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NEUZEIT/202: Vor 35 Jahren vertrieben vietnamesische Befreiungskämpfer die US-Invasoren (jW)


junge Welt - Die Tageszeitung - Ausgabe vom 30. April 2010

Besatzer vertrieben

Vor 35 Jahren jagten die vietnamesischen Befreiungskämpfer in Saigon die US-amerikanischen Invasoren buchstäblich ins Meer. Der Sieg dieses nationalen Unabhängigkeitskampfes ist von höchst aktueller Bedeutung

Von Gerhard Feldbauer


Am 30. April 1975 gegen 11.30 Uhr Ortszeit stieß die Vorausabteilung eines Panzerregiments der Befreiungsarmee in das Zentrum der südvietnamesischen Hauptstadt Saigon vor. Die T-54 donnerten an der US-Botschaft vorbei zum Doc-Lap-Palast, dem Sitz des Präsidenten des Regimes. Der Führungspanzer rammte das schmiedeeiserne Tor auf. Regimentskommandeur Oberst Bui Van Tung kletterte aus dem Geschützturm und ging mit einigen Offizieren die Treppen zum Palast hinauf. Es regte sich kein Widerstand. Als Tung den Sitzungssaal betrat, erhoben sich Duong Van Minh, dem man drei Tage zuvor das nunmehr verhaßte Amt aufgehalst hatte, und Vizepremier Vu Van Mau.


Big Minh kapituliert

»Big Minh«, wie der mit 1,80 Meter ungewöhnlich große Südvietnamese genannt wurde, hatte 1963 den Putsch gegen die US-Marionette Ngo Dinh Diem angeführt. Gelegentlich hatte er in den letzten Jahren allgemein zu einem »Friedensschluß« aufgerufen. So hatte ihn US-Botschafter Martin Graham für den Mann gehalten, der für die »Viet Cong« noch am ehesten akzeptabel für eine Übergabe sein könnte. Einige Stunden zuvor hatte Minh über den Rundfunk die Bereitschaft zur Kapitulation erklärt, sich dabei als erster Saigoner Politiker an die Regierung der Republik Südvietnam gewandt, zur Beendigung des Blutvergießens aufgerufen und angekündigt, »die Verwaltung ordnungsgemäß zu übergeben«. Im Präsidentensaal hatte er das Emblem der Marionettenrepublik entfernen und ein neues mit einer Blume, die Frieden und Einheit symbolisieren sollte, anbringen lassen. Nun stand der große Minh im dunkelblauen Anzug dem Panzerobersten gegenüber und sagte so entgegenkommend wie möglich: »Wir erwarten Sie, um Ihnen alles zu übergeben.« Der antwortete ihm knapp: »Sie haben hier nichts mehr zu übergeben. Es bleibt Ihnen nur noch die bedingungslose Kapitulation.« Die unterschrieb Minh dann auch, gab sie über den Rundfunk bekannt und forderte die Reste der Saigoner Armee auf, den Kampf einzustellen und die Waffen niederzulegen.

Auf dem Flugplatz Tan Son Nhut hatten Einheiten der Befreiungsarmee inzwischen den letzten Widerstand gebrochen, Ministerien und wichtige Dienststellen, den Generalstab, Rundfunk- und Fernsehstationen besetzt und die Verkehrsknotenpunkte unter ihre Kontrolle gebracht. Partisanen aus dem Saigoner Untergrund hatten sie unterstützt. Das Saigoner Regime war zusammengebrochen, der Ministerpräsident verschwunden. Es waren keine Minister mehr anzutreffen, und die meisten Generäle hatten ebenfalls das Weite gesucht. Ihre Familien hatten viele bereits Monate zuvor in Erwartung der Niederlage nach Bangkok evakuiert. Beamte und Offiziere plünderten die Läden der Geschäftsviertel. Fernsehgeräte, Fotoapparate, Radios, Duschen, Toiletten, Fensterrahmen, Lampen - alles wurde weggekarrt.


Letzter US-Befehl

Erst am 28. April hatte US-Präsident Gerald Ford seinen Botschafter angewiesen, mit der Evakuierung zu beginnen und sich selbst in Sicherheit zu bringen. Bis zuletzt war diese hinausgezögert worden, weil man nicht mit einer so raschen Einnahme Saigons gerechnet hatte. Während die Evakuierung begann, rauchten auf dem Botschaftsgelände die Verbrennungsöfen, in die CIA-Beamte ihre Geheimakten warfen. Wie später bekannt wurde, fielen aufschlußreiche Top-Secret-Dokumente in die Hand der Demokratischen Republik Vietnam (DRV), darunter auch Listen von Agenten der CIA. Das war umso prekärer, als auch der Saigoner Stationschef, Tom Polgar, es nicht geschafft hatte, viele seiner wichtigsten IM auszufliegen. Ihm selbst war es gerade noch gelungen, sich mit einem Hubschrauber zum Kommandantenschiff »Blue Ridge« abzusetzen. Dem verbliebenen Personal standen 81 »Avican«-Helikopter zur Verfügung. Sie starteten vom Dach der Botschaft und den Dächern einiger umliegender Gebäude zu den vor der Küste liegenden Kriegsschiffen. US-Marines sicherten im Botschaftsgebäude die Treppen, über die Vietnamesen nach oben drängten, um mitgenommen zu werden. Sie schwenkten ihre Pässe mit den US-Visa, die sich manche für 100.000 US-Dollar in Hongkong besorgt hatten. Wütende Saigoner Soldaten schossen auf abfliegende Maschinen, US-Marines erwiderten das Feuer. Als der letzte Hubschrauber abhob, waren in den unteren Geschossen bereits Plünderer am Werk. Die zahlreichen Mitarbeiter des amerikanischen Konsulats flohen mit zwei Flußschiffen auf dem Mekong in Richtung Meer. Hubschrauber der Saigoner Luftwaffe beschossen sie mit MGs. Zurück blieben Tausende hoher Marionetten, denen Botschafter Graham ebenfalls die Evakuierung versprochen hatte. Insgesamt war geplant gewesen, 130.000 Vietnamesen, enge Kollaborateure Washingtons, in den USA aufzunehmen. Die noch in Südvietnam verbliebenen 25.000 amerikanischen Militärberater waren in den vorangegangenen Tagen abtransportiert worden.

Als Minh die Saigoner Truppen aufforderte, das Feuer einzustellen, hatten diese bereits aufgehört zu kämpfen. Auf Straßen und Plätzen stapelten sich die von ihnen weggeworfenen Waffen zu großen Haufen. Vor öffentlichen Gebäuden und an Straßenkreuzungen standen bereits am Abend des 30. April Posten der Befreiungsarmee in ihren olivgrünen Uniformen. Die Plünderungen hörten schlagartig auf. Auf Straßen und Plätzen wurden die Befreier stürmisch begrüßt. Die Bevölkerung überzeugte sich bald durch die Realität, daß die von den USA und ihren Saigoner Marionetten betriebene Greuelpropaganda mitnichten der Wahrheit entsprach. Es gab keine Erschießungen, keine Gewalt, keine Plünderungen. Die Bo Doi, die Volkssoldaten, wie die Befreiungskämpfer genannt wurden, erwiesen sich tatsächlich als Menschen aus dem Volk. Es gab Situationen, da verhinderten sie, daß Saigoner Offiziere oder Beamte aus Angst vor ihnen Selbstmord begingen.


Ende der Besatzung

Mit der Einnahme Saigons am 30. April 1975 ist Südvietnam nach zwei Jahrzehnten amerikanischer Besatzungsherrschaft befreit, sind die Ketten eines fast ein Jahrhundert währenden Kolonialjochs, das einst Frankreich errichtet hatte, zerbrochen. Mit Saigon, mit Vietnam feiern am folgenden Tag Millionen in aller Welt, die an der Seite des Landes standen, den 1. Mai als Tag des Sieges. Der Oktoberklub der DDR widmet dem Ereignis ein Lied: »Alle auf die Straße, rot ist der Mai, Saigon ist frei«.

Von 1967 bis 1970 erlebten meine Frau Irene und ich als Journalisten in Nordvietnam, das damals Demokratische Republik Vietnam hieß, den Kampf des vietnamesischen Volks. Wir sahen das Land unter dem Hagel amerikanischer Bomben, kaum zu beschreibendes Leid, aber auch den unbeugsamen Willen von Menschen, die ihre unter unsagbaren Opfern errungene Freiheit und Unabhängigkeit verteidigten. Wir wurden Zeugen des Scheiterns der barbarischen US-Luftaggression und während des Tet-Festes im Frühjahr 1968 der strategischen Wende im Befreiungskampf in Südvietnam. Im Spätherbst 1970 nahmen wir in der Gewißheit Abschied, daß Vietnam siegen würde.

Vietnam siegte über die Militärmacht der USA, die stärkste der westlichen Welt. Als Nachfolger der französischen Kolonialisten hatten die Vereinigten Staaten seit 1955 Vietnam mit einem barbarischen Vernichtungskrieg überzogen, um das Land in sein Stützpunktsystem gegen die UdSSR und die VR China einzubeziehen. Die große Hilfe des damals existierenden sozialistischen Lagers, darunter Lieferungen modernster konventioneller Waffen aus Moskau und aus Peking, die weltweite Solidarität der Völker und ihrer Friedenskräfte, eingeschlossen die in den USA selbst, waren entscheidende Grundlagen dieses Sieges. Aber die letztlich ausschlaggebende Bedingung, daß diese Faktoren zur Geltung kommen konnten, war der nicht zu brechende Widerstandswille des Volkes, der in den Traditionen nationalen und antikolonialen Widerstandes wurzelte, den zu mobilisieren eine Kommunistische Partei verstand, die der legendäre Führer Ho Chi Minh gegründet hatte. Zu keinem Zeitpunkt kämpften ausländische Truppen an der Seite der vietnamesischen Patrioten. Entsprechende Angebote hatte die DRV stets abgelehnt. Das geschah auch unter dem Gesichtspunkt, den USA keinen Vorwand für ihren eigenen massiven Truppeneinsatz zu liefern. Wohl aber befanden sich in beträchtlicher Zahl militärische Berater und Ausbilder der UdSSR in Nordvietnam, die sich auch in den Raketen- und Artilleriestellungen aufhielten. Bis heute sind dazu die Archive nicht geöffnet worden. Wenn das einmal geschehen sollte, wird man erfahren, wie viele sowjetische Militärs in diesem Kampf ihr Leben gelassen haben.

Daraus die These abzuleiten, es habe sich um einen Stellvertreterkrieg gehandelt, entspricht nicht der tatsächlichen Entwicklung. Daran ändert auch die Tatsache nichts, daß natürlich die Militärs der UdSSR wie die der USA in Vietnam ihre Waffen, darunter ihre modernsten MiG-Jäger-Typen und Luftabwehrraketen erprobten und der Sieg in Saigon ohne die schweren sowjetischen Waffen (Panzer, Artillerie und zuletzt auch Luftabwehr) nicht möglich gewesen wäre. Pentagon-Militärs gaben übrigens mehrfach zu, daß die in Vietnam eingesetzten MiGs damals den entsprechenden US-Typen überlegen waren und die sowjetischen SAM-Luftabwehrraketen bei den Air-Force-Piloten, so Oberst Robin Olds, der über Nordvietnam im Einsatz war, als »furchterregende Raketen« galten.


537.000 GIs

Obwohl ab 1965 neben einer halben Million Saigoner Söldner 537.000 Mann Bodentruppen der USA in Südvietnam eingesetzt wurden, gelang es nicht, die Befreiungsbewegung zu zerschlagen. Dabei wurde jeder Widerstand grausam unterdrückt. In den Gefangenenlagern und Zuchthäusern schmachteten nach einem Bericht von Amnesty International 1972 zwischen 200.000 und 300.000 politische Gefangene. Das berüchtigtste Lager war die sogenannte Teufelsinsel auf Con Son, auf der 10.000 Menschen eingekerkert waren. Dort gab es bereits die furchtbaren Tigerkäfige für Gefangene, die in den letzten Jahren von dem US-Gefängnis auf Guantánamo bekannt wurden.

Im Dezember 1960 schlossen sich in Südvietnam 23 Parteien, Organisationen und buddhistische Vereinigungen zur Befreiungsfront FLN zusammen. Am 15. Februar 1961 folgte die Zusammenfassung der regionalen Partisaneneinheiten zur nationalen Befreiungsarmee, die 1963 etwa 350.000 Soldaten und Offiziere zählte. Die DRV hat nie geleugnet, den Befreiungskampf im Süden zu unterstützen. Daß man dabei keine Angaben über die dort kämpfenden Nordvietnamesen machte, ist verständlich. Gleiches galt für die Waffenlieferungen, die nach Süden gingen. Im Juni 1969 proklamierten die FLN und weitere Befreiungsorganisationen die Republik Südvietnam und bildeten eine provisorische Regierung. Zu dieser Zeit beherrschten die Befreiungskräfte bereits etwa zwei Drittel des Territoriums Südvietnams.

1968 mußten die USA unter dem Druck der Weltöffentlichkeit Friedensgesprächen in der französischen Hauptstadt zustimmen und in den 1972 geschlossenen Pariser Abkommen »die Unabhängigkeit, Souveränität, Einheit und territoriale Integrität Vietnams« anerkennen und in einem Waffenstillstand zustimmen, daß die Streitkräfte beider Seiten dort verblieben, wo sie sich befanden. Das schloß die Anerkennung ein, daß an der Seite der südvietnamesischen Befreiungsarmee auch Nordvietnamesen kämpften.

Die USA brachen wie schon nach 1954 die Genfer Indochina-Abkommen auch die Pariser Verträge. Sie zogen zwar ihre regulären Truppen aus Südvietnam ab, ließen aber 25.000 Militärberater zurück, die faktisch die Saigoner Truppen führten. Die Marionettenarmee wurde auf über 1,2 Millionen Mann aufgestockt und mit modernsten konventionellen Waffen ausgerüstet (900 Kampfflugzeuge, 400 Kampfhubschrauber, 2.100 Panzer und Geschütze). Sie galt nach der Militärmacht der Volksrepublik China als zweitgrößte Streitmacht Asiens.

Daß die USA in Paris Verhandlungen zustimmten, ergab sich auch aus dem desolaten Zustand ihrer Truppen in Südvietnam. In den USA waren etwa 300 Gruppen oder Komitees unter Namen wie »GIs für den Frieden« und »GIs gegen den Krieg« aktiv. Sie trugen dazu bei, daß während des Krieges 206.000 US-Amerikaner den Kriegsdienst verweigerten und 423.422 GIs desertierten. Etwa 1000 Offiziere und Unteroffiziere wurden in Südvietnam von ihren eigenen Soldaten umgebracht. Das Armed Forces Journal befürchtete im Juni 1971 einen »Zusammenbruch« der in Südvietnam stehenden Truppen. Ähnlich war die Situation in der Saigoner Marionettenarmee, in der 1974/75 ganze Truppenteile zu den Befreiungskämpfern überliefen.


Bundesdeutsche Hilfe

Die Konfrontation, in der sich in Kalten-Kriegs-Zeiten DDR und BRD gegenüberstanden, spiegelte sich wie beispielsweise in Kuba, Chile oder Südafrika auch und in besonderem Maße in Vietnam wider. Während der sozialistische deutsche Staat solidarisch an der Seite des Unabhängigkeitskampfes Vietnams stand, unterstützte das offizielle Bonn die US-Aggressoren politisch und wirtschaftlich, personell und moralisch, aber verdeckt auch militärisch. IG-Farben-Nachfolger BASF und die Farbwerke Hoechst beteiligten sich an der Produktion und Lieferung von Giftgasen nach Saigon. 2500 westdeutsche Techniker, darunter 121 Piloten der Bundesluftwaffe, sammelten Kriegserfahrungen in Vietnam, Bundeswehroffiziere werteten sie in der Truppe aus. Angesichts anhaltender Niederlagen der US-Armee empfahl Die Welt am 11. August 1965, sich »an die grobe Faustregel des Panzergenerals Guderian (zu) halten: nicht kleckern, klotzen!« Bundespräsident Heinrich Lübke, während des Hitlerfaschismus am Bau von KZ beteiligt, wünschte Präsident Johnson nach dem Beginn der Luftangriffe auf Hanoi in einem offiziellen Staatstelegramm am 29. Juni 1966, der Luftterror möge »von Erfolg gekrönt sein«. Wirtschaftswunder-Kanzler Ludwig Erhard ließ am 1. Juli, als bereits Berichte über die zahlreichen zivilen Todesopfer der Terrorangriffe bekannt waren, »alle Maßnahmen der Amerikaner« gutheißen. Am gleichen Tag bejubelte die Westberliner Nachtdepesche die todbringenden Waffen als »Wunder der Präzision« und forderte, Washington müsse sich entschließen, »dichtbesiedelte Industriezentren zu bombardieren«. Springers Westberliner BZ schrieb am 18. Juli, notwendig sei »ein kompromißloser Krieg, der auch vor Fabriken, Häfen, Bewässerungsanlagen und Staudämmen nicht mehr halt macht.« Erhard-Nachfolger Kurt Georg Kiesinger, Mitglied der Hitlerpartei seit 1933 und stellvertretender Leiter der Rundfunkabteilung im Auswärtigen Amt Ribbentrops, versicherte Washington in seiner Regierungserklärung am 13. Dezember 1966, die Bundesrepublik werde »entschiedener als bisher Mitverantwortung in Vietnam übernehmen«. Wir wollen jedoch nicht vergessen, daß es damals auch eine andere Bundesrepublik gab, die eine machtvolle Protestbewegung gegen den US-Krieg und eine außerordentliche Solidarität mit dem Freiheitskampf Vietnams entwickelte.


Aktuelle Vergleiche

Die vietnamesische Befreiungsrevolution und insonderheit ihr Kampf gegen die US-Herrschaft fordern bis in die Gegenwart zu höchst aktuellen Vergleichen heraus. Sie besagen, daß sich am verbrecherischen Charakter des US-Imperialismus bei der Verfolgung seiner Weltherrschaftspläne nichts geändert hat. Das betrifft auch die verlogenen Vorwände zur Auslösung von Aggressionskriegen. Dieser Bogen spannt sich von der Provokation 1964 im Golf von Tongking als Vorwand für den Luftkrieg gegen die DRV über die Rolle der US-Geheimdienste bei den Anschlägen vom 11. September 2001 zur Anzettelung des sogenannten Krieges gegen den Terrorismus bis zu den Anschuldigungen, Irak besitze Massenvernichtungswaffen als Anlaß des Überfalls auf dieses Land und den aktuellen Behauptungen gegenüber Iran. Der Widerstand gegen diese von den Vereinigten Staaten angezettelten Kriege findet heute unter sehr unterschiedlichen Kräfteverhältnissen statt. Es ist keine Führerpersönlichkeit wie Ho Chi Minh, keine Befreiungsfront, wie sie die Patrioten Vietnams zustande brachten, in Sicht. Eine Hilfe, wie sie das sozialistische Lager leistete, gibt es nicht mehr, wenngleich hier partiell bereits die VR China in die Bresche springt. Eins jedoch steht unter dem Gesichtspunkt der Lehren Vietnams schon heute fest: Die USA und alle, die sich an ihre Seite stellen, werden am Widerstandswillen, am Freiheits- und Unabhängigkeitsdrang der Völker scheitern.

1976 wurde mit der Gründung der Sozialistischen Republik Vietnam die nationale und staatliche Einheit wiederhergestellt. Dadurch wurde nicht nur das Ziel des von der Mehrheit des Volkes unterstützten 30jährigen Nachkriegskampfes verwirklicht, sondern auch der Konterrevolution ihre staatliche Basis im Süden entzogen. Dieser Schritt trug entscheidend dazu bei, daß die SRV 1989/90 die Niederlage des Sozialismus in Europa überstand. Die KPV schlug nicht den liquidatorischen Weg der osteuropäischen »kommunistischen und Arbeiterparteien« ein. Die ungeheuren Schwierigkeiten der Fortsetzung des sozialistischen Weges wurzeln nicht primär im Entwicklungsmodell, sondern ergeben sich aus den Kriegsfolgen (allein drei Millionen Opfer des chemischen Kampfmittels Agent Orange), aus der Langzeitwirkung der kapitalistischen Überreste des Südens, aus dem abrupten Verlust der internationalen sozialistischen Kooperation, dem daraus resultierenden Zwang zur wirtschaftlichen Zusammenarbeit mit der kapitalistischen Welt (der u. a. die Geißel der Arbeitslosigkeit beschert). Washington verhängte nach 1975 über Vietnam sofort einen totalen Wirtschaftsboykott. Ziel war, wie der in Manila lehrende Soziologe Walden Bello in seinem 1999 erschienenem Buch »Dark Victory. The United States, Structural Adjustment and Global Poverty« belegte, das Land in den ökonomischen Bankrott zu treiben. Wie in der militärischen Auseinandersetzung scheiterten die USA jedoch auch beim Versuch, Vietnam mit politischem und wirtschaftlichem Boykott in die Knie zu zwingen. Mit seit 2001 jährlich 7,5, 2005 sogar 8,4 Prozent wirtschaftlichen Zuwachsraten beschreitet Vietnam erfolgreich den Weg einer modernen industriellen Entwicklung. Ziel ist, wie der X. Kongreß der KPV 2006 festlegte, der Aufbau »eines unabhängigen, demokratischen, blühenden und starken Vietnam mit einer gerechten und modernen Gesellschaft, in welcher die Ausbeutung des Menschen abgeschafft« wird. Die Beschlüsse vermitteln die Gewißheit, daß dieser Prozeß unumkehrbar ist.


Gerhard Feldbauer schrieb zusammen mit seiner Frau Irene das Buch »Sieg in Saigon«, er selbst »Die Nationale Befreiungsrevolution Vietnams«, beide Pahl Rugenstein, Köln 2005/06 bzw. 2007, sowie »Damals Vietnam, heute Irak«, offensiv, Hannover 2007


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Quelle:
junge Welt vom 30.04.2010
mit freundlicher Genehmigung des Autors und der Redaktion
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veröffentlicht im Schattenblick zum 7. Mai 2010