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NEUZEIT/214: 200 Jahre Bauernbefreiung in Westfalen (UBS)


Unabhängige Bauernstimme, Nr. 338 - November 2010
Die Zeitung von Bäuerinnen und Bauern

"...ab Martini 1810 giebt es nur noch freie Leute" 200 Jahre Bauernbefreiung in Westfalen

Von Hugo Gödde


Dieser Satz aus dem Oktoberedikt 1807 des preußischen Königs Friedrich Wilhelm III. gilt gemeinhin als der Beginn des später als Bauernbefreiung genannten Prozesses in Preußen (von Polen bis zum Rhein). Dabei galt diese Verordnung zur "Regulierung, Grundentlastung und Ablösung... den erleichterten Besitz und den freien Gebrauch des Grundeigentums sowie die persönlichen Verhältnisse der Landbewohner betreffend" nur für die Gebiete östlich der Elbe, weil Preußen gerade alle Westprovinzen durch den Tilsiter Frieden an Frankreich verloren hatte. Der eigentliche Vater der Agrarreform in Westfalen war Napoleon, der in den besetzten Gebieten das Feudalrecht aufhob. Doch die Angst vor dem revolutionären Frankreich und seinen Ideen ließ auch den Adel und Feudalstaat zurückschrecken. In dieser Zeit konnten Reformkräfte wie Stein, Hardenberg, Vincke oder auch Thaer neue Beschlüsse beim Staat, der kriegsbedingt fast bankrott war, durchsetzen. Nach der Niederlage Napoleons und dem Sieg der Restauration auf dem Wiener Kongress wurde aber in der Wirklichkeit zunächst nicht viel davon umgesetzt.


Leibeigenschaft

Das feudale Eigentumsrecht war die persönliche Abhängigkeit der Bauern von ihrem Gutsherrn, in Westfalen sprach man von der Eigenhörigkeit. Die Herrschaftsrechte und die sich daraus ergebenden finanziellen Vorteile bildeten die ökonomische Grundlage des Adels. In der Fürstlich-Münsterschen Eigentumsordnung von 1770 heißt es: "Die Leibeigenschaft ist eine Personaldienstbarkeit, d.h. der Gebrauch eines Hofes ist an die Leistung jährlicher Dienste und Abgaben gebunden."

Zu den Diensten zählte die Hand- und Spanndienste wie Gestellung von Leuten, Pferden, Ackergeräten, Fuhrwerk, aber auch Nachlassrecht. Art und Umfang der Dienste waren genau festgelegt, die Grundherren wachten penibel darüber. Auch über die Abgaben an Korn, Vieh, Geflügel - kaum ein Produkt, das nicht als Abgabe dienen konnte.

Die Dienste und das Land wurden in den 1820er Jahren von einer Kommission beurteilt und in Geldrenten umgewandelt. (Dass es dabei zu "ungerechten" Bewertungen gekommen ist, dürfte mehr als ein Gerücht sein.) Diese geldliche Ablösung sollte von den Bauern in zunächst 25, später 18 Jahreslasten getilgt werden.

Viele Bauern waren von ihrer "Befreiung" gar nicht begeistert, weil sie die Zahlungen nicht aufbringen konnten. Zudem blockierte die erstarkte Adelsherrschaft, und auch die komplizierten, oft strittigen und sich häufig ändernden Verordnungen schafften nicht gerade Vertrauen. Bis 1850 waren z.B.im Reg. Bez. Münster nur 75% der Geldrenten festgelegt und 20% des Grund und Bodens bzw. 35% der Dienste abgelöst. Erst die Einrichtung von Provinzial- und Rentenkassen mit besserer Kredithilfe (der Grundherr bekam die volle Summe ausbezahlt, die Bauern übernahmen die Hypothek) sowie die Erstarkung des Bürgertums und die Angst vor weiteren revolutionären Erschütterungen nach 1848 beschleunigte die Ablösung. Insgesamt zahlten die Bauern in Deutschland ca. 12 Mrd. Mark an Adel und Staat für ihre Befreiung (5 Mrd. Ablösung + 7 Mrd. Zinsen).


Die andere Seite: die Markenteilung

Die Marken (in Westfalen "Gemeinheit" oder Allmende genannt) waren die Grundlage der Viehhaltung, im Sommer Dorfgemeinschaftsweide, im Herbst Stoppelweide oder Waldmast. Dieses Gemeineigentum war vor allem für die unteren Schichten von großer Bedeutung, aber produktiv war es oft nicht, weil sich keiner richtig verantwortlich fühlte. Es betrug 20-45% des Bodens der Dörfer und war folglich hart umkämpft. Diese Marken wurden als Teil der Agrarreform privatisiert. Ab 1821 begann die Generalkommission die Aufteilung (eine Art Verkoppelung), die Maßnahmen zogen sich über 20 Jahre hin, wobei - wie es heißt - häufig Betrug im Spiel war. In der münsterländischen Gemeinde Schöppingen erhielten z.B. Landlose oder Viehlose nichts, Kötter zwischen 3 und 15, Bauern 20-60 Morgen. Der adelige Fürst v. Bentheim bekam 300 Morgen.


Die Folge der Agrarreformen

Die unterbäuerlichen Schichten (immerhin weit über 50% der Dorffamilien) waren die Verlierer der Maßnahmen, ihre Armut wuchs an. Vor allem in Gegenden, in denen durch die Textilkrise ab 1840 (Ostwestfalen) oder in der Eisenindustrie (Sieger-/Sauerland) (Heim-)Arbeitsplätze verloren gingen, breitete sich Verschuldung und Verelendung aus. Die Dorfarmut wurde zu einem gesellschaftlichen Thema. Zudem war das Verhältnis zwischen Bauern und Heuerlingen nicht geregelt, sondern reine Willkür. Als ein Ausweg blieb vor allem ab ca. 1840 die Auswanderung. Zehntausende trieb es besonders nach Amerika. Kleinbauern konnten ihre persönliche Freiheit erhalten, ihre Höfe waren klein und durch private und konjunkturelle Ereignisse wie Missernten, Hungersnot durch Kartoffelfäule 1845 usw. gefährdet. Viele mussten ihre Höfe verkaufen. Manche beteiligten sich 1848 am Aufruhr gegen Adel und Staat.

Größere Bauern waren z.T. Gewinner, sie erweiterten und modernisierten nach und nach ihre Höfe (mehr Vieh, Futterbau, Fruchtfolgen, erste Mechanisierung). Aber sie hingen dafür zunehmend von Marktpreisen ab, was sich vor allem in den 1820er Jahren und nach 1875 durch den Getreidepreisverfall auswirkte. Höhere Steuern, Ablösungen, Kreditklemmen u.a. führten zu Unzufriedenheiten, die die tatsächliche Lösung der Grundbesitzfrage beschleunigte. Zugleich wurden die besitzenden Bauern zunehmend Verbündete der alten Eliten gegen die ländlichen Unterschichten.

Der Adel war der eigentliche Gewinner, obwohl er mit der Leibeigenschaft seine ökonomische Basis einbüßte. Trotz Steuerfreiheit waren viele Rittergutsbesitzer um 1800 durch ihre aufwendige Lebensweise stark verschuldet. Deshalb hatten Teile des Adels durchaus nichts gegen den Handel Land gegen Bauerngeld. Durch die Markenteilung wurde der Adel landmäßig entschädigt. Er sprach sich gegen Hofteilungen aus (sogenannter Bauernschutz), aber für eine Liberalisierung des Bodenmarktes, denn nur er hatte das Geld, Boden von verschuldeten Bauern zu kaufen. Der westfälische Adel kaufte von 1845 bis 1860 etwa 300 Höfe zurück. Gut wirtschaftende Betriebe konnten ihr Vermögen vermehren, nicht wenige stiegen in die aufblühende Industrie ein (z.B. im Ruhrgebiet). Andere lebten weiterhin über ihre Verhältnisse, verbrauchten ihre Einnahmen statt zu investieren und wurden schließlich in bürgerliche Hand verkauft. Die Grundsteuerfreiheit blieb bis 1861, die gutsherrliche Gerichtsbarkeit und niedere Polizeigewalt bis 1848 bzw. 1872.


Agrarreform oder Bauernbefreiung

Die Bauern wurden durch den Oktoberedikt von 1807 und der Umsetzung von 1810 sicherlich allmählich von der persönlichen Leibeigenschaft befreit. Andererseits mussten sie ihre Ablösung selbst bezahlen - übrigens im Unterschied zur "Ablösung" der Lehen des Adels, die - zunächst "geliehen" von den Fürsten - im 17./18. Jh. in Eigentum übergingen (Allodifikation"), und zwar ohne Entschädigung.

Deshalb hat auch die Befreiung zu keiner Zeit Jubelstürme auf dem Land ausgelöst. Die Privatisierung des Gemeindelandes entschädigte einiges, ging aber zu Lasten der Mehrheit der ländlichen (Unter-)schicht, die nicht nur vom Gutsherrn, sondern auch vom Land "befreit" wurde. Die Frage Agrarreform oder Bauernbefreiung ist deshalb eine Frage des Standpunktes. Zuletzt: Durch ihre starke Stellung in der französischen Revolution haben die Bauern in Frankreich ihre "Befreiung" sehr viel billiger erhalten. Sich wehren kann sich also wirklich lohnen.


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Quelle:
Unabhängige Bauernstimme, Nr. 338 - November 2010, S. 3
Herausgeber: Arbeitsgemeinschaft bäuerliche Landwirtschaft - Bauernblatt e.V.
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veröffentlicht im Schattenblick zum 23. Dezember 2010