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NEUZEIT/204: Koloniale Herrschaft basiert auf klaren Grenzziehungen (ROSA)


ROSA:39 - Die Zeitschrift für Geschlechterforschung - September 2009

Grenzsetzung und Grenzverletzung

Von Harald Fischer-Tiné


Koloniale Herrschaft basiert auf klaren Grenzziehungen: Herrschende und Beherrschte, Vormünder und "sprachlose" Mündel, weiss und schwarz lassen sich daher stets leicht unterscheiden. So zumindest die weitverbreitete Sichtweise. Aber definiert die berüchtigte "color line" ganz alleine, wie Macht in kolonialen Konstellationen verteilt ist? Ein neuer Blick auf die "Weissen" im kolonialen Indien zeigt, dass das Verhältnis zwischen Kolonialherren und Kolonisierten wesentlich komplexer war, als lange Zeit angenommen.


Der Mythos von der Existenz einer eindeutigen Hierarchie, welche die britische "ruling race" von den indischen "natives" trennte, lässt sich leicht bis zu den imperialen Selbstdarstellungen aus dem 19. Jahrhundert zurück verfolgen. Aus verständlichen Gründen war es den BritInnen ein Anliegen, sich als eine homogene Herrscherelite darzustellen. Weisssein sollte bei der kolonisierten Bevölkerung als gleichbedeutend mit einer quasi-natürlichen physischen und moralischen Überlegenheit wahrgenommen werden. Die helle Hautfarbe wurde zur Chiffre für einen hohen Zivilisationsstand und damit implizit auch für das Recht, Macht auszuüben. Die Verteidigung des "racial prestige". wie es in der zeitgenössischen Terminologie hiess, wurde daher als zentral für die Stabilität der europäischen Herrschaft angesehen. Auf "Rassenzugehörigkeit" gegründete Taxonomien waren aber zu keinem Zeitpunkt die einzigen wirkungsmächtigen sozialen Hierarchien - in Britisch-Indien ebenso wenig wie in anderen europäischen Kolonien. Insbesondere die britische Gesellschaft war derart durch interne Klassenunterschiede fragmentiert, dass es geradezu absurd wäre, sie als homogenen Block zu sehen. Differenzkategorien wie Geschlecht, Religion, regionale Herkunft und sexuelle Orientierung komplizierten das Bild noch weiter. Diese sekundären Taxonomien wurden zwar zweifellos von der kolonialen Grundkonstellation beeinflusst und verändert, verschwanden aber niemals völlig. Dies wird deutlich, wenn man sich konkrete historische Akteure aus den untersten sozialen Schichten der europäischen Kolonialgesellschaft vor Augen führt. Die folgenden beiden Beispiele solcher "weisser Subalterner" - Landstreicher und Prostituierte - illustrieren auf besonders drastische Art und Weise, wie bedrohlich es für das überwölbende imperiale Projekt der Grenzziehung zwischen Herrschenden und Beherrschten sein konnte, wenn die internen Stratifikationen allzu sichtbar wurden. Anders ausgedrückt: das koloniale Establishment befürchtete, Inderinnen und Inder, die einen verwahrlosten, betrunkenen Europäer entlang einer Eisenbahnlinie oder eine weisse Sexarbeiterin in den Rotlichtbezirken einer der grossen kolonialen Hafenstädte gesehen hatten, würden Zweifel an der von den Briten so emphatisch reklamierten Vormundschaftspflicht des weissen Mannes entwickeln.


"A darker shade of white"?

Die erste Krise des britisch-indischen Kolonialstaates, die der Existenz solcher weisser Subalterner geschuldet war, lässt sich in den 1860er und 1870er Jahren beobachten. Die in jenen Jahren energisch vorangetriebene wirtschaftliche und infrastrukturelle Erschliessung Indiens durch die Vergrösserung der Häfen und den Ausbau eines Strassen-, Eisenbahn- und Telegrafennetzes hatte das sprunghafte Ansteigen der Zahl von EuropäerInnen aus den unteren Schichten zur Folge. Nicht alle Matrosen, Eisenbahnarbeiter und Bergleute, die nun nach Indien strömten, kamen mit den Lebensbedingungen vor Ort zurecht. Arbeitslosigkeit, Krankheit und Alkoholismus liessen rasch ein weisses "Lumpenproletariat" entstehen, dessen blosse Existenz von den kolonialen Obrigkeiten von Anfang an nicht nur als soziales, sondern auch als politisches Problem wahrgenommen wurde. Das Heer der so genannte loafers (etwa: Gammler) schwoll durch ausgemusterte oder desertierte Soldaten noch weiter an und Mitte der 1860er Jahre gab es bereits vier bis fünf tausend erwerbs- und obdachlose EuropäerInnen in Britisch-Indien. Es war insbesondere das "unzivilisierte" Verhalten der weissen Landstreicher, das den Behörden Kopfzerbrechen bereitete. Bettelei, Kleinkriminalität und Übergriffe gegen die indische Bevölkerung waren an der Tagesordnung und drohten die Rhetorik der imperialen Zivilisierungsmission zu unterminieren. Die Tatsache, dass viele der weissen Vagabunden barfuss liefen und indische Kleidung trugen, wurde mit grösstem Argwohn betrachtet. Dass einige gar zum Islam übertraten, um in den Genuss der muslimischen Wohlfahrtseinrichtungen zu kommen, verwischte die fiktive "color line" vollends. Die Reaktion des kolonialen Herrschaftsapparates fiel entsprechend nachdrücklich aus: Auf der Basis eines Gesetzes, das Landstreicherei für Europäer unter Strafe stellte (European Vagrancy Act 1869), wurden zu Beginn der 1870er Jahre Arbeitshäuser exklusiv für Weisse eingerichtet. Anders als die entsprechenden Institutionen in Europa erfüllten die kolonialen workhouses eine doppelte Funktion. Sie sollten zwar ebenfalls zur Umerziehung "arbeitsscheuer" Elemente dienen und den Insassen die nötige Disziplin vermitteln, die es ihnen erlauben würde, sich mittelfristig wieder in den Arbeitsprozess einzugliedern. Mindestens ebenso wichtig war es jedoch, sie vor den Einheimischen zu verstecken, und damit die imperiale Demarkationslinie zwischen EuropäerInnen und InderInnen zu schützen. Obwohl die Zahl der obdachlosen Weissen seit den 1890er Jahren wieder stark rückläufig war, blieb der European Vagrancy Act bis zum Ende der britischen Herrschaft in Kraft. Daran lässt sich ablesen, für wie wichtig die Verteidigung der "color line" erachtet wurde.


"Weisse" Prostitution und viktorianische Werte

Noch unbequemer als die weissen Landstreicher war die kleine Gruppe der europäischen Prostituierten, die sich auf die Hafen- und Garnisonsstädte des Subkontinents konzentrierte. Neben den Normen des respektablen Verhaltens, das man mit Weisssein assoziiert sehen wollte, verletzten diese Prostituierten auch die Regeln des Anstandes, die für Angehörige ihres Geschlechts galten: Frauen, die Ihren Körper verkauften, galten auch in der heimischen Gesellschaft als bedrohliche Aussenseiter. Diese doppelte Transgression macht verständlich, das man der relativ kleinen Gruppe von weissen Sexarbeiterinnen - die grösste Ausdehnung war am Vorabend des ersten Weltkrieges mit knapp 400 registrierten "women of ill-fame" erreicht - seitens der kolonialen Verwaltung grösste Aufmerksamkeit angedeihen liess. Bereits wenige Jahre nach der Eröffnung des Suezkanals 1869, als das Problem überhaupt erst signifikante Dimensionen annahm, finden sich in den Akten der Kolonialverwaltung, die ersten Überlegungen zur Eindämmung des Phänomens, das gemeinhin als "white slave traffic" bezeichnet wurde. Dass die Migration europäischer Sexarbeiterinnen als "weisser Sklavenhandel" gedeutet wurde, ist in zweifacher Hinsicht bedeutsam. Zum einen knüpfte der Begriff an die Rhetorik der Abolitionsbewegung in Grossbritannien an und verweist auf die wichtige Rolle, die zivilgesellschaftliche Akteure (namentlich christliche Organisationen und VertreterInnen der frühen Frauenbewegung) in der Debatte spielten. Zweitens, wird in der Sklavenmetapher das Bemühen deutlich, den betroffenen Frauen Verantwortung und Handlungskompetenz abzusprechen. Weisse Frauen, die sich im Orient prostituierten, konnten nicht freiwillig in diese Lage geraten sein. Sie wurden kurzerhand kollektiv zu Opfern ruchloser (männlicher) Mädchenhändler erklärt. Zeitgenössische Quellen lassen indes keinen Zweifel daran, dass zumindest ein Teil der Frauen aus freien Stücken in die Kolonie gekommen war, wo sie als erfolgreiche (weisse) Unternehmerinnen einen Freiraum genossen, der für Frauen in den jeweiligen Heimatgesellschaften unvorstellbar gewesen wäre. Nicht wenige von Ihnen waren auch aktiv an der Suche nach Nachwuchs für die Bordelle der indischen Hafenstädte beteiligt und unternahmen ausgedehnte Rekrutierungsreisen in Europa. Das Bedürfnis nach Aufrechterhaltung der Grenzziehungen, die in der viktorianisch-patriarchalen Weltanschauung zwischen den Geschlechtern vorgenommen wurden, machte es Angehörigen der männlichen Eliten allerdings nahezu unmöglich, diese Tatsache zu akzeptieren: Frauen durften schlichtweg nicht als eigenverantwortliche Personen angesehen werden. Folgerichtig wurden daher lange Zeit auch ausschliesslich die Zuhälter beziehungsweise männlichen Partner der Sexarbeiterinnen und nicht die Frauen selbst deportiert. Man hielt an der Überzeugung fest, diese seien, wie ein Missionar aus Bombay es formulierte "more sinned against then sinning". Mit einem Verbot europäischer Prostitution tat man sich auch deshalb schwer, weil das Phänomen als notwendiges Übel betrachtet wurde. Würde man die meist aus Ost- und Südosteuropa stammenden Sexarbeiterinnen ausweisen, könnten möglicherweise in Indien lebende britische Frauen der Unterschicht ihre Rolle einnehmen. Die Folgen für das "racial prestige" der Kolonialmacht wären sehr viel gravierender. Auch eine Verlagerung des Interesses der europäischen Kundschaft aus den mittleren und oberen Schichten - und nur diese konnten sich die Liebesdienstleistungen einer weissen Sexarbeiterin überhaupt leisten - auf einheimische Prostituierte war dem ungeschriebenen Gesetz der Segregation diametral entgegengesetzt. Die Lösung, auf die die koloniale Obrigkeit am Häufigsten zurückgriff, bestand auch hier im Unsichtbarmachen der transgressiven weissen Gruppen. In Kalkutta beispielsweise wurden Bordelle mit Europäerinnen aus den zentral gelegenen grossen Rotlichtbezirken in diskrete Seitenstrassen eines Vorortes verlegt.


Schlussbetrachtung

Die beiden Beispiele zeigen, dass die normativen Grenzziehungen in kolonialen Gesellschaften keineswegs mit den sozialen Realitäten in Einklang standen. Die Randexistenzen des "weissen Prekariats" drohten, die koloniale Hackordnung auf den Kopf zu stellen. Das Vorhandensein verschachtelter und sich überkreuzender Hierarchien stellte eine grosse Herausforderung für die koloniale Herrschaftslegitimation dar. Obwohl die europäischen Eliten eine beachtliche Energie auf das Verteidigen und Neuziehen der "color line" verwandten, konnten sie die daraus resultierende Bedrohung ihrer Rechtfertigungsideologien nie gänzlich abwenden. Für die einheimische Bevölkerung war es trotz der Isolationstaktik des Kolonialstaates allzu offensichtlich, dass auch Weiss eine Farbe wie alle anderen war: sie besass viele Schattierungen. Auf einer übergeordneten Ebene lässt sich somit festhalten, dass die Ergebnisse der historischen Fallstudie aus dem kolonialen Indien die Erkenntnisse der in den Sozialwissenschaften seit einigen Jahren populären Subdisziplin der "critical whiteness studies" stützen, die auf den sozial konstruierten, relationalen und dynamischen Charakter von Weisssein verweisen.


Autor

Harald Fischer Tiné ist seit 2008 Professor für Geschichte der modernen Welt an der ETH Zürich. Er hat zuvor in Heidelberg, Berlin und Bremen gelehrt und ist mit einer Reihe von Publikationen zur Geschichte des neuzeitlichen Indien und des Britischen Empire hervorgetreten
harald.fischertine@gess.ethz.ch.


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Quelle:
ROSA:39 - Zeitschrift für Geschlechterforschung
Ausgabe September 2009, S. 4-7
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veröffentlicht im Schattenblick zum 22. Mai 2010