren Helden des 9. November
Bislang wenig beachtet, spielten die Medien beim Mauerfall eine wichtige Rolle

Von Christoph Herbort-von Loeper


Die Medien haben den Ansturm Zehntausender DDR-Bürger ausgelöst, der die Mauer am 9. November 1989 zum Einsturz brachte - so lautet die These des Historikers Hans-Hermann Hertle vom Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam. Warum für ihn der "Tagesthemen"-Moderator Hanns Joachim Friedrichs einer der wichtigsten "Maueröffner" ist, erläutert er im Interview mit Christoph Herbort-von Loeper.


Christoph Herbort-von Loeper: Herr Hertle, was haben Sie am Abend des 9. November 1989 gemacht?

Dr. Hans-Hermann Hertle: Wie es sich für einen aufstrebenden Forscher gehört - ich war damals Industriesoziologe an der Freien Universität in Berlin -, sichtete ich den ganzen Abend überaus spannende Akten zur Geschichte der Industriegewerkschaft Chemie-Papier-Keramik (lacht), - und zwar fernab in einem privaten Archivkeller in der Nähe von Frankfurt am Main.

Christoph Herbort-von Loeper: Ist es nicht merkwürdig, dass Sie in Gewerkschaftsakten vertieft waren, während mit dem Mauerfall das welthistorische Ereignis seinen Lauf nahm, das später im Zentrum Ihres Forscherlebens stehen sollte?

Dr. Hans-Hermann Hertle: Nein, überhaupt nicht, denn daraus ist später eine bedeutende organisationssoziologische Gewerkschaftsstudie entstanden. Und außerdem hatte ich nur dadurch die für eine Analyse dieses Weltereignisses nötige Distanz. (lacht). In Berlin sagte mein damaliger Chef Professor Theo Pirker zu uns: "Den Zusammenbruch des Kommunismus erleben wir nur einmal. Lasst alles stehen und liegen, geht rüber nach Ost-Berlin, beobachtet, dokumentiert und sammelt alles, was zu sammeln ist." So kam ich relativ schnell an Unterlagen des Politbüros, in denen die katastrophale wirtschaftliche Lage der DDR zum Ausdruck kam. Es wurde auch klar, dass in der DDR-Führung beim Fall der Mauer etliches schief gelaufen sein musste.

Christoph Herbort-von Loeper: Zum Beispiel, dass die Westmedien nach der legendären Pressekonferenz des Sekretärs des SED-Zentralkomitees für Informationswesen, Günter Schabowski, den Fall der Mauer meldeten, obwohl dieser weder geplant noch realisiert war. War der Mauerfall also das erste welthistorische Ereignis, das auf einer Medien-Ente basiert?

Dr. Hans-Hermann Hertle: Von einer Medien-Ente zu sprechen, ist sicher übertrieben. Aber der Mauerfall war tatsächlich das erste welthistorische Ereignis, das als Folge seiner vorauseilenden Verkündung in Fernsehen und Hörfunk eintrat. Es war nämlich nicht so, dass der Ansturm der Massen auf die Grenzübergänge direkt nach der Pressekonferenz einsetzte, sondern erst später. Im Grunde erst, nachdem die "Tagesthemen" gemeldet hatten, die Mauer sei gefallen.

Christoph Herbort-von Loeper: Aber Schabowski hatte doch verkündet, dass "Privatreisen nach dem Ausland ohne Vorliegen von Voraussetzungen" möglich sein würden, und zwar "sofort und unverzüglich".

Dr. Hans-Hermann Hertle: Das stimmt. Mit den neuen Reiseregelungen wollte sich die SED-Führung, die durch die Demonstrationen unter immensem Druck stand, Luft verschaffen, indem dauerhafte Ausreisen von unzufriedenen Gruppen sofort ermöglicht werden sollten. Privatbesuche im Westen waren auf Antrag mit Visum im Reisepass und dadurch mit gewisser Wartezeit geplant. Für diese Regelungen galt der 10. November als Stichtag. Diese Sperrfrist hatte Egon Krenz aber Schabowski nicht mitgeteilt, und daher las Schabowski aus einer vorbereiteten Erklärung vor, die aber erst am 10. November veröffentlicht werden sollte - deshalb stand da "sofort und unverzüglich" drin.

Christoph Herbort-von Loeper: Das aber interpretierten die West-Medien als plötzliche Öffnung der Mauer.

Dr. Hans-Hermann Hertle: Nach der Pressekonferenz mussten die westlichen Journalisten aus den verwirrenden Informationen, die Schabowski vorgetragen hatte, eine Nachricht machen. Die Deutsche Presseagentur (DPA) zitierte ihn fast wörtlich. Die Agentur Associated Press (AP) versuchte, die Aussagen Schabowskis zu interpretieren. Schon um 19:05 Uhr preschte AP vor und meldete: "DDR öffnet Grenze". Das war nicht falsch, aber zu früh, denn es war erst für den nächsten Tag geplant. Es folgte ein wahrer Wettlauf zwischen AP und DPA, der dazu führte, dass noch vor der "Tagesschau" um 20 Uhr gemeldet wurde: "DDR-Grenze ist offen". Der Höhepunkt waren die "Tagesthemen" um 22:42 Uhr. Der Moderator Hanns Joachim Friedrichs hatte vor der Sendung keinen Kontakt zu seinem Außenreporter Robin Lautenbach, der am Übergang Invalidenstraße stand. Als Friedrichs, basierend auf den Agenturmeldungen, die Sendung mit den Worten "Die Tore in der Mauer stehen weit offen" einleitete, war Lautenbach wiederum irritiert, denn an der Invalidenstraße war die Grenze geschlossen. Um sich einen Reim darauf machen zu können, erklärte Lautenbach die Situation an der Invalidenstraße kurzerhand zur Ausnahme und meldete, andere Übergänge seien bereits offen. Danach machten sich die Ost-Berliner, die die "Tagesthemen" zu Tausenden angeschaut hatten, massenhaft auf den Weg zu den noch geschlossenen Grenzübergängen. Da aber immer mehr Menschen zur Grenze drängten, gipfelte die Situation dann in der Meldung des Grenztruppen-Oberstleutnants Edwin Görlitz an der Bornholmer Straße an die Stasi-Zentrale "Wir fluten jetzt!".

Christoph Herbort-von Loeper: So viel Einfluss hatten die Westmedien? Warum hatte die SED-Führung zwischen 19 Uhr und 22:30 Uhr nichts unternommen, um Schabowskis falsche Verlautbarung zur korrigieren?

Dr. Hans-Hermann Hertle: Die Westmedien haben diesen Einfluss nur durch die handlungslahme SED-Führung erhalten, die in einer ZK-Sitzung saß. Niemand konnte die Parteiführung erreichen, um sie über Schabowskis Lapsus zu informieren. Als sie über die Situation aufgeklärt wurde, gab es nur noch die Alternative, entweder Panzer einzusetzen oder aber den Dingen freien Lauf zu lassen. Die Hoffnung war, am nächsten Morgen die Grenze wieder schließen zu können, um nach dem ursprünglich geplanten Prozedere zu verfahren. Aber spätestens von diesem Tag an war die Führung nicht mehr Herr der Lage.

Christoph Herbort-von Loeper: Ihre These vom maßgeblichen Einfluss der Westmedien auf den Fall der Mauer haben Sie jetzt erstmals im Nachwort zur 11. Auflage Ihres Buchs "Der Fall der Mauer" formuliert. Wie kommen Sie zu der Erkenntnis, die Medien seien "Die wahren Helden des 9. November"?

Dr. Hans-Hermann Hertle: Aufgrund von Augenzeugen-Aussagen bin ich lange davon ausgegangen, dass die Öffnung der Grenze an der Bornholmer Straße bereits um 22:30 Uhr erfolgte. Auf Original-Filmaufnahmen eines Kamerateams von Spiegel TV, das am Abend nach den "Tagesthemen" zur Grenze geeilt war, konnte ich aber sehen, dass der Schlagbaum erst kurz nach 23:20 Uhr geöffnet wurde. Das war entscheidend dafür, den Ablauf der Ereignisse neu zu deuten: Eine Fiktion ergriff die Massen und wurde dadurch Realität.


Dr. Hans-Hermann Hertle ist seit 1999 wissenschaftlicher Mitarbeiter und Pressesprecher am Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam. Zahlreiche Veröffentlichungen, Hörfunkbeiträge und Dokumentarfilme zur Sozial- und Zeitgeschichte, vor allem zur Geschichte der DDR. Hertle ist u.a. Träger des Bayerischen Fernsehpreises (2000) und des Grimme-Preises (2005).


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Quelle:
Leibniz - Journal der Leibniz-Gemeinschaft, Nr. 3/2009, Seite 8-9
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veröffentlicht im Schattenblick zum 22. Oktober 2009